Netzwerkforschung RAF

Bonnie & Clyde 2.0

27. Juni 2020
Die RAF? Das sind doch Baader und Meinhof. Oder Baader und Ensslin. Aber es gibt noch ein Powercouple, das die Fäden hinter dem Terror in den deutschen 70ern zog – bisher jedoch eher unbeachtet blieb: Brigitte Mohnhaupt und Peter-Jürgen Boock. Ergebnisse einer Netzwerkanalyse.

Es ist der 8. Februar 1977. Im baden-württembergischen Bühl öffnen sich die Tore der Justizvollzugsanstalt, um eine Frau nach vier Jahren und acht Monaten Haft zu entlassen. In diesem Gefängnis hatte sie jedoch nur zwölf Tage verbracht – ein kläglicher Versuch, sie vom terroristischen Gedankengut zu befreien. Lange saß sie in einem Berliner Frauengefängnis ein, bevor sie im Juni 1976 in die siebte Etage der JVA Stuttgart-Stammheim kam. Dort residierte bereits die gesamte Führungsriege der ersten Generation der Roten Armee Fraktion (RAF). Beim gemeinsamen Umschluss hatte sie viel Zeit, um mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Co. das weitere Vorgehen in ihrem “kleinen Projekt” zu besprechen. Baader war begeistert von ihrer Stärke und machte sie zu seiner „Generalbevollmächtigten“.

Als Brigitte Mohnhaupt nun an diesem verregneten Dienstagmorgen aus den Gefängnistoren in die Freiheit tritt, ist sie voller Tatendrang. Sie wird bereits erwartet. Volker Speitel und Elisabeth von Dyck nehmen sie mit in ihr Büro in Stuttgart: Lange Straße 3, Anwaltskanzlei Croissant. Hier wird der Nachrichtenaustausch zwischen den RAF-Häftlingen und den frei lebenden Mitgliedern organisiert. „Die Mohnhaupt hat jetzt ‘ne Art Befehlsgewalt“, schrieb Baader zuvor in einer Nachricht an die Kanzlei. Dort ist man allerdings wenig begeistert vom Umschwung. Denn Mohnhaupt beabsichtigt, den Laden gründlich aufzuräumen. Die zweite Generation der RAF steht in den Startlöchern, der bewaffnete Kampf geht in die nächste Runde.

"Bonnie" Mohnhaupt & "Clyde" Boock: A Love Story

Mohnhaupt machte da weiter, wo der kurz zuvor verhaftete Siegfried Haag aufgehört hatte - mit der “Offensive ‘77”. Das Ziel: Die in Stammheim sitzenden Mitglieder befreien und die “soziale Revolution” weiterführen. Ihr erster Schritt war die Mobilisierung der verbliebenen Kämpfer:innen, den “Illegalen” im Untergrund. Einer davon war Peter-Jürgen Boock. Sie trafen sich in einer konspirativen Wohnung in Amsterdam. Redeten. Schliefen miteinander. „Und damit war das auch zwischen uns besiegelt”, beschrieb Boock es später. Er verließ für sie seine Frau Waltraud, die ebenfalls der RAF angehörte. Auch Mohnhaupt war vor ihm bereits verheiratet - Rolf Heißler folgte ihr zur RAF. Als Boock im Terrorcamp in Bagdad zunehmend drogenabhängig wurde, pflegte Mohnhaupt ihn. Schickte RAF-Neuzugänge nach Amsterdam und Hamburg, um Nachschub zu holen. Sie wurden festgenommen. Ein Risiko, das Mohnhaupt für ihren Geliebten bereitwillig einging. "Wir beide gegen den Rest der Welt" - nach dem Motto agierte auch das berühmte Gangster-Pärchen Bonnie & Clyde, das Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA sein Unwesen trieb. Raubzüge, Morde und Gefängnisaufenthalte standen auch bei ihnen auf der Tagesordnung. Im Gegensatz zu Mohnhaupt und Boock wurden die zwei allerdings in jungen Jahren erschossen.

Außer dem Bett - und einem gewissen Hang zum Terror - teilten die zwei noch andere Dinge. Beide waren gut vernetzt. Gebündelt machten ihre Kontakte sie zu führenden Figuren der zweiten Generation und zur Schnittstelle zwischen der ersten und zweiten Generation, im Fachterminus: Broker.

Brokerin Brigitte Mohnhaupt war gut mit Mitgliedern beider RAF-Generationen vernetzt

Der 1,62m große Wirbelwind namens Mohnhaupt

Bereits vor ihrem Eintritt war Mohnhaupt politisch aktiv und knüpfte erste Kontakte zu späteren RAF-Mitgliedern wie Rolf Pohle und Irmgard Möller. Nachdem sie sich 1971 der Gruppe anschloss, baute sie diese Kontakte aus, war zunächst aber nur in der Logistik tätig. Aus der Haft entlassen, trommelte sie weit verstreute RAF-Aktivist:innen zusammen, schuf Kommunikationsstrukturen zwischen Unterstützer:innen und Mitgliedern, zwischen erster und zweiter Generation. Sichtbar wird dies in ihrem Ego-Netzwerk: Dass ihre Kontakte aus der ersten Generation darin isoliert von denen zur zweiten wirken, verdeutlicht Mohnhaupts Broker-Funktion. Sie baute die zweite Generation auf, unterstützt auch durch den Kontakt zu Boock als weiteren Broker. Von einem weniger zentralen Mitglied in der ersten Generation wurde sie zu einer sehr aktiven Schlüsselfigur in der zweiten.

Mohnhaupt entwickelte sich schnell zur Autoritätsperson. In ihrer Rolle als Mentorin lernte sie Neuzugänge an und war an der Planung und Durchführung nahezu aller wichtigen Anschläge der zweiten Generation beteiligt. Seien es die Morde an Siegfried Buback, Jürgen Ponto, Hanns-Martin Schleyer, die Entführung der Landshut oder die Attentate auf NATO-Oberbefehlshaber Alexander Haig und US-General Frederick Kroesen - Mohnhaupt war mitten drin, schoss auch selbst auf Ponto. Verbündete beschrieben sie als knallhart, streng und entschlossen. Ein 1,62 Meter großes Energiebündel, das im Sinne von Baader die Truppe wieder aufbaute und dem Männer wie Frauen bereitwillig folgten.

Das “kleine Licht” von Peter-Jürgen Boock

Präsenter als erwartet: Peter-Jürgen Boock pflegte viele Beziehungen zur ersten und zweiten Generation der RAF

Boock war als Nummer Zwei immer an Mohnhaupts Seite. Mit ihr baute er die zweite Generation auf, war maßgeblich an vielen Aktionen beteiligt. Obwohl er viele Jahre später stets beteuerte, er sei “nur ein kleines Licht” in der RAF gewesen. In seinem Ego-Netzwerk wird die Broker-Funktion ebenfalls durch die klare Trennung zwischen den Generationen deutlich. Seine Kontakte zur ersten Generation entstanden früh: Mit zarten 17 Jahren lernte er Baader, Ensslin und Astrid Proll in einem Erziehungsheim kennen. Sehr aktiv war er in diesen ersten Jahren noch nicht. Erst während der Stammheimer Prozesse änderte sich das wieder. Auf diese Weise konnte er Verbindungen zu den Gründungsmitgliedern der ersten Generation auf- und seine eigene Rolle in der RAF ausbauen - eine ähnliche Entwicklung wie Mohnhaupt.

Interessant: Boock pflegte Kontakt zu den Unterstützer:innen Monika Haas und Wadi Haddad, die 1977 an der Entführung der Landshut beteiligt waren. Ein Indiz, dass er auch hier seine Finger im Spiel hatte?

Im Gegensatz zu seiner Geliebten distanzierte sich Boock 1981 vom Terror, machte sogar Aussage gegen ehemalige Verbündete. Mohnhaupt hingegen, die “RAF-Hardlinerin”, zeigte niemals Reue für ihre Taten. Wirft man einen Blick auf das Netzwerk der ausgetretenen Mitglieder, wird auch hier Boocks Brokerfunktion deutlich. Es kommt die Vermutung auf, dass er einige andere mit sich zog oder sie zumindest zu ihrem späteren Austritt inspirierte, als er den Schritt weg vom bewaffneten Kampf wagte.

Spielen die Zusammenhänge zwischen den ausgetretenen RAF-Mitgliedern eine Rolle?

Im Schatten der Legende

Als Broker:innen waren die beiden relevant - erreichten jedoch niemals den Status von Andreas Baader, der in der ersten Generation die Fäden zog. Denn neben Mohnhaupt und Boock gab es in der zweiten Generation weitere recht zentrale Akteure. Statt sich an einzelnen Führungspersonen wie Baader, Ensslin und anderen Gründungsmitgliedern zu orientieren, scharte man sich um mehrere Personen. Kurz: Flache und weniger offensichtliche Hierarchien ersetzen den Personenkult.

Und wenn sie nicht gestorben sind…

Die Netzwerkanalyse verdeutlicht die wichtige Rolle Mohnhaupts und Boocks bei der Fortentwicklung der RAF - auch wenn zumindest Boock diese später gern unter den Teppich kehrte. Neben bekannten Mitgliedern wie Baader und Ensslin gab es weitere Keyplayer:innen, die medial jedoch weniger Aufmerksamkeit erfuhren. Die RAF war eben mehr als nur der “Baader-Meinhof-Komplex”.

Und was machen “Bonnie und Clyde” heute? Mohnhaupt wurde vor 13 Jahren aus dem Gefängnis entlassen und lebt unter neuem Namen irgendwo in Deutschland. Von Hartz IV. Boock zog eine Runde durch die deutsche Talkshow-Landschaft und arbeitet heute als Autor in Italien. Liebesbeziehungen spielten in der RAF stets eine große Rolle. Diese hier ist bei Weitem nicht so bekannt wie die von Baader und Ensslin. Sie blieb zwar ohne Happy End, dafür mit schrecklicher Bilanz: Insgesamt 62 Todesopfer und 230 Verletzte gehen auf das Konto der RAF. Eine Konsequenz, die Mohnhaupt einzugehen bereit war, als sie an jenem Morgen Anfang Februar 1977 aus den Gefängnistoren in Bühl trat. Fest entschlossen, die RAF zu neuen Ufern zu führen.

Wichtige Begriffe aus der Netzwerkforschung:

 

  • Knoten & Kanten: Soziale Netzwerke bestehen aus Knoten und Kanten. Als Knoten bezeichnet man die einzelnen Akteur*innen des Netzwerks, als Kanten die Beziehungen zwischen den Akteur*innen.
  • Ego-Netzwerk: Bei egozentrierten Netzwerken steht ein bestimmter Knoten im Mittelpunkt. Das Netzwerk beinhaltet sowohl die direkten Beziehungen des Ego zu anderen Knoten (Alteri) als auch die Beziehungen der Alteri untereinander.
  • Broker: Personen, die eine Art Vermittlerposition im Netzwerk besitzen, werden als Broker bezeichnet. Sie können beispielsweise den Fluss von Informationen kontrollieren und haben daher eine gewisse Macht.

 

Unser Vorgehen bei der Netzwerkanalyse:

 

Die genannten Erkenntnisse wurden im Rahmen eines studentischen Netzwerkforschungsprojektes gewonnen. Nach der Definition zentraler Forschungsfragen und -hypothesen begann die Recherche. Auf Basis diverser Literatur über die Rote Armee Fraktion wurden Daten über deren Mitglieder sowie die Beziehungen dieser untereinander gesammelt und in Listen festgehalten. Anhand dieser Listen konnte mittels der Software R Studio zunächst ein Gesamtnetzwerk der ersten und zweiten RAF-Generation erstellt und visualisiert werden. Im weiteren Verlauf wurden Teilnetzwerke erstellt und Netzwerkmaße wie die Dichte des Netzwerks berechnet, sodass letztlich Antworten für die Forschungsfragen gefunden werden konnten. 

Der gesamte Datensatz kann unter folgendem Link eingesehen werden: https://github.com/ca048/RAF-Forschungsdesign