NS-Regime 6 Minuten

Die Edelweißpiraten - absolut (un)angepasst

Fünf Jugendliche mit Gitarren.
Die Edelweißpiraten wollten ihre Freizeit, abseits der strikten Anpassung an die Hitlerjugend, ausleben. | Quelle: NS-Dokumentationszentrum Köln
14. März 2024

Unangepasste Jugendliche? Verbrecher*innen? Widerstandskämpfer*innen? Während des zweiten Weltkriegs trafen sich im zerbombten Köln Jugendliche, um die in den 70er Jahren eine Diskussion entstand, die sich bis heute hält: Die Kölner Kontroverse. Eine Diskussion darüber, wer oder was diese Jugendlichen eigentlich waren. Um das zu verstehen, werfen wir mit unserer Netzwerkanalyse einen Blick in die Vergangenheit. 

Köln war während des zweiten Weltkriegs eine vom Krieg gezeichnete Stadt. Die Folgen von den Luftangriffen der Alliierten, der Präsenz deutscher Truppen und der propagandistischen Einflussnahme des NS-Regimes waren allgegenwärtig. Für junge Menschen bedeutete das: geweckt werden vom Luftalarm, Gehorsam gegenüber der Gestapo zeigen und brav zum Hitlerjugend (HJ)-Dienst erscheinen. Jugendliche, die sich nicht an Regeln halten wollten, die unangepasst waren, gab es schon immer. In Köln bildeten sich verschiedene Gruppen der sogenannten Edelweißpiraten, die sich nicht davon abhalten ließen ihre Wochenenden so zu verbringen, wie sie selbst es gerne wollten. Eine Freizeitgestaltung, die sie schon bald in den Fokus der Gestapo rückte. Eine Freizeitgestaltung, die viele Jahre später - in manchen Kreisen - für den Stempel einer Widerstandsgruppe sorgte. In anderen für den von Verbrecher*innen. 

Nach dem Krieg interessierte sich erstmal niemand für die Jugendlichen aus der NS-Zeit. Auch nicht für diejenigen unter ihnen, die durch das NS-Regime ihr Leben verloren. Erst in den 70er Jahren bekamen die Vorgänge in Köln wieder Aufmerksamkeit. Das Bild der Ehrenfelder Gruppe wandelte sich, vieles wurde in Frage gestellt, manches dazuerfunden - die Medien spielten dabei eine große Rolle. Die Diskussion läuft in Wellen ab. Hier eine Doku, da ein Artikel, hier eine Ehrung, dort ein Film und immer wieder neue Aufregung um das gleiche Thema. Abgeschlossen ist sie bis heute nicht, die Kölner Kontroverse. Sie beschäftigt sich mit den Jugendlichen, die Teil der Edelweißpiraten waren und der Frage, ob sie NS-Widerstandskämpfer*innen oder Kriminelle waren. Um diese Frage zu beantworten oder zumindest zu verstehen, braucht es einen Blick in die Vergangenheit. Einen Blick auf den Kontext der Zeit, auf die Edelweißpiraten und was sie eigentlich für eine Gruppe waren.

Von Eckenstehern und Gitarren

Früher waren die Wohnungen klein und es lebten oft größere Familien darin. Das Leben im Krieg war ein trostloses, weshalb man als junger Mensch viel draußen unterwegs war und sich auf andere Art und Weise als heute kennenlernte. „Die sogenannten Eckensteher suchten die Straßenecken auf und hielten Ausschau nach Gleichaltrigen. So traf man sich und unternahm etwas gemeinsam”, erzählt Martin Rüther, der langjähriger Mitarbeiter des NS-Dokumentationszentrums in Köln war. Er ist Historiker und hat sich viel mit unangepasstem Jugendverhalten in Köln während der NS-Zeit beschäftigt, unter anderem auch mit den Edelweißpiraten.

Die Edelweißpiraten, von denen manche auch Mitglieder der Hitlerjugend waren, fanden sich in informellen Gruppen von Jugendlichen zusammen, die sich in ihrer Freizeit trafen, um gemeinsam Lieder zu singen und Wanderfahrten zu unternehmen. Die Gruppen bestanden aus Jungen und Mädchen, die Geschlechter waren - während der NS-Zeit alles andere als selbstverständlich - gleichberechtigt. Es gibt viele Lieder, die aus der Zeit der Edelweißpiraten überliefert wurden. Das zeige, wie zentral das gemeinsame Singen für die Jugendlichen war, so Rüther. „Die Gitarre war etwas ganz Wichtiges, das stets geschützt werden musste. Wenn der HJ-Streifendienst kam, dann wurde der Schnellste mit der Gitarre ausgestattet und der musste sie dann in Sicherheit bringen”, erzählt er. Als Treffpunkte suchten sich die Jugendlichen oft zentrale Plätze wie den Leipziger Platz oder den Volksgarten aus. So konnte kommen, wer kommen wollte. Vor allem am Wochenende unternahmen sie Wanderfahrten in das angrenzende Bergische Land und das nahe Siebengebirge. Dabei haben die Jungen und Mädchen manchmal ihre Kleider getauscht, was speziell in der NS-Zeit und angesichts der damals geltenden Sexualmoral verpönt war.

Fünf Jugendliche mit Gitarren.
Auf ihren Wanderfahrten spielten die Edelweißpiraten gerne Gitarre und sangen Lieder. | Quelle: NS-Dokumentationszentrum Köln
Mädchen und Jungen in einer Reihe, die ihre Kleider getauscht haben.
Der Kleidertausch entsprach nicht der Sexualmoral des NS-Regimes. | Quelle: NS-Dokumentationszentrum Köln

„Für die Edelweißpiraten hieß das, aus diesem ständigen Bombenkrieg und diesem elendigen Kriegsalltag rauszukommen”, erklärt Rüther. Auch wenn diese Art von Freizeitgestaltung aus heutiger Sicht nicht problematisch oder regimekritisch klingen mag, reichte sie damals aus, um dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen von der Gestapo und der HJ verfolgt wurden. Dies ist auch einer der Gründe dafür, warum die Edelweißpiraten alle sogenannte „Fahrtennamen” hatten, die nichts anderes als Spitznamen waren und ihre Identität und Familie vor Verfolgung oder Inhaftierung durch die Gestapo schützen sollten. 

Unterm Radar - die Netzwerkanalyse

Die Quellenlage zu den Edelweißpiraten ist mit Blick auf Köln eher spärlich. Rüther begann 2003 damit, für das NS-Dokumentationszentrum eine Datenbank zu erstellen, auf der das Netzwerkanalyseprojekt basiert. Grundlage seiner Datenbank waren zufällig überlieferte Gestapo Akten, die zu allen Jugendlichen angelegt wurden, die im Zuge von Ermittlungsverfahren von der Gestapo verhört wurden. Da die Jugendlichen versuchten unter dem Radar des Staates zu bleiben, gibt es auch nicht so viele Akten oder andere schriftliche Quellen über sie. „Erst wenn ein paar der Edelweißpiraten in den Fokus der Gestapo geraten waren und von staatlicher Seite verfolgt wurden, wurden Schrifttücke angelegt, von denen einige überliefert sind”, erklärt Rüther. „Das bedeutet, wir wissen gar nicht, wie viele Jugendliche es überhaupt gab, weil man das aus den Quellen nicht herauslesen kann. Im Grunde sind es zufällige Überlieferungen, weil ein oder zwei Jugendliche irgendwie in den Fokus geraten sind, festgenommen und verhört wurden, es vielleicht sogar zu einem Prozess kam. Aus all dem haben sich dann Akten gebildet.” Wenn es zu einem Verhör kam, konnten viele Personen und Beziehungen zwischen Personen nicht erfasst werden, da die Jugendlichen natürlich auch nicht ihre Freund*innen belasten wollten. „Sie haben sich da deutlich zurückgehalten, um möglichst wenig der Gestapo preiszugeben. Aber genauso wenig wissen wir darum natürlich heute”. Die hohe Dunkelziffer an Personen und Verbindungen wirkt sich auch auf die Netzwerkanalyse aus. So kann sie kein genaues Abbild der Edelweißpiraten bieten, sondern nur einen Bruchteil der Gruppierungen sichtbar machen, die irgendwann von den Verfolgungsbehörden erfasst wurden.

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Das Gesamtnetzwerk der Edelweißpiraten zeigt wie die Personen untereinander, aber auch mit Gruppen und Ereignissen verbunden waren. | Quelle: Datenbank des NS-Dokumentationszentrums Köln

Den Stempel von Verbrecher*innen erhielten die Jugendlichen vor allem durch den Kontakt zu einem Mann: Hans Steinbrück. Steinbrück, der ein entflohener KZ-Häftling war, weil er ursprünglich zur Gestapo wollte, man ihn dort aber nicht nehmen wollte und er sich trotzdem als Gestapo-Beamter ausgab. Als Bombenentschärfer arbeitete er in einem KZ-Außenlager und floh bei einer Entschärfungsaktion. Steinbrück tauchte anschließend illegal bei einer Freundin, Cilly Servé, in Köln Ehrenfeld unter. Er umgab sich zunächst mit Erwachsenen, mit denen er so genannte „Kaperfahrten“ unternahm, bei denen im großen Stil Butter und andere Lebensmittel gestohlen und anschließend zu Geld gemacht wurden. „Das war so ein Haudrauf, wohl durchaus auch mit Charisma, der auf die Jugendlichen großen Eindruck gemacht hat”, erzählt Rüther. Nachdem sie auf diesem Weg genügend Einkünfte erzielt hatten, wandten sich die Erwachsenen von Steinbrück ab, der nun nach neuen Verbündeten Ausschau hielt, mit denen er Diebstähle begehen und Pläne schmieden konnte.

 „Sie wurden nicht ermordet, weil sie Edelweißpiraten waren, sondern weil sie sich Hans Steinbrück angeschlossen hatten.”

Martin Rüther

Also hat er Kontakt zu den Jugendlichen in Ehrenfeld gesucht. Zum Teil umgab er sich mit Jugendlichen, die vom Westwall geflohen waren, aber auch mit Jugendlichen, die ihre Edelweißpiraten Kreise verlassen hatten. Für Steinbrück sollten sie vor allem Waffen besorgen und gerieten so in den Fokus der Gestapo. Letztendlich wurden die Aktionen und der Kontakt zu Steinbrück den Jugendlichen zum Verhängnis. Am 10. November 1944 wurden sie gemeinsam mit ihm erhängt, die jüngsten unter ihnen waren gerade einmal 16 Jahre alt. „Sie haben zur falschen Zeit den falschen Mann kennengelernt. Sie wurden nicht ermordet, weil sie Edelweißpiraten waren, sondern weil sie sich Hans Steinbrück angeschlossen hatten”, so Martin Rüther.

Und die Kölner Kontroverse?

Was sind jetzt also die Edelweißpiraten gewesen? Waren sie Widerstandskämpfer*innen oder doch nur einfache Kriminelle? Diese und auch viele weitere Fragen lassen sich aufgrund der Quellenlage nicht eindeutig und ohne Widersprüche beantworten. Die Zeitzeugenaussagen stimmen nicht immer überein, auch das Selbstverständnis der damals Beteiligten unterscheidet sich und die schriftlichen Quellen lassen nicht tief genug blicken. Man könnte einige Aktionen der Edelweißpiraten als Widerstandsakt verstehen, aber genauso als Jungenstreich interpretieren. Eines aber ist ganz klar: Die Edelweißpiraten haben - bewusst oder unbewusst, organisiert oder nicht - mehr Widerstand gegenüber dem NS-Regime geleistet als die Mehrheit der Erwachsenen.