Abtreibung

„Ein Teil von mir, den ich nie wollte“

Auf dem Foto ist das Dekoltee ener Frau. Im Mittepunkt ist ein Tattoo zu sehen in schwarzer Schrift. Es steht dort "my body my choice".
Raphas Tattoo bedeutet mehr als ihre Abtreibung. Es steht für Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung. | Quelle: Maya Dempf
14. Dez. 2023

Positiv. Als Rapha vor vier Jahren herausfindet, dass sie schwanger ist, bricht eine Welt für sie zusammen. Eins steht fest: Rapha möchte das Kind nicht behalten. Sie erzählt von Hindernissen, Angst, Erleichterung und der schmerzhaftesten Entscheidung ihres Lebens.

Triggerwarnung: In dieser Reportage wird ausführlich eine Abtreibung und Blut beschrieben.

Mitten in der Nacht wird sie wach. Das Bett und ihre Beine fühlen sich nass an und als erstes denkt sie, sie hätte ins Bett gemacht. Im Dunkeln tastet sie sich zum nächsten Lichtschalter. Das Licht erhellt die Wohnung. Blut. Es ist überall. Auf dem Laken und an ihren Beinen. Dann setzen die Bauchkrämpfe ein. Ihr ist kalt und gleichzeitig schwitzt sie. Mühselig schleppt sie sich zur Toilette, überlegt noch den Notruf zu wählen, so stark sind die Schmerzen. Ihr Hund läuft aufgeregt in der Wohnung umher, spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Eine Stunde sitzt sie zusammengekauert auf der Toilette, während das Blut in die Kloschüssel läuft und das Wasser rot färbt. Dann werden einige größere Blutklumpen herausgeschwemmt und die Blutung beginnt weniger zu werden. Sie schaut nicht genau hin, drückt nur die Spülung und spürt tief in sich, dass es vorbei ist. So beschreibt Rapha die Nacht, in der sie ihre Abtreibung hatte.

2019

Pro Jahr haben um die 100.000 Menschen in Deutschland einen Schwangerschaftsabbruch. Das sind ca. 62 Abtreibungen auf 10.000 Schwangere. 2019 wird Rapha eine von ihnen, eine Zahl in der Statistik. 2019, ein Jahr, das für Rapha eins der schlimmsten ihres Lebens ist. Sie erzählt davon, dass sie Anfang 2019 in einer Psychiatrie ist, Depressionen hat und mit ihren Dämonen aus der Vergangenheit kämpft. Sie lebt alleine, hat nahezu ihr gesamtes Umfeld verloren. Nur ihr Hund gibt ihr noch Halt. Und dann im Oktober, als sie gerade 24 Jahre alt ist, kommt eine weitere schlechte Nachricht hinzu. Sie ist schwanger.

Wenn man sie heute von 2019 sprechen hört, dann merkt man nichts mehr von all den Schmerzen und Kämpfen. Die Haare sind leuchtend rot gefärbt, sie hat überall Tattoos und trägt einen rosa Pullover. „We all deserve equality“ steht in dunkler Schrift auf dem hellen Stoff. Ein Statement. Auch im Gespräch merkt man, dass sie eine klare Meinung zu vielen gesellschaftsrelevanten Themen hat, wie zum Beispiel zu Abtreibungen. Immer wieder sagt sie: „Das ist doch verdammt nochmal mein Körper. Den teile ich nicht und nur ich sollte darüber bestimmen.“ Und obwohl das Gespräch mit ihr mitten in einem Café in der Innenstadt stattfindet, senkt sie ihre Stimme nicht. Auch nicht als sie von ihrem Schwangerschaftsabbruch spricht.

Positiv und jetzt?

Die Schwangerschaft bemerkt sie erst relativ spät. „Es war ein ganz normaler Morgen, ich hatte frei. Das einzig Andere war, dass mir übel war und meine Brüste irgendwie größer und härter als sonst waren“, erinnert sie sich. Die Schwangerschaft bleibt vor allem unbemerkt, weil Rapha trotzdem Blutungen hat. Oft werden diese Blutungen mit der Periode verwechselt. Es ist aber nicht möglich die Periode zu bekommen und gleichzeitig schwanger zu sein. Wird eine Eizelle befruchtet, beginnt sie damit sich in der Gebärmutter einzunisten. Hormone verhindern, dass die Gebärmutterschleimhaut samt Eizelle abgestoßen wird. Trotzdem kann es vor allem in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft zu unterschiedlichen Blutungen kommen, die beispielsweise auf die Umstellung des Hormonhaushalts zurückzuführen sind.

An diesem Morgen kauft sie sich einen Schwangerschaftstest. „Ich musste nicht einmal warten. Der Test war sofort positiv“, erzählt sie lachend. Damals aber bekommt sie Panik. Eine gute Tante und Hundemama sein, das kann sie, aber eigene Kinder möchte sie auf keinen Fall. Sie weiß nicht, was sie tun soll und ruft eine nicht besonders enge Freundin an. Diese rät ihr, bei Raphas Gynäkologen nachzufragen, ob er Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Doch ein Anruf ist leichter gesagt als getan. In Raphas mentalem Zustand scheint der Griff zum Telefon eine unüberwindbare Hürde. Sie erzählt, dass sie sogar überlegt hatte, das Kind zu behalten, weil es für sie unmachbar schien, in der Praxis anzurufen. Es kommt ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie sich endlich überwinden kann. „Nein, wir machen sowas nicht“, bekommt sie am Telefon zu hören, dann wird aufgelegt.

Raphas Nerven liegen blank und die Panik breitet sich immer weiter in ihr aus. Sie telefoniert einige Praxen durch und irgendwann wird sie auf einer feministischen Webseite fündig. Dort sind auf einer Landkarte einige Standorte mit Ärzt*innen markiert, die Abtreibungen anbieten. 2019 erweist sich die Suche nach einer Praxis noch schwieriger als jetzt. Bis letztes Jahr verbot Paragraf 219a im Strafgesetzbuch (StGB), dass Ärzt*innen über Abtreibungen aufklären oder über die Methoden informieren dürfen, die sie in ihrer Praxis anbieten. Seit einem Jahr nun ist der Paragraf abgeschafft und Praxen können die Informationen theoretisch auf ihre Websites setzen.

Direkt am nächsten Tag bekommt sie einen Termin. Und da wartet schon der nächste Schock, denn in der Praxis wird ihr gesagt, dass sie noch eine Bescheinigung von einer Beratungsstelle braucht. Bis zu diesem Zeitpunkt ist Rapha nicht klar, dass Abtreibungen in Deutschland strafbar sind.

Eine Straftat begehen

Paragraf 219a ist nicht der Einzige, der Abtreibungen regelt. Nach Paragraf 218 StGB sind Abtreibungen grundsätzlich für alle Beteiligten strafbar. Werden sie aber innerhalb der ersten drei Monate durchgeführt und erfüllen eine von drei Ausnahmen, bleiben sie straffrei. Die erste Ausnahme ist die Beratungsstelle. Die schwangere Person muss ein Beratungsgespräch mindestens drei Tage vor dem Eingriff führen und eine Bescheinigung mit in die Praxis bringen. Die zweite Ausnahme sind medizinische Gründe. Das heißt, wenn zum Beispiel für die schwangere Person Lebensgefahr besteht. Die letzte Ausnahme sind kriminologische Gründe. Bedeutet, dass die Schwangerschaft auf einem Sexualdelikt beruht.

„Ich hatte totale Angst vor dem Beratungsgespräch. Ich hatte Angst, dass da jemand sitzt und mich verurteilt.“ Ihre Ängste und Sorgen teilt sie mit niemandem. Denn sie hat keiner Person von ihrer Abtreibung erzählt, auch nicht ihrer Mutter. Obwohl sie mit ihr über alles sprechen kann und sie absolut nichts gegen Abtreibungen hat. „Ich weiß nicht, warum ich es nie erzählt habe. Ich habe mich wieder gefühlt, als wäre ich zwölf Jahre alt. Ich habe mich geschämt und ich wollte auch niemandem zur Last fallen. Und jetzt ist 2023 und ich habe es ihr noch immer nicht gesagt.“ Zum ersten Mal huscht ein ernster Ausdruck über ihr Gesicht. Nur für eine Sekunde, als wäre es die eine Sache, die sie ein bisschen bereut.

Die Ängste vor dem Beratungsgespräch bewahrheiten sich nicht. Die Frau sei ebenfalls jünger und sehr nett gewesen, erinnert sich Rapha. Im Gespräch geht es dann vor allem um Raphas mentalen Zustand, die Freizeit und ob ein Kind Platz in ihrem Leben hätte. Nach 30 Minuten bekommt sie die Bescheinigung und geht damit zur Krankenkasse, um zu überprüfen, ob sie einen Teil der Kosten übernimmt. Krankenkassen zahlen die Abtreibung aber nur dann, wenn medizinische oder kriminologische Gründe vorliegen. Übernommen werden die Kosten auch, wenn die schwangere Person als bedürftig gilt. Als bedürftig sind momentan (2023) die Menschen eingestuft, deren monatliches Einkommen 1383 Euro nicht übersteigt.

„Ich bin froh, dass es weg ist. Trotzdem wird es immer ein Lebensabschnitt bleiben.“

Rapha

Eine Abtreibung kann zwischen 300 und 600 Euro kosten. Da Rapha keine der Kriterien erfüllt, muss sie ihre Kosten von 480 Euro selbst tragen. Ein paar Tage später hat sie einen Termin in der Praxis. „Im Wartezimmer war ich super nervös und war in einem richtigen Gedankenkarussell gefangen. Ich war mir sicher, dass die anderen Leute mir das ansehen. Als würde ein riesiges, blinkendes Schild über meinem Kopf hängen, das allen verkündet, dass ich eine Abtreibung mache.“ Nach ungefähr zehn Minuten kann sie in den Behandlungsraum. Als erstes wird ein Ultraschallbild gemacht, um festzustellen, wie lange Rapha schon schwanger ist und welche Methode des Abbruchs somit in Frage kommt. Eine Abtreibung geht auf zwei Arten. Einmal der chirurgische Abbruch, bei dem die Gebärmutterschleimhaut und die Fruchtblase abgesaugt werden. Die zweite Methode ist der medikamentöse Abbruch, den man allerdings nur bis zum 63. Tag nach Beginn der letzten Periode durchführen kann. Das Ultraschallbild zeigt, dass bei Rapha der medikamentöse Abbruch möglich ist. Das Bild behält sie und bewahrt es bis heute in einer Fotokiste auf. „Das war ja ein Teil von mir. Ein Teil, den ich nie haben wollte und ich bin froh, dass es weg ist. Trotzdem wird es immer ein Lebensabschnitt bleiben“, erklärt sie, während sie das Foto auf dem Tisch betrachtet.

Die erste von zwei Tabletten bekommt sie in der Praxis. Bei den meisten Betroffenen kommt es zu leichten Blutungen. Nur bei einem Bruchteil der Schwangeren wird schon nach Einnehmen der ersten Tablette das Schwangerschaftsgewebe ausgestoßen und es kommt zur Abtreibung. So auch bei Rapha, deren Schwangerschaft in der ersten Nacht beendet wird. Trotzdem muss sie noch einmal in die Praxis, um die zweite Tablette zu nehmen. Auf dem Ultraschall sieht man nichts mehr. „In dem Moment als es passiert ist, konnte ich meine Erleichterung nicht richtig spüren, die Schmerzen waren viel zu groß.“

Das was am Ende bleibt

Körperliche oder psychische Folgen hat sie kaum. „Ich habe nichts bereut und nie angezweifelt, ob es die richtige Entscheidung war. Ich war mir zu 100 Prozent sicher, dass ich kein Kind möchte.“ Nach dieser schweren Zeit, die sie allein gemeistert hat, findet sie auch wieder mehr Sinn im Leben. Das ist auch der Grund, warum man die Zahl 2019 zwischen all den anderen Tattoos entdeckt.

Manchmal kommen „Mini-Gedanken“ hoch, wie Rapha sie nennt. „Ich habe es nicht bereut, aber manchmal dachte ich dann, wie das Kind wohl ausgesehen hätte oder welches Geschlecht es geworden wäre.“ Doch Erleichterung und „Mini-Gedanken“ sind nicht das Einzige, was bleibt. Die Angst ist ein stetiger Begleiter, ein Gefühl, das sie wohl nie loslassen wird. Rapha ist bisexuell, doch seit ihrer Abtreibung hatte sie keinen oder nur sehr schwer Sex mit Männern. Die Angst, diese Schmerzen noch einmal durchleben zu müssen, ist zu groß.

Was von 2019 sonst noch bleibt, ist die Wut. Wut über das System, das es ihr damals nicht leicht gemacht hat und auch heute noch den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen erschwert. Wut darüber, dass Abtreibungen noch immer ein Tabuthema sind. Und die Wut, die sie dazu bewegt, laut zu sein, sich nicht zu verstecken und ihre Geschichte zu erzählen.

Auf einem braunen Tisch liegt ein Ultraschallfoto.
„Das ist mein kleines Gummibärchen.", sagt Rapha lächelnd, während sie das Foto auf den Tisch legt.