Portrait

Das war damals normal: Eine Zeitzeugin erzählt

Elisabeth Werner im Jahr 1940 und 2022
12. Mai 2022
Elisabeth hat vieles erlebt, gerade im zweiten Weltkrieg. Über einige Schlüsselmomente, die sie bis heute prägen, erzählt sie in diesem Portrait.

Meine Oma Elisabeth sitzt am Tisch im Wohnzimmer und erzählt von früher. Es sind Momente, über die Elisabeth immer noch so sprechen kann, als wären sie erst gestern gewesen. Dabei sind die Ereignisse der Jahre 1933-1945 lange her. Doch bis heute haben diese Erlebnisse sie geprägt und sich auf sie ausgewirkt.

Sie wuchs während des Zweiten Weltkriegs auf. Zeitzeug*innen dieser Jahre haben oftmals vieles erlebt, was aus heutiger Sicht fast surreal erscheint, für damalige Verhältnisse aber völlig normal war. Einige dieser Momente teilt sie heute mit uns.

Da fuhr er einfach nur vorbei.

Einer dieser Momente lässt mich besonders aufhorchen. Ihre zwei Begegnungen mit einem der bekanntesten Menschen der Weltgeschichte, Adolf Hitler. Dabei handelte es sich zwar nicht um persönliche Treffen, doch war es für mich schwer vorstellbar, diesen Menschen je gesehen, geschweige denn seine Ansprachen verfolgt zu haben.

Im Jahre 1934, als Hitler auf dem Weg nach Stuttgart war, fuhr er durch das Dorf, in dem Elisabeth wohnte. Winkend und mit Autokorso. Eine Situation, die damals von der Achtjährigen bestaunt wurde, in gewisser Weise auch beeindruckend wirkte.

Denn sie konnte trotz all der vergangen Zeit noch genau beschreiben, wie dieser Autokorso an ihrem damaligen Zuhause vorbeifuhr und wie die Insassen aussahen.

Doch die zweite Begegnung war noch viel eindrücklicher.

Im Jahre 1943 als der Krieg bereits weit fortgeschritten war. Hitler fuhr in seinem gepanzerten Zug nach München. Da Elisabeths Familie an der Ebersbacher Bahnstrecke wohnte, erhielten sie die offizielle Anordnung, die Fenster geschlossen zu halten und nicht einmal nach draußen zu sehen, als der Führer des dritten Reiches vorbeifuhr.

Dieser völlig andere Umgang mit der Bevölkerung, gerade einmal neun Jahre nach der ersten Begegnung, lässt sich am besten mit ihren eigenen Worten beschreiben:

„Da hatte er wohl schon Angst, dass ihn jemand umbringt.“

Elisabeth Werner

Die Monate in Hamburg

Nachdem Elisabeth im Jahre 1941 ihre Schulzeit hinter sich gebracht hatte, stand für sie ein Pflichtjahr an. Das lässt sich am besten mit dem heutigen Bundesfreiwilligendienst vergleichen. Von der Schulzeit erzählt sie vor allem, dass ihre Lehrer die Schüler viel zu gerne drangsalierten und, wie damals leider auch üblich, regelmäßig bestraften mit körperlicher Gewalt.

Sie ging zu einer bekannten Familie ihrer Mutter nach Norddeutschland um dort als Kindermädchen zu arbeiten. Während dieser Zeit unternahmen sie einen Ausflug nach Kiel. Dort wurde sie Augenzeugin einer Bombardierung des Kieler Hafens.

Sie selbst befand sich weit genug entfernt von der Stelle, versteckte sich mit den Kindern in einem Hauseingang und hörte nur die Explosion in der Ferne. Doch sie konnte das Flugzeug sehen und wie die Bombe ausgeklinkt wurde. Die daraufhin aufsteigende Rauchsäule in der Ferne konnte sie klar und deutlich sehen, als sie versuchte, die kleinen Kinder zu beruhigen und diese zurück zu ihren Eltern zu bringen.

Auch wenn dieses Ereignis sich für uns heute als ein unglaubliches Erlebnis liest, so erzählt Elisabeth davon als wäre es Alltag. Eine Sicht, die sie auf viele Ereignisse des Krieges hat, weil es der einzige Weg ist, damit umzugehen.

Im späteren Verlauf des Krieges, als Deutsche Großstädte bombardiert wurden, konnte sie regelmäßig die Geräusche der dröhnenden Flugzeugmotoren hören, wenn die Schwadronen alliierter Bomber über ihr Dorf hinwegflogen, um Angriffe auf Stuttgart oder München zu fliegen.

Rationierung war Alltag

Doch auch als sie wieder zu Hause war, wirkte sich der Krieg immer aktiver auf sie und ihre Familie aus. Ihre vier Brüder wurden für den Kriegsdienst eingezogen keiner von ihnen kehrte zurück. Immer wenn sie ihre Brüder im Gespräch erwähnt, kann man ihr ansehen, wie schwer es ihr bis heute fällt, über diesen Verlust zu sprechen. Grundversorgungsmittel wurden von der Regierung rationiert und anstatt in Läden Dinge wie Zucker oder Brot einzukaufen, bekam jede Familie nur noch vorgeschriebene Lebensmittelmarken.

Eine absurde Vorstellung aus heutiger Sicht. Man geht in den Supermarkt und alles was man kaufen darf, ist eine vorgefertigte Liste. Beschränkt in Litermenge und Grammzahl.

Arbeiten im Geschäft der Eltern

Wovon Elisabeth jedoch vor allem erzählt, war die Arbeit zur damaligen Zeit. In ihrer Großfamilie mit acht Kindern war sie die Jüngste. Trotzdem hatte sie viele Aufgaben im Haushalt, wie die Socken zu waschen und auf den Feldern zu helfen. Doch das, was am schwersten vorstellbar sein dürfte, war ihre Arbeit im Sandbruch der Eltern.

Der Eingang des Silos, in dem der Sand aufbewahrt wurde.
Ebersbach im Jahr 1928, im Hintergrund ist der Sandbruch von Elisabeths Eltern zu sehen.
Mit einem sogenannten Brecher, wie hier zu sehen, wurden die Felsbrocken zerkleinert.
Der fertige Sand wurde dann zu Baufirmen zur Verarbeitung abtransportiert. Früher nur mit dem Pferd, später auch mit dem Familien LKW.

Nachdem ihre Brüder für den Kriegsdienst eingezogen wurden, war sie die Einzige im Haus, die zusammen mit ihren Eltern die Arbeit erledigen konnte. So bohrte ihr Vater die Löcher in die Felsen und füllte sie mit den Dynamitstangen. Da dieser jedoch einige Jahre zuvor bei einem Kutschenunfall ein Bein verloren hatte, übernahm Elisabeth das Anzünden der Lunte. Sie war schnell genug, um davonzulaufen, bevor die Ladung explodierte.

Zum Dynamit hat sie dann auch noch eine Anekdote zu berichten. Als der Krieg in seine letzten Tage ging und Ebersbach am 22. April 1945 kampflos von den US-Amerikanern besetzt wurde, musste die Bevölkerung ihre Waffen sowie ihre Radiogeräte abgeben .

Eigentlich hätte Elisabeth auch das Dynamit für den Sandbruch abgeben müssen. Doch nach langen Diskussionen mit dem Übersetzer und den US-Soldaten durfte sie mit dem Dynamit nach Hause zurückkehren. Dieses Vertrauen beeindruckte sie sehr, erzählt sie in unserem Gespräch.

„Damit hätte man durchaus einiges anstellen können, das war ja schließlich Sprengstoff.“

Elisabeth Werner

Was von damals bis heute bleibt

Elisabeth steht mittlerweile in ihrer Küche und erzählt immer noch. Während sie das Mittagessen zubereitet, greift sie eine Kartoffel, die schon ziemlich matschig aussieht. Sie schneidet jedoch die Hälfte weg und zerkleinert die restliche Kartoffel für die Pfanne.

Dieses unbewusste Verhalten fällt mir oft bei meiner Großmutter auf. Die Rationierung von Lebensmitteln im Zweiten Weltkrieg führte bei ihr zu einer Angst vor Verschwendung – bloß nichts wegschmeißen, das ist ihr Motto.

Anmerkung: Die portraitierte Zeitzeugin ist die Großmutter des Autors.