Ukrainekrieg

Eingliederung: Aber wie?

Florian Jörg unterrichtet Deutsch als Zweitsprache (DaZ) am Evangelischen Mörike-Gymnasium
05. Juli 2022
„Helfen macht glücklich” – das ist Florian Jörgs Motivation, um ukrainischen Flüchtlingskindern die Eingliederung in das deutsche Schulsystem zu ermöglichen. Sprachbarrieren, Raummangel und fehlende Hilfskräfte waren nicht die einzigen Hürden für ihn und seine Kolleg*innen.

An einem Sonntag im März 2022 saß Florian Jörg, Lehrer am Evangelischen Mörike-Gymnasium, im ökumenischen Gottesdienst der Stiftskirche in Stuttgart. Doch an diesem Tag war etwas anders als sonst: Vor einigen Tagen brach der Krieg in der Ukraine aus. Auch an Jörg ging das Thema nicht spurlos vorbei. Als eine Nonne verkündete, dass jetzt die Zeit gekommen sei, Menschen in Not die Hand zu reichen und Hilfe anzubieten, fühlte er sich persönlich angesprochen. Er verspürte den Drang über Geld- und Sachspenden hinaus zu helfen. Mit dem Gedanken, diesen Drang in die Tat umzusetzen, verließ Jörg an diesem Vormittag die Kirche.

„Mörike Hilft” in der ersten Stunde

Schon 2016, als der erste Flüchtlingsstrom aus Syrien Deutschland erreichte, gründete das Mörike-Gymnasium die AG „Mörike Hilft“. In deren Rahmen wurden Flüchtlingskinder in die Auffangklasse des Gymnasiums eingeladen, mit dem Ziel, den Kindern eine Struktur und Hilfe beim Deutschlernen zu bieten. Genau an dieses Projekt knüpfte Jörg im März an und baute die bestehenden Strukturen weiter aus.

In den Auffangklassen werden Flüchtlingskinder aus allen Alters- und Schulklassen zusammengebracht. Der Fokus liegt darauf, die Kinder anzuregen, Deutsch zu lernen. Dabei werden außer Deutsch, Sport, Kunst und Musik keine weiteren Fächer unterrichtet. Im Vergleich zu den Regelklassen ist die Struktur viel kurzfristiger angelegt.

In den ersten Wochen wurde die Auffangklasse des Gymnasiums förmlich überrannt. „Wir hätten unsere Klasse dreimal voll machen können und mussten zu Beginn sehr viele ablehnen”, bedauert Jörg. Jedoch gab es gerade am Anfang noch keinerlei Hilfen von der Regierung, wodurch sich das Mörike-Gymnasium selbst organisieren und strukturieren musste. Durch die private Förderung der Evangelischen Schulstiftung Stuttgart war es der Schule jedoch möglich, sehr schnell zu reagieren.

Die Hilfsbereitschaft war immens

Die nächsten Herausforderungen waren der fehlende Platz und die mangelnde Ausstattung, um den Unterricht zu organisieren. Lediglich ein kleines Klassenzimmer unter dem Dach, ohne Beamer und sonstige Medien, konnte die Schule zur Verfügung stellen. Auch die fehlenden personellen Kapazitäten waren ein Problem. Bei der Suche nach Helfer*innen war es wichtig, die Sprachbarriere zwischen den Schüler*innen und Lehrenden zu überwinden. „Wir hatten zu Beginn niemanden, der*die Ukrainisch beziehungsweise Russisch sprach. Doch die Hilfsbereitschaft war immens”, staunt Jörg. Schon kurz nach dem Start meldeten sich Übersetzer*innen, Eltern und Schüler*innen mit den entsprechenden Sprachkenntnissen. 

Zu diesem Zeitpunkt kam auch Marina Evseenko an das Mörike-Gymnasium. Sie selbst ist Russin, lebte zwölf Jahre in der Ukraine. Die ganze Situation hat mich sehr berührt”, erzählt sie. Evseenko hat sowohl Freund*innen und Bekannte in der Ukraine, als auch Familie in Russland. Für beide Seiten sei es sehr schwierig. Sie fühlte sich von Anfang an verpflichtet ehrenamtlich zu helfen. So kam sie als Übersetzerin zum Mörike-Gymnasium. Durch ihr abgeschlossenes Lehramtsstudium kann sie heute in der Auffangklasse arbeiten.

Jörg und seine Helfer*innen wollten von der ersten Stunde an da sein und ließen sich von den anfänglichen Herausforderungen nicht unterkriegen. „Helfen macht glücklich”, erzählt Jörg mit einem Lächeln. Diese Hilfe sollte jedoch nicht nur für den Moment, sondern auch nachhaltig bestehen.

Schritte zur Eingliederung

Auch bei der Eingliederung der Schüler*innen, müssen die Lehrkräfte mit Fingerspitzengefühl vorgehen. Dabei sei es laut Evseenko besonders wichtig, den Schüler*innen Stabilität und Kontinuität zu bieten. Darüber hinaus wird den Kindern von der Schule eine psychologische Betreuung angeboten.

Die meisten Kinder blicken nach vorne und wollen weitermachen, aber vor allem jüngeren Schüler*innen fehle die Motivation. Doch Evseenko zeigt Verständnis: „Die Situation ist sehr kompliziert. Sie sind weit weg von Zuhause”. Um den Kindern zu vermitteln, wie wichtig es ist zur Schule zu gehen, nimmt Evseenko auch Kontakt zu den Eltern auf. Anders verhält es sich bei den älteren Schüler*innen: „Sie sind sehr diszipliniert und nehmen sehr gerne teil”, berichtet sie. Dabei fiel den Lehrer*innen vermehrt die altersunabhängige Interaktion zwischen den Schüler*innen auf. Wenn ihr mehr über die Situation der Schüler*innen erfahren möchtet, dann schaut gerne hier rein.

Wir wollen nicht stigmatisieren, wir sagen nicht, das sind die Flüchtlingskinder aus der Ukraine, sondern das sind jetzt Schüler*innen am evangelischen Mörike”.

Florian Jörg, Lehrer am Evangelischen Mörike-Gymnasium

Um den Schüler*innen eine noch bessere Eingliederung zu ermöglichen, nehmen sie jede Woche für sechs bis acht Stunden am Unterricht der Regelklassen teil. Jörg möchte, dass sich dadurch Bindungen zwischen ukrainischen und deutschen Schüler*innen entwickeln. Auf diese Weise sollen sie Hilfsbereitschaft erfahren und Freundschaften schließen. Jörg achtet speziell darauf, Diskriminierung an der Schule zu vermeiden: „Wir wollen nicht stigmatisieren, wir sagen nicht, ‚das sind die Flüchtlingskinder aus der Ukraine’, sondern ‚das sind jetzt Schüler*innen am evangelischen Mörike”.

Ausblick fürs neue Schuljahr

Jörg berichtet von seinen Erwartungen an die nächsten Monate. Unter anderem erhofft er sich längerfristig mehr Hilfe vom Staat in Form von personeller Unterstützung.

Im Juli wird sich die Auffangklasse am Evangelischen Mörike-Gymnasium wegen fehlenden Räumlichkeiten auflösen. „Wir hoffen, dass manche Schüler*innen bis dahin so weit sind, dass wir sie in Regelklassen integrieren können”, berichtet Jörg zuversichtlich. Allerdings können die Sprachkenntnisse oder das Bildungsniveau mögliche Hindernisse für die Aufnahme darstellen. Außerdem haben viele Schüler*innen noch keinen Bescheid für eine Regelschule vom Sozialamt erhalten.

Jörgs Blick schweift durchs Klassenzimmer, in dem die ukrainischen Schüler*innen gerade gemeinsam ihre Pause verbringen. Ihm sind die Sorgen ins Gesicht geschrieben: Es ist noch unklar, wie es im neuen Schuljahr ab September weitergeht. Die Struktur, die den Schüler*innen momentan einen geregelten Alltag und damit ein Stückchen Stabilität ermöglicht, gibt es in dieser Form dann nicht mehr. Trotz allem ist er dankbar für die vergangen Monate und froh, nach dem Gottesdienst aktiv geworden zu sein.