Nachtleben

Sturm vor der Ruhe

Die Überbleibsel der letzten Party
14. Febr. 2020

Ein bisschen Bier, ein bisschen Schnaps, Pogo bis in die Morgenstunden, Fremde und Freunde, die sich weinend in den Armen liegen, eine Stuttgarter Band, die darüber ein Lied singt und ein Laden, der ein paar Meter unter der Oberfläche liegt. Das braucht es für den letzten Tanz der Stadt, für das letzte Mal Keller Klub – Die Party ist eröffnet.

Das Neonlicht springt an und gibt den Blick auf die Letzten frei, die sich zum Takt der Musik bewegen. Auf dem Boden liegen zerbrochene Flaschen und Gläser, in der Luft der Dunst von lauwarmem Rauch, verschüttetem Bier, getrocknetem Schweiß. Die Uhr zeigt 7:34, seit über 12 Stunden läuft die Party hier, aber noch denkt keiner daran, zu gehen. Ein paar stehen stumm in der Ecke und starren gedankenversunken im Raum herum. Ihre Augen wandern langsam über die Tanzfläche, auf der sich ein Kreis aus Körpern und Armen gebildet hat, der sich dreht und hüpft – wie eine Fußballmannschaft, die das Endspiel für sich entschieden hat. Nur, dass über der Freude ein Schatten von Melancholie liegt: Abschiedsschmerz. In jeder Ecke wird geweint. Viele zücken ihre Smartphones, halten die Szene fest. Sie filmen die letzten Atemzüge des Kellerklubs.

Beim letzten Lied des Abends halten alle noch einmal zusammen

13 Jahre lang liegt der Club schon nur ein paar Meter unter dem Rotebühlplatz und ist das Mekka für die Indie-Rock Liebhaber in Stuttgart. Kooks, Killers und Kraftklub dröhnten aus den großen Lautsprecher-Boxen. Pogo oder Poetry-Slam – im Keller Klub war beides willkommen, genauso wie die Live-Bands, die im Laufe der Dekade im Keller gespielt haben.

Eigentlich war der Abriss schon für Juli geplant, aber Mihael Ivankovic, seit drei Jahren Betreiber des Clubs, bekam immer wieder monatliche Verlängerungen für die Pacht. Er sitzt auf einer gepolsterten Bierkiste und gibt ein Bild ab, das zum Keller Klub passt: ehrlich und pur, konzentriert auf das Wesentliche. Mihael ist keiner, der lange um den heißen Brei rumredet: „Das ist alles sanierungsbedürftig – lange hätten wir das sowieso nicht mehr machen können“. Die kurzen Nächte zeichnen sich in seinem Gesicht ab und verraten das Alter des sonst so jugendlichen Chefs in Sneaker, Jeans und Bomberjacke. Wobei: Chef, das will er gar nicht sein, er packt lieber mit an. Also sitzt Mihael auch am letzten Abend in der Eiseskälte am Einlass und hinterlässt Stempelabdrücke auf den Händen seiner Gäste. 

Der Anfang vom Ende

Kurz bevor es losgeht, stehen noch zerbrochene Flaschen auf der Bar. Der feuchte Lappen zieht Schlieren auf der Theke, auf der bald danach Drinks im Sekundentakt hin und her geschoben werden und sich das Kondenswasser der Gläser mit dem verschütteten Alkohol mischen wird. Doch die Tränen fließen schon vor dem Schnaps. Sie rollen in dicken Rinnsalen aus Paulas Augen. Ein Jahr ist sie Teil des Keller Klubs, schmeißt mittlerweile den Laden. Paula sieht nach Punk aus – schwarze Hotpants über Netzstrumpfhose und schwarzen Vans, dazu ein ebenso schwarzes T-Shirt, Lippenpiercing. Dass sie hier gelandet ist, war Zufall. Damals, als sie mit gebrochenem Bein nach einem beschissenen Tag und einer langen Nacht den Türsteher des Clubs anpöbelte und im selben Satz nach einem Job fragte. Vielleicht ein bisschen Schicksal, dass sie genau vor Mihaels Laden landete. Der gab ihr eine Chance, stellte sie ein und seitdem ist sie hier, beinahe jeden Abend und selbstverständlich auch heute.

Der Laden ist schon um kurz nach 19 Uhr brechend voll. Innerhalb eines Abends waren die Karten für das Abschlusskonzert der Band Antiheld ausverkauft. Das Publikum muss zusammenrücken, der Keller ist klein. Die Band hat schon in Hallen gespielt, da hätte der Keller acht Mal reingepasst, aber das ist egal – sie wären heute auch für lau aufgetreten. Der Auftritt sei Ehre und Ehrensache zugleich, schließlich ist einer ihrer ersten Songs dem Keller Klub gewidmet und nach ihm benannt. Die Zeile „Du hast jede Nacht zu einem Denkmal gemacht“ ist Sänger Luca vor fünf Jahren betrunken vor Schnaps und Glück auf seinem Weg vom Klub nach Hause eingefallen. Jetzt läuft die Hymne schon seit Monaten auf und ab und gibt auch an diesem Abend das Motto an. „Ooheyyoo“ schallt die erste Zeile von „Kellerklub“ ins Mikro und das Publikum schreit aus vollem Hals zurück. Das Stichwort für die Abrissparty wurde soeben gegeben.

Viel abzureißen gibt es allerdings gar nicht mehr, im Gegensatz zu manch anderem Keller, der voller Gerümpel kaum mehr zu betreten ist, bietet dieser Keller ungewohnt viel freien Platz. Der Klub ist sich selbst genug – außer zwei Sitzecken, der Bar mit den Hockern und einem Sofa steht nichts rum. Hier wird getanzt. Die Gäste reichen als Inventar aus und heute ist es voller als an einem Samstag bei Ikea. Der Lichtstrahl der Scheinwerfer schwenkt über die Menge und taucht sie abwechselnd in rötlich-grünes Licht, vermischt mit dem Dampf aus der Nebelmaschine. Mehr Effekte gibt es nicht. Keine Lasershow, kein Stroboskop – Musik, Nebel, Licht. Die Momentaufnahmen der tanzenden Menschen zeigen, dass auch sie nicht auf Schnick-Schnack stehen. Wer hier runterkommt, ist bodenständig. Weder Glitzertop noch hohe Schuhe sind angesagt, stattdessen bestimmen T-Shirt, Jeans und Sneaker den Dresscode des Kellers. Man trinkt Bier und Longdrinks, keine Cocktails. 

Viele kommen schon jahrelang hier her. Die Stammgäste tragen den Keller Klub gleich über ihrem Herzen – auf den T-Shirts, die sie sich und dem Team vor einiger Zeit mit dem Logo des Klubs bedrucken ließen. Zusammen bilden sie das Herzstück des Ladens. Auch DJ Dimi ist langjähriger Kellergänger und hat den Sound des Ladens über die Zeit hinweg verinnerlicht – so weit, dass er enthemmt durch den Alkohol lieber selbst das Mischpult übernahm, als er einmal nicht zufrieden war. Heute trägt er seine Keller-Klub-Uniform: das schwarze Shirt mit Totenkopf und einen Beutel mit der Aufschrift „The Keller Family“. Dimis Augen leuchten zurückhaltend stolz, wenn er über seine Aufgabe und Verantwortung als Soundmaster spricht: improvisiert und unprofessionell – klar – aber mit viel Liebe zur Sache. Jedem Song schwingt dieses Mal eine Bedeutungsschwere mit. Alle Abschiedslieder der Welt – nur geschrieben für den Keller Klub – warten darauf, zu diesem Anlass gespielt zu werden. Die Liebessongs sind heute nicht dem süßen Mädchen gewidmet, sondern dem stinkenden Keller.

Abgeranzt mit Charme

Dass man dem Keller Klub seine knapp 13 Jahre nicht ansehen würde, lässt sich nur schwer behaupten. Wie dicke Spinnweben hängen Fetzen von der Decke. Wenn der Bass laut genug ist, regnet es Staub auf die tanzende Menge. Vor ein paar Jahren hat ein Wasserschaden den letzten Teilen der Verkleidung den Garaus gemacht. „Abgefuckt“ würden manche sagen, aber gleichzeitig „gemütlich“. An der Wand findet sich fast kein Zentimeter, der nicht mit Stickern plakatiert ist. Egal was, Hauptsache gegen den Hass. Sie zeugen von Gästen und Bands, die sich im Lauf der Jahre hier verewigt haben. Hier unten ist es dunkel, das, was von den Wänden noch zu sehen ist, ist schwarz und dunkelrot. 

 „Eine Ära geht zu Ende“, witzelt Flo und meint es ernst. Seit drei Jahren arbeitet er im Keller, in seinem „Wohnzimmer“, wie er ihn nennt. Passt auch zu dem schwarzen Ledersofa und der 50er-Jahre Lampe, die mit hängendem Kopf und vergilbtem Schirm neben der Bar steht. „Das war halt der verrückte, eklige Kellerklub, in dem man sich zu Hause fühlt“, sagt er und zeigt zum Beweis seiner Liebe die frische Narbe an seinem Bein. Zusammen mit Paula und Krissi von der Bar hat er sich zum letzten Abend den Keller Klub Totenkopf unter der Haut verewigen lassen. Das mit dem Denkmal hat schonmal geklappt. 

Das geht unter die Haut: Die Tattoos von Paula, Krissi und Flo (von links)

Mit jeder Stunde, die vergeht, wird es emotionaler. Es fällt schwer, nicht daran zu denken, dass dies das Ende sein wird. Mit der Schmerzlichkeit wächst auch die Motivation, bis zum Schluss zu bleiben. Eigentlich soll man ja gehen, wenn es am schönsten ist, aber heute will jeder der oder die Letzte sein, die den Keller verlässt. Es ist wie ein Spiel, der letzte Liebesbeweis für den Untergrund. Also durchhalten. Noch um fünf Uhr morgens ist es eng auf der Tanzfläche. Die schweren Beine und Augenlider werden ignoriert oder mit genug Alkohol betäubt. Je näher das unvermeidbare Ende rückt, desto bedrückter wird die Stimmung in den dunklen Räumen des Kellers, die sich wie dicke Nebelschwaden um die Feiernden hüllt. Drei Stunden später ist die Schmerzgrenze an Müdigkeit schon mehrmals überschritten und mit jedem Gast, der den Keller verlässt, rückt der harte Kern näher zusammen. Wer kann, hält sich an jemandem fest, Paulas Tränen wirken ansteckend. Als das Licht anspringt und das finale Lied gespielt wird, stürmt Dimi vom DJ-Pult zu den Verbliebenen auf die Fläche und tanzt mit ihnen zu „Lass die Musik an“. Es fühlt sich an wie ein Manifest für den Untergrund. In den verquollenen Augen der Kellerkinder zeigen sich Spuren von Ungläubigkeit und Fassungslosigkeit. 

Stille. 


Leichtes Rauschen in den Ohren.


Schmerzende Glieder.


Weinende Gesichter, zu Grimassen verzerrt.

Das war es mit dem Keller Klub

Der letzte Ton ist verklungen, doch gehen will immer noch niemand. Erst nach mehreren Aufforderungen tröpfeln die Letzten unwillig nach und nach aus dem Keller. Viele bleiben bei den Mitarbeitern stehen, um Abschiedsworte loszuwerden und eine Schulter zum Ausheulen zu haben. An der Bar begießt nur noch Antiheld-Keyboarder  Henry seinen Trennungsschmerz, er will wirklich der Allerletzte sein, der wieder ans Tageslicht kommt, das hat er sich geschworen – draußen ist es inzwischen längst hell, kurz vor neun. 

Über den Hinterausgang verlässt er mit der Keller Crew seinen Lieblingsclub. Mihael sagt, er fände es manchmal gut, wenn Dinge enden. Schließlich wären auch neue Sachen cool. So ganz leicht fällt der Abschied dann aber doch nicht. „Im letzten Jahr wurde das mein Keller Klub“, lächelt der Betreiber, „jetzt fühle ich mich wohl, es macht richtig Spaß und ich hätte Bock, das weiter zu machen!“ 

Wie bald sich dieser Wunsch erfüllen würde, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch keiner. Denn so leicht lässt sich der Keller nicht unterkriegen. Als der Abriss eine Woche später noch nicht angefangen wurde, sind seine Türen spontan nochmal auf – Die After-Show Party hat begonnen. „Die Bagger sind noch nicht gekommen – also warum sollten wir nicht öffnen?“ lacht Mihael. Das Wochenende darauf geht das vielleicht nochmal. Dann wird wahrscheinlich nur noch die Bar stehen. Doch die Kellerkinder tanzen auch in den Trümmern. Bis dann endgültig Schicht im Schacht ist. 

Die letzten Überbleibsel erinnern an die Party im Keller Klub