11. Dez. 2023

Populisten, Prostituierte, Polizeidrill und Familienporträts: Wer sich näher mit Dokumentarfotografie in der Ausstellung „Images of the Present“ beschäftigt, wird mit verschiedensten Blicken auf die jüngste Menschheitsgeschichte belohnt. Und kann dabei etwas für die Zukunft lernen.

Die Staatsgalerie in Stuttgart bietet derzeit die Gelegenheit, das Beste aus drei Jahrzehnten dokumentarischer Fotografie in Deutschland zu bestaunen - gesammelt in einer Ausstellung. 

Doch wer jetzt erwartet, von ausdrucksstarken fotografischen Meisterwerken angesprungen zu werden, wird womöglich enttäuscht. „Meine Botschaft wäre, sich Zeit zu nehmen für Bilder“, so Christin Müller, Kuratorin von „Images of the Present“, im Interview. Erzählt werde viel mehr durch die Zusammenstellung der Fotos und den Kontext.
 
Auf diese Weise verhält es sich auch mit Tobias Zielonys Werk, bestehend aus Schwarz-Weiß-Fotografien, auf denen abgespannt wirkende Jugendliche nachts in einem Park warten. Einige rauchen, während sie nach etwas Ausschau zu halten scheinen, ein weiterer schläft in einem schmutzigen Sessel. Was auf den ersten Blick interessant, aber keineswegs sensationell wirkt, birgt eine schockierende Wahrheit. Wie Dr. Bertram Kaschek, Kurator an der Staatsgalerie erklärt, zeigt Big Sexyland junge männliche Prostituierte am Berliner Stadtrand, die der Künstler selbst begleitet und deren Schicksal er mit einer Infrarotkamera festgehalten hat. „Ohne sexuelle Handlungen abzubilden, schafft er es, bei den Betrachtenden ein diffuses und doch intensives Gefühl für die Zwielichtigkeit der gezeigten Situationen zu erzeugen.“, so Kaschek.

Es lässt sich nie erahnen, welches Thema einem als nächstes begegnet. So sieht man sich im einen Moment Auge in Auge mit vier lebensgroßen Porträts; vier sympathische Familien blicken dem/der Betrachtenden entgegen. Titel der Arbeit: Neue Familienporträts. Schnell fällt auf, dass es sich bei den Abgebildeten augenscheinlich nur um Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern handelt. Die Message einer inklusiven, modernen Gesellschaft ist offenkundig. Doch schon einen Raum weiter steht man vor einer Fotoreihe, die gesamtheitlich nur verschiedene Tankstellen abbildet. Möchte man darin mehr als das Banale erkennen, muss man wohl oder übel den Begleitkatalog zur Hand nehmen.

Familienportrait mit zwei Vätern
Vater, Vater, Kind | Quelle: © Verena Jaekel
Tankstelle
Eine der zahllosen Tankstellen im Kosovo. Was ist daran dokumentarisch? Die Fotos allein verraten es nicht. | Quelle: © Susanne Hefti
Andreas im Park
Auf der Suche nach Kundschaft am Stadtrand - und am Rande der Gesellschaft | Quelle: © Tobias Zielony und KOW Berlin, VG Bild-Kunst, Bonn 2023
SEK-Training auf staubigem Dach
Stets bereit für den Ernstfall: das SEK beim Training | Quelle: © Ulrich Gebert

Unerwartet aktuell

Doch auch brisante Geschehnisse heutiger Politik werden durch die Ausstellung in ein neues Licht gerückt. Gerade im Hinblick auf jüngste Wahlergebnisse in den Niederlanden und Argentinien wird klar, dass der Populismus aktuell globalen Erfolg genießt. Hält man Politiker dieses Formats lediglich für Neuauflagen von Donald Trump, kann die Arbeit The Great tiefere Einblicke in die Wurzeln solcher Politik gewähren. Sie dreht sich um den skandalumwobenen Populisten Silvio Berlusconi, dessen Erfolgsgeschichte genau so faszinierend wie absurd scheint. Beispielweise behauptete dieser einmal, einen komatösen Mann nur durch seine auf Kassette gebannte Stimme zurück ins Leben holen zu können. Über einen kleinen, in der Ausstellung installierten Lautsprecher hört man ihn „Andrea, Andrea, sono io, Silvio Berlusconi“ an den Patienten appellieren.

Auch wenn die erwähnten Werke nur einen Bruchteil der gesamten Sammlung ausmachen, sollte nun klar sein: „Images of the Present“ bietet seinen Besucherinnen und Besuchern ein Kaleidoskop an gesellschaftlichen Phänomenen und historischen Ereignissen. Anders als bei massenwirksamen Genres wie der Naturfotografie versuchen die Künstler*innen nicht mit sensationellen Momentaufnahmen zu beeindrucken. Stattdessen setzt sich jedes einzelne Werk intensiv und tiefgreifend mit dem gewählten Thema auseinander. Ohne einen speziellen inhaltlichen Fokuspunkt erweitert ein Besuch der Ausstellung den Horizont seines Publikums auf verschiedenste Art. Allerdings nur dann, wenn man sich Zeit nimmt und sich auf das Gesehene einlässt. Denn die Bedeutung ist hier die wahre Kunst.

Noch bis zum 18. Februar 2024 sind 17 ausgewählte Fotoserien in der Staatsgalerie in Stuttgart ausgestellt und bieten damit einen Überblick über drei Jahrzehnte preisgekrönter dokumentarischer Fotografie – mit freiem Eintritt. Seit 1994 verleihen die Wüstenrot-Stiftung und das Museum Folkwang in Essen den Förderpreis Dokumentarfotografie. Alle zwei Jahre werden Absolvent*innen dazu erwählt, sich künstlerisch mit Themen der realen Lebenswelt auseinanderzusetzen.