Retromania 9 Minuten

Wichtiger denn je – Die Schallplatte im digitalen Zeitalter

Ein junger Mann inspiziert eine Schallplatte
Physische Tonträger ade? Von wegen! Immer mehr junge Menschen interessieren sich für Vinyl. | Quelle: Sandro Pascucci
21. Mai 2025

Cover anfassen, Platte herausnehmen, Nadel aufsetzen – Vinyl ist mehr als reine Nostalgie. Was uns die Rückkehr der Schallplatte über unsere Sehnsucht nach Echtheit verrät und was ein einzelner Plattenladen in Stuttgart damit zu tun hat. 

Es ist ein sonniger Tag im April, als ich Second Hand Records betrete und mir ein vertrauter Geruch von Karton, Plastik und einer Prise Vergangenheit entgegenweht. Das sanfte Knistern der Schallplatte dringt aus den Musikboxen, welche die Melodie zu Sam Cookes „Bring It On Home to Me“ durch den Laden tragen. Es war die erste Platte, die ich mir vor all den Jahren gekauft hatte. Sonnenlicht fällt durch die Fenster, die Schatten tanzen zur Musik. Bunte Albumcover zieren die Wände, während mehr als ein Dutzend Menschen durch Kisten voller Vinyl stöbern – alle in der Hoffnung, ihre Sammlung zu erweitern.

Trotz der nostalgischen Anmutung ist Vinyl mehr als ein Randphänomen: Allein von 2015 bis 2024 ist der Umsatz von Schallplatten laut dem Bundesverband Musikindustrie um über 200 Prozent gestiegen. CDs und Kassetten hingegen geraten immer mehr in Vergessenheit – auch weil der Anteil digitaler Musikformate inzwischen 84 Prozent des Gesamtumsatzes ausmacht.

Laut Holger Lund, Professor für Mediendesign und Mitinhaber von „Seismographic Records“, liegt das an einer digitalen Übersättigung. Musik sei in Zeiten von Streaming kaum noch greifbar, sondern bestehe nur noch aus Nullen und Einsen. In einer immateriellen Welt sehnen sich viele jedoch nach Echtem – nach Dingen, die man anfassen und riechen kann. Der finanzielle Mehraufwand und der vergleichsweise komplizierte Abspielprozess von Vinyl geben der Musik dabei wieder einen persönlichen Wert. „Beim Kauf einer Platte entscheidet man sich aktiv für die Musik. Schließlich hat man ein begrenztes Budget“, erklärt Lund. Diese bewusste Wahl schaffe eine tiefere Verbindung zur Musik. 

„Beim Kauf einer Platte entscheidet man sich aktiv für die Musik. Schließlich hat man ein begrenztes Budget.“

Professor Dr. Holger Lund, Mitinhaber von Seismographic Records
Seit 2007 steigt der Umsatz der Schallplatte stetig – trotz des rasanten Aufstieg von Streamingdiensten in den 2010er-Jahren. | Quelle: Bundesverband Musikindustrie e.V.; GfK Entertainment; Grafik: Sandro Pascucci

Darüber hinaus spielt Vinyl auch für die Identitätsbildung eine Rolle. „Viele Besitzer von Platten haben nicht einmal einen Plattenspieler, sondern nutzen Vinyl als Modeaccessoire und Einrichtungsgegenstand“, sagt der Vinyl-Experte. Durch den Kauf einer Platte wird man Teil einer Subkultur. Die Zugehörigkeit kann auf den sozialen Netzwerken mit allen geteilt werden. Dabei sind es insbesondere junge Menschen, die analoge Medien für sich entdecken – ein Phänomen, das der Musikjournalist Simon Reynolds als „Retromania“ bezeichnet. Laut Lund ist es vor allem die Dauerhaftigkeit, die Vinyl so wertvoll macht: „Schallplatten beanspruchen einen Platz für sich, sie verschwinden nicht einfach.“

Schallplatten und ihr Einfluss auf die Musikszene

Auch Alexander Scheffel aka DJ 5ter Ton ist großer Befürworter von Vinyl. Er hat mit seiner Band „Massive Töne“ den Stuttgarter Hip-Hop entscheidend mitgeprägt – auch mithilfe von Schallplatten. 

Seine ersten Berührungspunkte mit der neuen Musikrichtung hatte Alex als Jugendlicher in den 80ern – unter anderem durch in Deutschland stationierte amerikanische Soldaten. Nach und nach entstanden die ersten Breakdance-Gruppen und Graffiti-Künstler, die sinnbildlich für die neue Subkultur standen. Da Alex bereits damals die größte Vinylsammlung hatte, ernannten ihn seine Freunde zum DJ. Im Jugendhaus West fand einmal im Monat eine Jugenddisco statt, bei der er für das Auflegen verantwortlich war. Dort tanzten die Breakdancer zu seinen Beats, während Rap-Acts ihre Texte performten. In den Jahren darauf nutzte er Schallplatten dann für das Sampeln im Studio. So entstand 1995 das erste Album der Massiven Töne.

Sampling beschreibt die Verwendung bestehender Musikaufnahmen in einem neuen Lied. Der aus dem Englischen kommende Begriff „sample“ heißt übersetzt Stichprobe. Während manche Produzent*innen nur einzelne Beats entnehmen, nutzen manche ganze Refrains und wandeln sie für ihre Zwecke um. Vor allem in der Hip-Hop-Szene in den 80ern wurde Sampling sehr beliebt. 

DJ 5ter Ton von den Massiven Tönen steht vor seiner Plattensammlung
Seit seiner Kindheit sammelt Alex Scheffel aka DJ 5ter Ton Vinyl. Inzwischen besitzt er etwa viertausend Platten.
Quelle: Sandro Pascucci

Heute schätzt Alex an Platten vor allem das entschleunigte Hörverhalten. Aufgrund der vergleichsweise mühsamen Bedienung wird bei Vinyl kein Song übersprungen: „Bei Platten hört man sich aus Gemütlichkeit das gesamte Album an. Dadurch erlangt man ein Verständnis für die Musik – auch wenn einem ein Song die ersten paar Male nicht gefällt“, merkt Alex an. Beim Streaming ist das bekanntlich anders: Songs, die nicht sofort gefallen, werden per Knopfdruck übersprungen. Laut Alex beeinflusst diese Schnelllebigkeit auch die Musikbranche: Ein Album erscheint und kurz darauf beginnt schon die Tour. Zeit zum Verweilen und Genießen bleibt also kaum. 

Dennoch sieht Alex auch die Vorzüge, die digitale Musik mit sich bringt. So legt er heute fast nur noch digital auf und spart sich damit das Schleppen schwerer Vinylkisten. Ob ein DJ mit Platten oder digital auflegt, sei ohnehin zweitrangig. Viel wichtiger seien die Fähigkeiten, meint er. Trotzdem freut sich Alex, dass immer mehr DJs und Musikinteressierte Platten kaufen – auch um der Schnelllebigkeit ein wenig zu entfliehen.

Ein Ort der Wahrhaftigkeit

Ein Zufluchtsort vor eben dieser Schnelllebigkeit ist „Second Hand Records“. Der 1984 von Helmut Faber eröffnete Laden wird seit 2013 von Rainer Rupp betrieben. Rainers Liebe zu Vinyl entstand bereits in der Kindheit. Mit neun kaufte er sich seine erste Platte: „House of the Rising Sun“ von The Animals. Für ihn sind Schallplatten bis heute Kunstwerke. Dass inzwischen auch eine jüngere Generation Vinyl mag, bekommt er jeden Tag zu spüren. Auch deshalb sieht er Streaming gelassen: „Ein Album ist etwas anderes, als einen Song zu streamen. Alben wurden schon so oft totgesagt, aber irgendwie gibt es sie immer noch.“

Warum der Laden am Berliner Platz in Stuttgart so geschätzt wird, liegt für den Vinyl-Experten Holger Lund und Alex Scheffel nicht nur am vielfältigen Sortiment, sondern auch an der fachlichen Beratung und der gelebten Nähe: Alex hat dort schon in den 90ern regelmäßig sein Ausbildungsgehalt gelassen, während Holger Lund den Laden bis heute für seine Forschung nutzt. Dabei ist Second Hand Records nicht nur für Stuttgart von Bedeutung: „Second Hand Records ist eine kulturelle Institution in ganz Süddeutschland“, betont Lund.

„Alben wurden schon so oft totgesagt, aber irgendwie gibt es sie immer noch.“ 

Rainer Rupp, Inhaber von Second Hand Records

Doch Rainers Geschäft ist nicht nur bei Sammler*innen beliebt – auch Musikschaffende kommen gerne vorbei. So finden hier regelmäßig Konzerte statt, bei denen lokale Bands gefördert werden. Sogar internationale Stars wie Kendrick Lamar oder Glenn Danzig waren während ihrer Deutschland-Touren schon zu Besuch. Ein großes Ding macht Rainer daraus nicht. Vielmehr respektiert er ihre Privatsphäre und lässt sie in Ruhe durch die Plattenboxen stöbern.

Wo die digitale Sturmflut draußen bleibt: Second Hand Records. | Quelle: Sandro Pascucci

Ein analoges Echo im digitalen Zeitalter

Eben diese Ruhe ist es, die Besucher*innen zu Rainers Laden zieht – darunter auch mich. Second Hand Records beweist, wie ein analoger Ort im digitalen Zeitalter zur kulturellen Konstante werden kann. Platten sind dabei mehr als nur Nostalgie: Sie stehen für Beständigkeit, Tiefe – und ein Lebensgefühl, das in unserer schnelllebigen Welt wieder zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Draußen ist es inzwischen dunkel. Aus den Musikboxen schallt nur noch zartes Knistern. Die Sam Cooke Platte ist zu Ende – doch ihre Wirkung bleibt. Wie der Laden selbst, steht sie für etwas, das nicht vergeht: Musik, die man fühlt. Mit einer Melodie im Kopf verlasse ich den Laden – ein rundes Stück Zeitgeschichte in der Hand.