Identitätsfindung

Aufwachsen mit eineinhalb Kulturen

Bei meinem ersten Besuch in Äthiopien bin ich drei Jahre alt. Mein Papa zeigt mir, wie die Wäsche auf unserem Hof gewaschen wird.
02. März 2022
Mein Vater ist Äthiopier, meine Mutter Deutsche. Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habe die äthiopische Kultur nur sporadisch kennengelernt. Trotzdem wurde ich oft nach meiner „wahren” Herkunft gefragt. Wie wirkt sich das auf die kulturelle Identitätsfindung aus? Ein Essay.

Mein Herz schlägt schnell in meiner Brust, meine Hände sind schwitzig. Ich fühle, wie warm meine Wangen sind. Ich hoffe, man sieht mir nicht an, wie aufgeregt ich bin. Wahrscheinlich schon.

Ich hole tief Luft und starre auf den Zettel in meinen Händen. Dort stehen Buchstaben aneinandergereiht, die so keinen Sinn machen – zumindest in keiner Sprache, die ich sprechen kann. Nervös kündige ich an, dass ich meine Dankesrede von eben nun auf Äthiopisch halten werde. Äthiopisch – die Sprache gibt es gar nicht, Amharisch meine ich. Trotz meines Fehlers geht ein Lachen durch die Runde und ich ergänze, dass ich seit gestern Abend dafür geübt habe.

„Teriachinin akbrachu lemetachihu hulu betam ameseginalehu“, bedanke ich mich bei allen, die zu meiner Abschiedsfeier gekommen sind. (Ich danke jeder*m sehr, der*die meiner Einladung gefolgt ist.) Ich danke Jordanos, einer Bekannten meines Vaters, die den Injera gemacht und die äthiopischen Soßen gekocht hat. Dann richte ich meinen Blick auf meinen Vater. „Yihenin hulu lene laderegelign le abate kelib ameseginalehu“, sage ich und lächle ihn an. (Ich danke meinem Vater von Herzen für alles, was er für mich getan hat.)

Applaus bricht aus, mein Vater lacht und ich verkünde ganz galant: „Essen!“

Das verstehen alle.

Eine fremde Sprache

Mein Amharisch beschränkt sich auf die Zahlen von eins bis 19, Bezeichnungen rund ums Essen und Schimpfwörter. Ich kann Hallo sagen, wie ich heiße und Dankeschön. Damit liegt mein Sprachniveau ungefähr auf dem von Tourist*innen, wahrscheinlich sogar noch etwas darunter.

Dabei erinnere ich mich noch an die Unterrichtsversuche meines Vaters: An das äthiopische Alphabet an meiner Wand, an die Schriftzeichen für meinen Namen, die ich in der Grundschule auf jeden Hefter malte, an die „Unterrichtsstunden“ mit Schiefertafeln und Sitzkissen in unseren Zimmern. Aber mein Vater arbeitet viel und war oft am Wochenende nicht da. Und einen großen Anreiz, die Sprache zu lernen, hatten meine Brüder und ich auch nicht. Wir lebten ja in Deutschland, nicht in Äthiopien. Und außer meiner Tante, meinem Onkel sowie ein paar Freunden meines Vaters sprach hier niemand, den wir kannten, Amharisch.

Als ich drei war, flog mein Vater mit mir nach Äthiopien. Eines der ersten Worte, die ich dort lernte, war „beka“ (genug), damit ich sagen konnte, wenn ich satt war. Auch als ich mit meiner ganzen Familie 2009 und 2012 noch einmal dort war, war es wohl das wichtigste Wort in meinem spärlichen Vokabular. Während der eigene Teller weggezogen oder mit den Händen verdeckt wurde, musste man es immer wieder wiederholen, sonst wurde stetig aufgefüllt. Mein kleiner Bruder, meine Mutter und ich wurden traditionsgemäß in Äthiopien getauft; auf unseren Reisen besuchten wir die große Verwandtschaft und besichtigten Kulturstätten. Meine Mutter bezeichnet unsere Aufenthalte heute trocken als „Bildungsurlaube“.

Woher kommst du wirklich?

Mit meinem kleinen Vokabular und dem wenigen Wissen über die Kultur fühlte ich mich die meiste Zeit meines Lebens nicht besonders äthiopisch. Aber ganz deutsch war ich in den Augen meiner Mitmenschen auch nicht.

Woher kommst du wirklich? Woher kommen deine Eltern? Wo liegen deine Wurzeln?

Ich weiß nicht, wie oft ich diese Fragen schon zu hören bekommen habe. Manchmal mit einem neugierigen Lächeln auf den Lippen, manchmal mit gehobener Augenbraue und musterndem Blick.
Jedes Mal löst es das Gleiche in mir aus: Unwohlsein. Es ist wie ein Test, den ich bestehen muss. Aber selbst wenn ich mein Kreuz an der „richtigen“ Stelle setze, bin nicht ich diejenige, die letztendlich den Korrekturstift in die Hand nimmt und einen Haken oder ein rotes F dahinter setzt. Ich kann mich noch so zugehörig fühlen, letztendlich geht es nicht nur darum, welchem kulturellen Hintergrund ich mich zuordne, sondern auch wie andere mich sehen.

Diese Fragen sowie die Kommentare über mein nicht-deutsches Aussehen haben dazu geführt, dass ich mich schon früh mit meiner Identität auseinandergesetzt habe. Warum bin ich nicht deutsch, auch wenn ich hier geboren und aufgewachsen bin? Gelte ich schon als äthiopisch-deutsch, obwohl der Anteil äthiopischer Kultur in meinem Alltag aus gelegentlichem Injera-Essen und den drei Urlauben in Äthiopien besteht?

2003: Beim Besuch meines Großonkels in Debre Markos (Norden Äthiopiens) treffen wir eine Kindergartengruppe.
2003: Alle anderen wissen, dass das Schaf später geschlachtet wird, während ich mich über meinen neuen Spielgefährten freue.
2009: Meine Mutter und ich tragen traditionelle äthiopische Festkleider.
2012: Spieleabend v. l. n. r. Oma, ich, Opa, mein kleiner Bruder Joseph, meine Cousine Lily. Die einzigen zwei Worte, die ich für das Spiel brauche: Emta, wenn ich jemanden Karten klaue und Teche, wenn ich eine Karte auf meinem Stapel ablege.

Identität ist ein Prozess

Mit der eigenen Identität beschäftigt sich jede*r das ganze Leben lang. Identität ist Name, Alter, Geschlecht, ist die einzigartige Persönlichkeitsstruktur, ist das Bild, das andere von einem haben, ist Herkunft. Identität wandelt sich.

Während sich Jugendliche von ihren Eltern abgrenzen wollen und deren Werte und Normen hinterfragen, übernehmen Kinder oft erstmal die Identität ihrer Bezugsperson. Als Kind war ich meinem Vater näher und wollte mehr wie er sein. Während meine Brüder sich oft wünschten, hellere Haut zu haben, um besser hineinzupassen, wollte ich dunklere, um mich stärker abzugrenzen. In dieser Zeit war meine Antwort auf die Frage, woher ich komme, ein trotzig-stolzes „Aus Deutschland, aber ich bin Halb-Äthiopierin“.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er braucht Interaktion, Anerkennung und sehnt sich nach Zugehörigkeit. Kultur bietet das. Schon in der Schule wird Kultur durch die Art und Weise wie gelehrt, benotet oder miteinander umgegangen wird, vermittelt. Zugehörigkeit bestärkt das Selbstwertgefühl und bietet gleichzeitig Sicherheit und Stabilität in einer sich stetig verändernden Welt. Vor allem für Jugendliche, die viele Veränderungen körperlich wie auch geistig durchlaufen, ist die kulturelle Zugehörigkeit wichtig. Spätestens auf dem Gymnasium verkürzte sich meine Antwort dann zu „Aus Deutschland”. Wer mehr wissen wollte, musste nachfragen.

Kultur ist dynamisch

Für mich war Kultur lange eine feste Größe mit spezifischen Kriterien, die man erfüllen muss: bestimmte/r Geburtsort, Herkunft, Name, Aussehen. Dadurch, dass ich nicht alle Boxen abticken konnte, hatte ich das Gefühl, nie ganz zur deutschen Kultur dazuzugehören. Weniger noch zur äthiopischen.

Heute weiß ich, Kultur ist dynamisch und vielfältig. Sie vermittelt Bedeutungssysteme, Werte, Traditionen. Wer in einer Gesellschaft aufwächst, übernimmt zwar unweigerlich Teile der Kultur, doch nicht jede*r muss die gleichen Kriterien erfüllen, um dazuzugehören. Kultur ist keine einheitliche Größe, sie hat viele Schichten mit fließenden Übergängen. Dabei können die Unterschiede innerhalb einer Kultur genauso gravierend sein wie zwischen zwei verschiedenen Kulturen. So habe ich beim Familienurlaub im tiefen Bayern in Konversationen genauso wenig verstanden wie bei einem Gespräch mit Niederländern, die ich auf meinem Auslandsjahr in Neuseeland getroffen hatte.

Trotz dieser Vielfalt und großen Unterschiede gibt es einheitliche Kriterien, die genutzt werden, um jemanden einem kulturellen Hintergrund zuzuordnen. Von Person zu Person werden sie unterschiedlich stark gewichtet. Oft jedoch spielen Herkunft, Aussehen und Name eine wichtige Rolle bei der Zuordnung. Mit meinem äthiopischen Nachnamen und dunklen Haaren scheine ich nicht deutsch. Durch die helle Haut und fehlenden Sprachkenntnisse, nicht äthiopisch. Wo gehöre ich dann hin?

Kultur neu denken

Der französische Philosoph François Jullien fordert in seinem Werk „Es gibt keine kulturelle Identität” auf, umzudenken und Kultur als Ressource wahrzunehmen. Nach Jullien hat niemand die eine kulturellen Identität, sondern „kulturelle Ressourcen”, auf die er oder sie zurückgreifen kann. Niemand gehört nur einer Kultur an, sondern kann sich seine Identität aus verschiedenen Ressourcen beliebig zusammenfügen. Das fasst in Worte, was eigentlich schon tagtäglich geschieht.

So kann ich auf äthiopische und deutsche, aber auch spanische oder südkoreanische kulturelle Ressourcen zurückgreifen. Ich kann Blackpink im Hintergrund laufen lassen, während ich meine Bratkartoffeln mit Berbere würze und nebenbei Spanisch-Vokabeln lerne. Wir leben in einer Welt, in der Information nur einen Klick entfernt ist, in der wir Essen aus verschiedensten Kulturen genießen, eine neue Sprache per App lernen oder uns mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen über das Internet austauschen können. Kultur ist Distanz über Zeit. Durch Migration, Besuche anderer Länder und Kulturen und den Austausch über das Internet wird diese Distanz zunehmend kleiner. Kulturen vermischen sich stärker denn je, Kulturen entwickeln sich, Kulturen entstehen. Durch diese Transkulturalität verlieren nationale Grenzen und die Muttersprache ihre Wichtigkeit. Kultur ist immer weniger an Räume gebunden und stattdessen von überall erreichbar.

Dadurch verschwindet aber keineswegs die Vielfalt. Wenn ich grüne und blaue, schwarze und rote Farbe auf eine Leinwand träufle, entsteht nicht plötzlich monotones Braun. Stattdessen bekomme ich kleine Vermischungen in gelb und weiß oder lila und pink, dunkelgrün und dunkelblau und vielen weiteren Schattierungen. Die Einzelkultur im traditionellen Sinne mag verschwinden, doch das kann auch etwas Gutes sein. Austausch und Vermischung fördern Verständnis und verringern die Distanz zwischen Eigenem und Fremden. Anstatt Kultur nach Differenzen zu definieren, kann man stattdessen nach Gemeinsamkeiten suchen.

„Kultur ist nicht gebunden und ich auch nicht. Ich kann mich mein ganzes Leben lang neu definieren.”

Und letztendlich ist Kultur auch nur ein Label, das man sich aufdrücken kann. Während es mir als Kind wichtig war, ein Teil der deutschen oder äthiopischen Kultur zu sein, habe ich heute eine gewisse Distanz zu beiden. Ganz nach der Idee der kulturellen Ressourcen greife ich auf meine äthiopischen und deutschen Ressourcen zurück und wähle aus, was ich übernehmen möchte und was nicht. Kultur ist nicht gebunden und ich auch nicht. Ich kann mich mein ganzes Leben lang neu definieren.

Wenn mich heute jemand fragt, woher ich komme, antworte ich: „Ich bin in Deutschland geboren.” Wer wissen will, wieso ich trotzdem dunkle Haare und braune Haut habe, muss nachfragen. Mittlerweile kränkt mich die Frage aber nicht mehr so sehr. Nicht alle haben sich anhand meines Aussehens schon eine Meinung über mich gebildet und wollen nun meine Bestätigung, damit sie mich reinen Gewissens in ihre Schublade mit der Aufschrift „nicht deutsch" stecken können. Viele sind einfach nur neugierig und wissen nicht, was diese Frage in jemandem auslösen kann. Und wer weiß, vielleicht lässt sie der kleine Austausch tiefgründiger über andere Kulturen nachdenken oder hilft ihnen sogar bei ihrer eigenen Identitätsbestimmung.