Der Placebo-Effekt

Mein Körper weiß sich selbst zu heilen

Placebos finden immer häufiger ihren Weg in die allgemeinärztliche Behandlung.
24. Juni 2020

Bei Schmerzen wird gerne zu der herkömmlichen Schmerztablette gegriffen. Liegt deren Wirkung an der Einnahme oder am enthaltenen Wirkstoff? Welche Rolle dabei der Placebo-Effekt spielt und warum viel mehr dahinter steckt als reine Einbildung.

Ob eine Operation nur zum Schein, Akupunktur ohne Einstich oder das Einnehmen der klassischen  Zuckerpille – der Placebo-Effekt wirkt in verschiedenen Formen. Weltweit zeigen Studien, wie effektiv er ist. Wird ein neues Medikament getestet, wird die Wirksamkeit immer mit einer Placebo-Gruppe verglichen. Diese bekommt eine Pille aus Zucker oder Stärke ohne Wirkung. Dabei kann oft das Phänomen beobachtet werden, dass die Placebo-Gruppe nicht viel schlechtere Ergebnisse erzielt als die Proband*innengruppe, welche das eigentliche Medikament verabreicht bekommt. Das liegt vor allem an der positiven Erwartungshaltung der Proband*innen. Je mehr der*die Patient*in an die Wirkung der eingenommenen Pille glaubt, desto wahrscheinlicher und intensiver tritt diese auch ein.


Eine positive Erwartung hängt nicht nur von der Einstellung der Patient*innen ab. Das Verhalten des ärztlichen Fachpersonals und das daraus resultierende Verhältnis, welches der*die Patient*in zu ihm aufbaut, sei ein entscheidender Faktor der Wirkung von Placebos, erklärt Medizinhistoriker Professor Robert Jütte. Vertrauen und Kommunikation würden hier eine große Rolle spielen. Doch die Kommunikation und die Zeit, die sich der*die Arzt*Ärztin für die zu behandelnde Person nimmt, kommen heutzutage in den ärztlichen Behandlungen zu kurz. Laut Jütte sollte ärztliches Fachpersonal mehr beachten, wie wichtig die Beziehung zu den Patient*innen ist, da diese schon die halbe Miete beim Heilungserfolg ausmache.

Eine klare Kommunikation trägt zur erfolgreichen Behandlung bei.
Ein Gespräch auf Augenhöhe gibt Patient*innen ein gutes Gefühl.
Verwendete Quellen

Offene Kommunikation wirkt Wunder

Das nützt nicht nur den Patient*innen, sondern ebnet den Weg zu einer ganz neuen Behandlungsweise: Der offenen Placebo-Gabe. Patient*innen wird ein Medikament ohne Wirkstoff verabreicht, was auch offen kommuniziert wird. Das zeigt eine Studie des US-Amerikanischen Medizinprofessors Ted Kaptchuk aus dem Jahre 2010. Die Proband*innen der Studie litten am Reizdarmsyndrom. Kaptchuck verabreichte ihnen ein Placebo und klärte sie darüber auf, dass sie nur ein Scheinmedikament zu sich nehmen würden. Tatsächlich schnitt die Placebo-Gruppe signifikant besser ab als die Vergleichsgruppe ohne Behandlung. Die Studie revolutionierte das Verständnis der Placebo-Gabe unter den Expert*innen für Medizin.

„Das ist unglaublich, wenn ich das vor 15 Jahren meinen Ärztekollegen erzählt hätte, hätten die mich für verrückt erklärt.“

Medizinhistoriker Professor Robert Jütte

Zuvor stand neben der Wirkung auch die ethische Frage des Einsatzes im Raum. Man könne mündigen Patient*innen nicht ohne deren Wissen ein Placebo verabreichen, meint Doktor Andreas Simon, Facharzt für Allgemeinmedizin. Durch den Ansatz der offenen Placebo-Gabe muss man sich über diese Faktoren keine Sorge mehr machen und profitiert ganzheitlich von der Wirkung der Zuckerpille. Grund dafür ist wieder die Erwartungshaltung. Auch hier spielt die Kommunikation eine sehr wichtige Rolle: Das ärztliche Fachpersonal verabreicht die Placebos mit Informationen über die einzunehmende Pille und erklärt die wissenschaftliche Fundiertheit der Wirkung. „Das funktioniert, insbesondere bei Schmerzzuständen, ganz hervorragend“, so Jütte.

Aber Achtung! Die offene Kommunikation der Nebenwirkungen kann auch zum Nocebo-Effekt führen. Das heißt: Durch die Einnahme eines Scheinmedikaments treten verstärkt die Nebenwirkungen statt der Wirkung auf.

Wenn der Körper die Heilung erlernt

Doch nicht nur unsere Erwartungen heilen uns – unser Körper erlernt die Wirkung eines Medikaments und wie er sich dadurch selbst heilen kann. Das funktioniert, indem dem Medikament ein Ritual beifügt wird. Manfred Schedlowski, Professor am Institut für Medizinische Psychologie, führte dazu eine Studie durch. Er ließ die Proband*innen morgens und abends ein ungewöhnlich schmeckendes, grünlich eingefärbtes Getränk zu jeder Medikamenteneinnahme des Immunsuppressivums Cyclosporin trinken. Dieses verhindert nach einer Organtransplantation, dass der Körper das Organ wieder abstößt. Drei Tage erlernt der Körper die Verknüpfung der Wirkung der Tablette mit dem ungewöhnlichen Geschmacks des Getränks. Anschließend tranken die Proband*innen nun auch mittags das Getränk – jedoch mit der Einnahme eines Scheinmedikaments ohne Wirkstoff. Es zeigte sich, dass bei den Proband*innen biochemische Prozesse im Blut abliefen, als hätten sie das echte Medikament zu sich genommen. Es hatte eine sogenannte Konditionierung stattgefunden. Deren Wirkung zeigte sich zwar nicht genauso stark wie die des herkömmlichen Medikaments, jedoch war diese Entdeckung ein wichtiger Schritt in der Placebo-Forschung. Man könne nun durch den Einsatz von Placebos die Wirkung der medikamentösen Behandlung steigern und gleichzeitig Medikamentendosen, wie auch Nebenwirkungen, verringern, erklärt Schedlowski.

Placebo als Allheilmittel

Doch wie sieht die Handhabung im alltäglichen Gebrauch aus? Doktor Simon hat seinen Weg gefunden: „Wenn ich eine Situation habe, in der eine Person unbedingt etwas möchte, dann verschreibe ich etwas Homöopathisches. Das sehe ich tendenziell schon eher als Placebo an.“ Reine Placebos habe er nur im Altersheim angewandt. „Das sind Patient*innen, die oft auf Tabletten fixiert sind und meinen, sie bräuchten diese Tabletten jetzt unbedingt“, so Simon. Allgemein wirke der Placebo-Effekt bei funktionellen Störungen am besten. Das bedeutet, dass die organischen Befunde des Patient*innen in Ordnung sind. Das mache laut Schedlowski jedoch 70 bis 80 Prozent der ärztlichen Anliegen von Patient*innen der Allgemeinarztpraxen aus. Bei schwerwiegenden und degenerativen Erkrankungen wie Krebs oder dem Corona-Virus spielt der Placebo-Effekt daher keine Rolle. „Man kann diese Krankheiten nicht unbehandelt lassen“, meint Schedlowski. Außerdem seien die biochemischen Abläufe im Immunsystem zu intensiv für kognitive Veränderungen. Somit kommt der Placebo-Effekt auch an seine Grenzen. In der allgemeinärztlichen Behandlung sollte seine Wirkungsweise nicht unterschätzt werden. Die offene Kommunikation von Placebos bietet hier neue Chancen für Mediziner*innen, aus dem Effekt Nutzen zu ziehen. Es sollte sich aber jeder im Klaren darüber sein, dass mit dem Placebo-Effekt kein Allheilmittel gefunden ist.