Kreativität

Keine Kunst ohne Leid?

20. Mai 2021
Weltschmerz, gebrochene Herzen, Einsamkeit. Gerade Künstler*innen sind oftmals mehr von diesen Problemen betroffen als der Rest der Gesellschaft. Benötigen wir Leid als Essenz künstlerischen Schaffens? Ein Essay.

Es scheint, als wäre es die Urfrage der Kunst, auf die es keine Antwort gibt. Oder doch? Ich greife zu Joey Goebels Roman „Vincent“ und blättere erneut darin herum. Kunst und Leid sind hier zwei zentrale Themen, die in einer experimentellen und extremen Situation dargestellt werden. 

Dem Protagonisten Vincent wird von klein auf bewusst Leid zugefügt. Alles, was ihn glücklich macht oder machen könnte, wird gnadenlos sabotiert. Er verliert seine Familie, Freunde und Liebesbeziehungen. All das geschieht in erster Linie, damit Vincent stets inspiriert ist, große Kunst zu schaffen. Die Einsamkeit soll ihm helfen, sich auf das Schreiben von hitverdächtigen Drehbüchern und Songs zu fokussieren.

„Seit der Mensch Dinge erschafft, gibt es die Vorstellung, dass das Schaffen von großer Kunst, zwingend aus einer Art Leid erwächst. Der entscheidende Punkt ist, dass Leid inspiriert.“ 

Aus "Vincent" von Joey Goebel

Die große Kunst kann also nur entstehen, wenn ein gequälter Mensch sein tiefstes Inneres aufs Blatt Papier bringt. Zugegebenermaßen: das klingt ziemlich dramatisch – aber ist es das nicht auch?

Ab wann wir von Leid sprechen

Grundsätzlich umfasst der Begriff alles, was einen Menschen körperlich und seelisch belastet. Neben ganz offensichtlichen Gründen, wie ein Verlust oder eine Krankheit, entsteht das Gefühl von Leid, „wenn Menschen etwas zu der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung fehlt und das ist bei jedem unterschiedlich“, so Psychologin Anja Schröder. 

Die Pyramide nach Maslow zeigt die menschlichen Bedürfnisse hierarchisch angeordnet. Erst wenn eine Ebene erfüllt ist, treten neue Bedürfnisse einer höheren Ebene in den Vordergrund

Außerdem: Wenn wir Leid erfahren, in welcher Form auch immer, nehmen wir diese negativen Gefühle sogar deutlich intensiver wahr als positive. Das hat vor allem einen evolutionstechnischen Hintergrund, denn angstauslösende Situationen prägen sich besser ein und lassen uns Probleme schneller erkennen. Die psychologische Forschung bringt es auf den Punkt: „Bad is stronger than good.“ Schade eigentlich.

Zwischen Genie und Wahnsinn 

Woher die Leid-Frage eigentlich kommt, wird klar, wenn man die Kunstgeschichte näher betrachtet. Ob Joseph Beuys, Vincent Van Gogh oder Edvard Munch – einige der großen, berühmten Künstler*innen, waren zu ihren Lebzeiten vom Leid geplagte Seelen. Von mangelndem Selbstwertgefühl, gesellschaftlicher Ablehnung, bis hin zu verschiedensten Krankheitsdiagnosen. So ganz zusammenhangslos scheint das also nicht zu sein. 

„Die Kunst, vor allem die Musik, war für mich damals ein Familienersatz.“

Markus Arnold

Der Musiker und Maler Markus Arnold, berichtet von ähnlich schmerzhaften Erfahrungen in seinem Leben. Der Tod von ihm nahestehenden Menschen spielt hierbei eine große Rolle. „Die Kunst, vor allem die Musik, war für mich damals ein Familienersatz.“ Puh. Dieser Satz lässt mich nicht kalt.

Kunst hilft, Emotionen zu verarbeiten

Wie schafft man es, sich nach schmerzhaften Ereignissen von gewissen Emotionen zu distanzieren oder gar loszulösen? Bestimmt haben wir alle es schon einmal gemacht: Tagebuch geschrieben. Klingt natürlich ziemlich banal, aber auch das ist eine von vielen Möglichkeiten, um sich den Frust von der Seele zu schreiben. Genauso wie Bilder zu malen, Musik zu komponieren oder Gedichte zu verfassen. Dabei geht es in erster Linie gar nicht um ein perfektes Endprodukt, sondern viel mehr um den Prozess dahinter. 

Kunsttherapeutin Nora Gast sieht das ähnlich: „Im künstlerischen Schaffen verarbeitet man Erlebtes und tiefe Gefühle. Gerade während des Prozesses werden neue Sichtweisen und Erkenntnisse gewonnen, teilweise auch unterbewusst. Mit Hilfe einer Kunsttherapie können Patient*innen verschiedene Emotionen verarbeiten, ohne die Themen verbalisieren zu müssen."

Die Sache mit der Einsamkeit

Um schmerzhafte Erlebnisse zu verkraften, entziehen wir uns oftmals bewusst dem gesellschaftlichen Leben. Manchmal ist alleine sein die bessere Wahl. Einsamkeit hingegen, ist kein selbst gewählter Zustand. Die Betroffenen haben entweder wenig bis keine Beziehungen oder empfinden diese als nicht innig oder emotional genug.

Ich denke zunehmend, dass sowohl Einsamkeit als auch alleine sein, die Schöpferkraft aus der Reserve lockt. Durch den Rückzug aus einem sozialen Umfeld wird so manch kreativer Kopf erst richtig wach. „Wenn ich ein glückliches soziales Leben hätte, würde ich weniger schreiben“, so auch der Autor Joey Goebel. Das liegt auch daran, dass das Auseinandersetzen mit der eigenen Person viel mehr gefordert wird und dafür sorgt, dass man sich oft intensiver mit den eigenen Gefühlen beschäftigt. Es bleibt also offen, inwieweit die Einsamkeit in der Corona-Pandemie das künstlerische Schaffen beeinflusst. 

Ich habe verschiedene Künstler*innen zu dem Thema befragt. Das sind ihre Antworten.
Ich habe verschiedene Künstler*innen zu dem Thema befragt. Das sind ihre Antworten.
Ich habe verschiedene Künstler*innen zu dem Thema befragt. Das sind ihre Antworten.

Braucht die Kunst also zwingend Leid, um Schönes zu erschaffen? Da gehen die Meinungen stark auseinander, aber ich glaube nicht. Kunst kann helfen, einen Zugang zu den eigenen Emotionen zu finden und gleichzeitig ein Ventil sein, um innerlichen Schmerz zu kompensieren. Im Künstlerischen gibt es keine Grenzen. Alles, was wir erleben und nicht erleben, kann in Worte, Bilder und Melodien umgewandelt werden. Schmerzvolle Situationen können hier durchaus eine vielseitige Inspirationsquelle sein, aber keinesfalls eine notwendige oder die einzige. Sie liefern uns schlichtweg mehr Material, denn: positive Gefühle müssen wir nur genießen, nicht verarbeiten.