Ehegattennachzug

Ehemänner importiert nach Deutschland

Die beiden Ehepaare Şeyda & Süleyman (links) und Mahbub & Metin (rechts) haben den Prozess des Ehegattennachzugs durchlaufen.
15. Nov. 2022
Seit Jahrzehnten ist der Ehegattennachzug für türkische Migrant*innen der häufigste Weg nach Deutschland einzuwandern. Mahbub (50) und Şeyda (27) haben ihre Ehemänner nach Deutschland „importiert“. Hier endet aber auch schon die Gemeinsamkeit der beiden Ehegeschichten.

11. Juni 1993, am Flughafen in Ankara: Sie stehen auf den Stufen, die zum Flieger hochführen. Die Sonne leuchtet hell und der Himmel ist klar. Heute ist der Tag gekommen, an dem Metin zu seiner Ehefrau Mahbub nach Deutschland zieht. Während sie die Treppen hochsteigen, dreht sich Mahbub ein letztes Mal um. Sie blickt in den Himmel hoch und mit einem Finger in der Luft sagt sie: „Schau dir den Himmel zum letzten Mal an!“. Verwundert fragt Metin: „Warum?“, er versteht nicht, was Mahbub damit sagen möchte. „Hier in der Türkei ist der Himmel sehr klar“, antwortet sie.  Als Mahbub und Metin in Deutschland ankommen und aus dem Flieger steigen, gewittert es. „Es hat tagelang geregnet. Er hat sich schrecklich gefühlt“, erinnert sich Mahbub heute zurück. 

Wie alles begann  

Mahbub kam als Tochter eines Gastarbeiters mit sieben Jahren nach Deutschland. Als sie dann mit 19 das erste Mal wieder in ihre Heimat zurückkehrte, fingen auch schon die Heiratsgespräche an. „Meine Familie mütterlicherseits wollte unbedingt, dass ich einen Verwandten von der mütterlichen Seite heirate. Meine Familie väterlicherseits hat sich das gleiche für ihre eigene Seite gewünscht“, erzählt die heute 50-jährige. Am Ende siegte ihre Familie väterlicherseits, und Metin sollte ihr „Ithal Damat“ werden. Als Ithal Damat werden in der Türkei Männer bezeichnet, die durch ihre Ehe nach Deutschland ziehen. Übersetzt bedeutet es „importierter Bräutigam“. Metin ist der Cousin von Mahbubs Vater und sechs Jahre älter als sie. „Zu unserer Zeit war jeder darum bemüht, seine Verwandten nach Deutschland zu bringen, ob die Menschen überhaupt zueinander passen oder ob sie glücklich werden, darauf haben unsere älteren Generationen gar nicht geachtet.“. Man merkt, dass sie diese veraltete Denkweise nicht teilt. Jedoch scheint sie mit dieser Vergangenheit nicht zu hadern. 

Die beiden kannten sich vor ihrer Trauung nicht. „Ich habe meinen Mann zehn Minuten gesehen, am nächsten Tag war ich mit ihm verheiratet.“. Erneut spricht sie mit einer Selbstverständlichkeit die überrascht. Während Mahbub noch überlegte, ob sie der Ehe zustimmen möchte, haben ihre Verwandten nicht gezögert. Sie haben so zügig gehandelt, dass Mahbub noch nicht einmal bei ihrer eigenen standesamtlichen Trauung anwesend war. „Das waren alles Verwandte in der Türkei. Die haben halt für mich unterschrieben“, sagt Mahbub mit einem Schulterzucken. Die standesamtliche Trauung wird im Osten der Türkei, woher die beiden stammen, als eine rein bürokratische Sache angesehen. Dort gelten Ehepaare erst nach der großen Hochzeitsfeier als verheiratet. 

„Ich habe meinen Mann zehn Minuten gesehen, am nächsten Tag war ich mit ihm verheiratet.“

Mahbub

Der Prozess des Ehegattennachzugs vor 30 Jahren 

Nach der standesamtlichen Trauung reiste Mahbub zurück nach Deutschland und kümmerte sich um den Ehegattennachzug. Darunter versteht man die Einwanderung eines Ehepartners oder einer Ehepartnerin in das Land, in dem deren Partner*in lebt. Der Ehegattennachzug ist eine Form der Familienzusammenführung, es soll die Familieneinheit schützen und aufrechterhalten. Im Jahr 2020 reisten circa 3.100 türkische Bürger*innen durch den Ehegattennachzug nach Deutschland ein. Als Metin seinen Reisepass bekommen hatte, konnte Mahbub auch schon ein Visum für ihn beantragen. Nach einem halben Jahr bekam Metin das Visum und durfte nach Deutschland. „Es ging alles so schnell“, erinnert sich Mahbub.

Diese Dokumente müssen aktuell bei einem Ehegattennachzug vorgezeigt werden.

Die ersten Tage in Deutschland 

„Wir waren uns ziemlich fremd, zwei fremde Menschen in einer Wohnung“, so fasst Mahbub die Anfangszeiten ihrer Ehe zusammen. Sie kamen an einem Sonntag an, am Tag darauf musste Mahbub zur Arbeit. Bevor sie die Wohnung verließ, machte sie Metin noch Frühstück. „Zu meiner Mittagspause kam ich dann nach Hause, um ihm sein Mittagessen vorzubereiten“, erinnert sie sich. Sie räumte den Tisch vom Frühstück ab und machte sich an das Kochen. Die beiden unterhielten sich nicht. „Ich habe ihn gefragt, was los ist, aber er sprach nicht mit mir.“ Metins Augen waren rot. „Er hatte Heimweh, hat es mir aber nicht gesagt, weil er ja ein Mann ist“. Am Abend schwieg Metin weiter. Damals konnte man in Deutschland nur einen türkischen Sender namens „Star TV“ empfangen. Diesen schaute Metin den ganzen Tag an. 

„Wir waren uns ziemlich fremd, zwei fremde Menschen in einer Wohnung.“

Mahbub

Die Erziehung zum „Mannsein“ 

Ahmed Toprak, Professor für Erziehungswissenschaften, beschreibt Metins Verhalten als typisch für den Integrationsprozess von Männern. Toprak forscht unter anderem im Bereich der deutsch-türkischen Migrantenfamilien in Deutschland. Der 52-jährige Türke schätzt, dass bei Männern die Integration aus zwei Gründen länger dauern kann. Zum einen falle es den allermeisten Männern schwer, die Kontrolle und die Versorgerrolle, auch wenn nur vorübergehend, abzugeben. Toprak betont, dass dies besonders an der Erziehung zum „Mannsein“ innerhalb Kulturen, liegt. Zusätzlich ziehe sich ein Teil der Männer zurück und begebe sich in ihre Herkunftsmilieus. Dies bedeutet beispielsweise, dass sie nur türkische Medien konsumieren, sich ausschließlich mit Türk*innen umgeben, türkische Männercafés besuchen und in türkischen Geschäften arbeiten. Durch diese Art des Rückzugs wird der Integrationsprozess dieser Männer stark gehemmt.    

Mahbub und Metins Ehe nach 30 Jahren 

Metin hatte damals nur einen Gedanken: Er wollte so schnell wie möglich arbeiten, damit er seine Familie in der Türkei ernähren konnte. Als er vor circa 30 Jahren nach Deutschland kam, bekamen Ehegatt*innen, die nachzogen, erst nach einer bestimmten Zeit eine Arbeitserlaubnis. Heutzutage gibt es diese Hürde nicht mehr. Menschen die durch den Ehegattennachzug nach Deutschland einreisen, bekommen von Anfang an eine Arbeitserlaubnis und somit den Zugang zum Arbeitsmarkt. Metin musste ein paar Monate auf seine Arbeitserlaubnis warten. Als er sie bekam, fing er an, in einem türkischen Laden zu arbeiten. Seine Aufgabe war es, Lebensmittel zu transportieren. Seit acht Jahren ist Metin nun selbstständig und führt seinen eigenen türkischen Laden. Noch immer beherrscht er die deutsche Sprache nur bedingt. Seine sprachliche Einschränkung hat ihn jedoch nicht davon abgehalten, die Bürokratie in den Griff zu bekommen, die mit einer Selbstständigkeit verbunden ist. 

Ihre anfänglichen Probleme sieht man Mahbub und Metin heute nicht an. Gemeinsam sitzen sie mit ihren beiden Kindern am Esstisch und ihr herzhaftes Gelächter füllt den Raum. „Mein Mann war schon immer ein sehr gutmütiger Mensch“, erzählt Mahbub mit einem leichten Lächeln. Metin wollte von Anfang an nicht, dass Mahbub arbeitet, weshalb sie ihre Karriere als Arzthelferin vor Jahren aufgab. Diese Entscheidung scheint Mahbub damals nicht gestört zu haben. Heutzutage arbeitet sie an Metins Seite in ihrem gemeinsamen Laden. Etwas was sie nach Jahren noch schade findet, ist es ihren Kindheitstraum, Rechtsmedizin zu studieren, nicht erfüllt zu haben. Damals wurde sie unerwartet schwanger und brachte ihre Tochter, Şeyda auf die Welt. 27 Jahre später heiratete Şeyda, wie ihre Mutter vor ihr, einen Mann aus der Türkei.

Metin und seine Tochter Şeyda vor circa 26 Jahren

Wie eine Busfahrt alles änderte 

„Ich war immer diejenige, die groß geredet hat“, grinst Şeyda. „Ich habe immer gesagt, dass ich niemals jemanden aus der Türkei heiraten und nach Deutschland bringen würde“.  Eine Busfahrt letztes Jahr änderte jedoch alles. Auf der 16-stündigen Fahrt von Istanbul nach Erzincan, die Heimatstadt ihrer Eltern, sahen Şeyda und Süleyman sich zum ersten Mal. Ein paar Tage nach der Busfahrt fingen sie an, über Instagram zu chatten. „Am Anfang war alles freundschaftlich“, erzählt Şeyda in einem überraschend ernsten Ton. Sie hatte Bedenken bezüglich der Entfernung, und war noch geprägt von Vertrauensbrüchen aus einer vorherigen Beziehung. Wenige Monate nach ihrem Kennenlernen flog Şeyda für eine Woche in die Türkei. Ihre großen grünen Augen leuchten auf als sie an ihre Reise zurückdenkt. „Nach der Woche wusste ich einfach, dass er der Richtige ist“, sagt sie mit einem bescheidenen Lächeln. Die beiden zögerten nicht, die nächsten Schritte Richtung Ehe zu gehen. „Mein Vater war am Anfang gegen diese Ehe“, erinnert sie sich. Metin hatte Bedenken bezüglich Süleymans Absichten. Doch Şeyda blieb zuversichtlich, sie wusste, dass Metin Süleyman mögen würde, sobald er ihn kennenlernt. 

„Ich habe immer gesagt, dass ich niemals jemanden aus der Türkei heiraten und nach Deutschland bringen würde.“

Şeyda

Süleyman lebt in der Großstadtmetropole Istanbul und hat zehn Geschwister. „Er wollte am Anfang nicht nach Deutschland ziehen, eigentlich will er es immer noch nicht“, erzählt Şeyda. In ihrer Stimme ist jedoch keine Unsicherheit rauszuhören. Die 27-jährige Personalleiterin hat eine schwere Krankheitsphase hinter sich gebracht. Noch immer muss sie alle paar Monate für Check-Ups nach Heidelberg in ein Krankenhaus fahren. Ihre gesundheitliche Situation sprach dafür, Süleyman nach Deutschland zu bringen. „Ich habe zu ihm gesagt, falls er in Deutschland nicht leben kann oder möchte, dass wir dann gemeinsam zurückgehen werden“, vergewissert sie.

„Er wollte am Anfang nicht nach Deutschland ziehen, eigentlich will er es immer noch nicht“

Şeyda 

Die beiden sind noch im Prozess des Ehegattennachzugs. Ihre standesamtliche Trauung fand im vergangenen Mai in der Türkei statt. Wenige Tage, bevor die beiden sich ein ganzes Jahr lang kannten. Şeyda fing nach der Trauung an, die Unterlagen für den Nachzug zu organisieren. Ihre Unterlagen sammelt sie in einem dicken blauen Ordner, aus dem die Dokumente an allen Ecken herausquellen. Alle Unterlagen die sie haben, müssen sie übersetzen und vom Notar beglaubigen lassen. „Das ist echt teuer und kostet viel Zeit und manchmal Nerven“, teilt sie mit während sie den Ordner, der sie halb verschlingt, wegpackt.    

Şeyda und Süleyman kurz nach ihrer Verlobung.

Die Wichtigkeit des Sprachnachweises 

Süleyman besucht aktuell einen Deutschkurs in Ankara. Dort soll er innerhalb von vier Wochen das Sprachniveau A1 erhalten. Ein deutscher Sprachnachweis wird seit 2007 von Menschen aus Drittstaaten gefordert, um für den Ehegattennachzug qualifiziert zu sein. Der Nachweis soll Zwangsheiraten verhindern, und die Integration in Deutschland erleichtern. Sinja Hiss vom Welcome Center Stuttgart schätzt die Chancen des Sprachnachweises als sehr wertvoll ein. „Es ist eine super wichtige Signalwirkung von Deutschland aus“, sagt sie, während sie unter den bunten Quadraten sitzt, die die gesamte Decke des Welcome Centers füllen. Dadurch zeige Deutschland, dass die Migrierenden willkommen sind, und man sich um ihre Integration bemühe. Gleichzeitig gebe es den Leuten die Chance, sich vor dem Einreisen mit dem Land vertraut zu machen. „Sprache sind nicht nur Worte, sondern es sind Ideen, Bilder, eine ganze geistige Welt“, führt sie fort.    

Süleyman wird seine Prüfung am 19. August antreten. „Die deutsche und türkische Sprache sind extrem unterschiedlich. Manchmal brauche ich Stunden, um einzelne Wörter zu lernen“, sagt Süleyman mit einer leichten Frustration. Zwei Wörter, die ihm aktuell Schwierigkeiten bereiten, seien Feuerzeug und Schlüssel. „Zum Beispiel Metin Baba lebt seit 30 Jahren dort und ist sehr intelligent, aber er beherrscht die Sprache immer noch nicht vollständig. Das macht mir dann schon Bedenken“, erzählt Süleyman am Telefon. Seine Stimme ist ruhig, doch seine Zweifel kann er dadurch nicht übertönen.  

Diese Voraussetzungen müssen aktuell bei einem Ehegattennachzug erfüllt sein.

Die großen Ängste vor der Ankunft 

Süleyman hat keine Angst vor der Prüfung, denn er fühlt sich gut vorbereitet. „Meine größte Angst ist, dass ich in ein Leben eintrete, von dem ich nicht weiß, was mich erwartet“. Das sei auch eine Angst, die viele der Ithal Damats, die er durch den Sprachkurs kennengelernt hat, spüren. Auch der Gedanke, ihre Partnerinnen nicht gut genug zu kennen, mache ihnen ab und zu Sorgen. „Die meisten von uns haben nur eine kurze Zeit mit unseren Partnerinnen gemeinsam verbracht“, sagt Süleyman. Der Gedanke, dass die Partnerin sich verändern könnte, wenn man zu ihnen reist, sei beängstigend. 

„Meine größte Angst ist, dass ich in ein Leben eintrete, von dem ich nicht weiß, was mich erwartet.“ 

Süleyman

Arbeitstechnisch ist Süleyman versorgt. Er wird den türkischen Laden seines Schwiegervaters übernehmen. Sobald sich Süleyman in Deutschland eingelebt hat, möchte Şeyda ihr Studium in Bildungswissenschaften beenden. Später möchte sie jedoch nicht berufstätig sein: „Ich möchte studieren und dann eines Tages bei meinen Kindern sein. Ich will später auf keinen Fall arbeiten.“ Trotz seiner Ängste freut sich Süleyman auf die Zukunft mit seiner Geliebten. Auch Şeyda ist hoffnungsvoll für ihre gemeinsame Zukunft in Deutschland. „Es ist mir bewusst, dass er vor allem am Anfang Schwierigkeiten haben wird, aber wir werden uns gegenseitig unterstützen“. Ihre große Hochzeitsfeier soll im Oktober dieses Jahres stattfinden. Wenn alles gut läuft, Süleyman seinen Sprachtest besteht und ein Visum bekommt, wird er im September zum ersten Mal nach Deutschland reisen.

 

NACHTRAG: Diese Reportage wurde im August erstellt. Şeyda und Süleyman hatten am 05. November ihre große Hochzeitsfeier in Istanbul. Süleyman hat seinen Sprachtest beim ersten Mal bestanden. Er wartet jedoch immer noch auf sein Visum. Wenn er sein Visum bekommt, wird er voraussichtlich Ende Dezember zum ersten Mal nach Deutschland reisen.