Obdachlosigkeit

Der Weg ins Warme

Dannie hilft seit drei Jahren, Essen für Obdachlose auszugeben. Er hat selbst lange auf der Straße gelebt.
24. Apr. 2023
Dannie war über zehn Jahre obdachlos. Für seine Hündin Shayene und ein besseres Leben, hat er es in eine eigene Wohnung geschafft. Jetzt will er selbst helfen. Doch die Zeit auf der Straße hinterlässt Spuren.

Wenn Dannie erzählt, taucht er wieder ganz ein in sein altes Leben. An Vieles kann er sich noch lebhaft erinnern: Der richtige Ort zum Schlafen muss nicht nur die richtige Menge an Licht, sondern auch die richtige Zahl an Wänden haben. Trübe gedämpfte Beleuchtung. Hell genug, um die eigene Hand vor den Augen zu erkennen. Dunkel genug, um selbst nicht gesehen zu werden. Eine schützende Wand im Rücken. Hauptsache keine blinde Stelle. Er will immer alles im Blick haben.

Wenn es kalt wird, braucht es eine windgeschützte Ecke. Heute in einem Park. Mit Decken und zwei Schlafsäcken hat er ein Lager auf einer hölzernen Bank gebaut. Darunter verschwindet eine schwarze Labrador-Hündin. Zwischen Decken und Dunkelheit ist sie kaum zu sehen. Die Stille um die Parkbank herum ist wachsam. Dannies Schlaf ist leicht und ihm fällt sofort auf, als Schritte und Stimmen schnell lauter werden. Drei Unbekannte kommen auf seinen Schlafplatz zu. Sie sind schon ganz nah. Dann schießt plötzlich ein dunkler Schatten unter der Bank hervor. Die schwarze Hündin kommt nicht weit. Nachts ist sie immer angeleint. Doch der Schrecken reicht. Schneller als Dannie selbst reagieren kann, sind die drei Unbekannten verschwunden und stolpern davon.

Montags bei der Vesperkirche

Im Windschatten der riesigen sandfarbenen Kirche steht ein einsamer kleiner Essensstand. Man bekommt Kaffee aus Pappbechern. Schwarz, mit Milch oder mit Milch und Zucker. Wahlweise auch Tee und kleine Milchtüten mit Vanillegeschmack. Wie jeden Montag und Dienstag arbeitet Dannie hinter der Kirche am Erwin-Schoettle-Platz und gibt Essen und Trinken für Obdachlose aus. Alle hier scheinen sich zu kennen. Die Stimmung wirkt vertraut, der Ton rau, die Gespräche direkt und ungefiltert. Es wird viel gelacht. 

Eine dunkle Cappy unter zwei Kapuzen und eine schwarz getönte Sonnenbrille machen es schwierig Dannies Augen zu erkennen. Er ist komplett in Schwarz gekleidet und warm eingepackt. Über zwei dicken Pullovern trägt er einen großen dunklen Parker. Man sieht, dass er Kälte gewöhnt ist. Die Kleidung muss warmhalten, wenn man die meiste Zeit draußen verbringt.

Bei der Vesperkirche hilft er mittlerweile schon seit drei Jahren mit. Als sein Vorgänger aufhören wollte, hat Dannie sich dafür eingesetzt, die ehrenamtliche Essensausgabe weiterzuführen. Früher war er selbst oft auf solche Angebote angewiesen, manchmal ist er das auch heute noch. Doch eigentlich hat sich einiges verändert. Dannie ist nicht mehr obdachlos. 

Obdachlosigkeit in Stuttgart

In Stuttgart kommen auf 100.000 Einwohner*innen ca. 850 obdachlose Menschen. Das ist im Vergleich zu anderen deutschen Städten eine besonders hohe Quote. Lange Zeit war Dannie einer von ihnen. Über zehn Jahre hat er insgesamt auf der Straße verbracht. Zu Beginn ist er teilweise bei Freunden untergekommen. Ein Auf und Ab.  Eine Zeit lang hat er mit seiner Partnerin zusammengelebt. Danach ein stetiger Wechsel zwischen Mühlgrün, dem Spielplatz bei der Waiblinger Straße, Picksraus oder dem Poco in Cannstatt. Wichtig ist es ihm besonders eine Sache klarzustellen: Egal ob Festanstellung oder nicht, egal wie stabil das Leben wirken kann, jeder kann obdachlos werden. Sein Weg in die Obdachlosigkeit war zum Teil selbstverschuldet aber vor allem großes Unglück, erzählt er.

2016 wird Dannie so wieder aus der Sesshaftigkeit geworfen, in der er ein paar Jahre zuvor angekommen ist. Seine Verlobte stirbt. Zurück bleiben Dannie und die Hündin Shayene, die die beiden zwei Jahre zuvor adoptiert haben. Da er und seine Partnerin nicht verheiratet sind und Dannie auch nicht auf die Wohnung gemeldet ist, bleibt ihm keine andere Möglichkeit: Er muss die gemeinsame Wohnung verlassen.  Am 31. Oktober 2016  landen Dannie und Shayene auf der Straße. Ich habe meiner Verlobten am Sterbebett versprochen auf sie aufzupassen”, erzählt er. Seitdem steht Shayene immer an erster Stelle. 

„Uns gibts nur im Doppelpack".

Dannie

Während der Arbeit hinter dem Essensstand huscht Dannies Blick regelmäßig über den Platz, bis er die schwarze Hündin findet. Neugierig bewegt sie sich zwischen Tischen, parkenden Autos und verlassenen Tischtennisplatten umher und begrüßt neue Leute. Es dauert nicht lange, bis sie einen Knochen zwischen den Zähnen trägt. Sie wedelt so energisch mit dem Schwanz, dass es aussieht als würde sie tanzen. Essen für Shayene zu finden war noch nie ein Problem, sagt Dannie. Mittlerweile kann er ihr Futter sogar kostenlos im Café 72 abholen. 

Dannie und Shayene vor der Kirche am Erwin-Schoettle-Platz.
Dannie und Shayene vor der Kirche am Erwin-Schoettle-Platz.

Café 72

Man kennt Dannie hier. Er ist schon sehr lange Gast. Früher als er noch auf der Straße gelebt hat und auch heute ab und zu. Er war sogar schon im alten Café, bevor es umgezogen ist.  Als ein Freund ihm das erste Mal vorschlägt dort hinzugehen, kann Dannie es kaum glauben. Sag mal bist du blöde, das kann ich doch nicht bezahlen”. Ne das ist für lau”, antwortet sein Freund. Ins Café kann man jederzeit kommen. Kleiner Kaffee 15 Cent. Großer Kaffee 30 Cent. Und alles, was an Essen ausliegt, ist kostenlos. Man kann hier auch duschen und Wäsche waschen. Menschen treffen und reden. 

Das Café 72 ist eines von vielen Angeboten in Stuttgart. Fast jeder Stadtteil Stuttgarts hat eigene Beratungsstellen und Hilfsangebote für Menschen die auf der Straße leben. Diese Hilfe, entgegen dem eigenen Stolz, anzunehmen, ist die erste große Hürde. Den inneren Schweinehund überwinden”, sagt Dannie dazu. Ihm ist es gelungen. Doch das allein ist nicht die einzige Herausforderung. Angebote wie das Café können nicht nachhaltig etwas gegen Obdachlosigkeit tun und Wohnheime oder Notunterkünfte sind meistens komplett überfüllt.  Es mangelt an Wohnraum und nicht jedem kann auf Dauer geholfen werden. Bekommt man keine eigene Wohnung vermittelt, hat man meist nur temporär ein Dach über dem Kopf. 

Notunterkünfte und Hunde

An einem besonders kalten Wintertag erzählt eine Streetworkerin Dannie von einer dieser Notunterkünfte. Ein befristetes Zimmer in der Notübernachtung in der Hauptstätterstraße in dem er schlafen könnte. Dannie muss ablehnen. In Notübernachtungen sind keine Hunde erlaubt. Die einzige Lösung: Shayene müsste ins Tierheim. Doch das kommt für ihn nicht infrage. Uns gibts nur im Doppelpack”, betont er. Das Problem besteht jedoch nicht nur im Winter. Es gibt in Stuttgart kaum Notunterkünfte oder Wohnheimzimmer, die Hunde erlauben. Um endlich ein Dach über dem Kopf zu haben, braucht Dannie also mehr als ein solches Zimmer. Er braucht eine eigene Wohnung. 

Entzug und eigene Wohnung

Irgendwann merkt er, dass es so nicht weitergehen kann. Mit den Umständen unter denen er und Shayene leben. Mit dem schutzlosen Leben auf der Straße und dem übermäßigen Alkoholkonsum. Es muss sich etwas ändern. Das Café 72 und die ambulante Beratungsstelle kennt Dannie. Über sie findet er den Kontakt zu einem Sozialarbeiter, dem er vertraut. Micha. Er bittet ihn darum, ihm einen Therapieplatz zu besorgen. Es ist der erste Schritt, sie machen einen Deal. 2017 auf 2018 macht Dannie einen kalten Entzug. Micha setzt sich daraufhin dafür ein, dass Dannie und Shayene endlich ihre eigene Wohnung bekommen. Am 10. April 2019 ist Dannie nicht mehr obdachlos. 

Was genau war der Deal?”.

Ich bekomme eine Wohnung, wenn ich davon wegkomme”, Dannie hebt den Arm. In der Hand eine halbleere Bierflasche. 

Das Thema Alkohol ist heikel. Schnell hat Dannie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Dass er ab und zu seine Wein- und Sherrysoßen kocht, war klar, sagt er. Und dass er nie wieder etwas trinkt, habe er auch niemandem versprochen. Er betont jedoch mehrmals: Der Deal steht auch heute noch. Ich trinke nie so viel, dass ich Shayene nicht mehr sicher zurück in die Wohnung bringen kann." Den Moment als er das erste Mal die neu vermittelte Wohnung betreten hat, beschreibt er selbst als befremdlich. Shayene hat sich aber sofort wohlgefühlt."

Große Familie

Es ist wieder Montag. Eine Woche später. Mit frisch rasiertem Bart sitzt Dannie neben zwei anderen Männern auf einem steinernen Vorsprung und raucht. Gegenüber die sandfarbene Kirche. Auf einer der Tischtennisplatten liegt ein dunkelbrauner riesiger Hund und hechelt. Merlin ruft Dannie ihn. Shayenes bester Freund. Die schwarze Labrador-Hündin ist heute nicht da. Damit sie nicht immer hinter der Vespertheke herumläuft, passt eine Freundin von Dannie auf sie auf. Doch der kleine Stand fehlt heute und der Platz ist ungewöhnlich leer. Es gibt Personalmangel, deswegen ist die Essensausgabe ganz kurzfristig ausgefallen. Auch Dannie hat erst davon erfahren, als er schon längst am Erwin-Schoettle-Platz sitzt. Allen, die dennoch kommen, erzählt er von dem Zettel, den er an der Tür der Feuerwehr gesehen hat. Über den Winter gibt es dort montags auch Essen. Es wird sogar warm gekocht. Guck da an der Tür hängt ein Zettel, geh da rüber. Letzten Montag gab’s Gyros soweit ich weiß”.

Dass das Essen an der Kirche heute komplett ausfällt stört Dannie. Die Vesperkirche geht ohnehin nur noch bis Mitte März. Immer über die Wintermonate. Er hilft hier gerne mit und kennt fast alle gut. Muss nicht einmal nachfragen um zu wissen, wie die Leute ihren Kaffee wollen. 40 Leute. Hab´ ich alles im Kopf”. Einige kennt er noch aus seiner Zeit auf der Straße in Bad Cannstatt, viele hat er aber erst über die Vesperkirche kennengelernt. Eine Art große Familie sind sie für ihn geworden.

Draußen und hier auf dem Platz vor der Kirche scheint er sich am wohlsten zu fühlen. Wie früher, ist er auch heute noch meistens unter freiem Himmel unterwegs. Er geht morgens früh im Dunkeln aus dem Haus und ist abends erst im Dunkeln wieder zurück. Ein Zuhause nennt er die spärlich eingerichtete Einzimmerwohnung auch nach drei Jahren nicht. Dankbar ist er dennoch. Eine Couch für ihn und Shayene, eine Küche, ein Bad, eine Heizung und ein kleiner Balkon. Ein Rückzugsort. Und besonders praktisch: Ein Kühlschrank. Auf der Straße konnte er sich schließlich nie ein Stück Fleisch einfrieren oder eine Sherrysoße kochen.