Interview 5 Minuten

„Es hat mir geholfen, das Leben kennenzulernen“

Pamela Dilger ist Ehefrau und Mutter von zwei Kindern.
01. Juni 2023
Menschen in Ausnahmesituationen beistehen – das kann und will nicht jede*r. Bei der Notfallnachsorgedienst hat Pamela Dilger genau das gemacht. Sie wurde gerufen, wenn gerade für eine Person die komplette Welt zusammengebrochen ist. Im Interview erzählt sie über ihre Erfahrungen.

Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Kindstod und tödliche Unfälle.

Pamela Dilger hatte als junge Frau ein Hobby, welches sie bis heute prägt. Bereits mit knapp über 20 engagierte sie sich ehrenamtlich beim Notfallnachsorgedienst des Deutschen roten Kreuzes (DRK). Um dies tun zu können absolvierte sie im Vorhinein mehrere Schulungen. Zehn Jahre lang half sie Menschen in akuten Not- und Unglücksfällen.

Gibt es eine Situation, die du nie vergessen wirst?

Einmal ist ein Teenager bei einem blöden Unfall ums Leben gekommen und die Mutter hat es einfach nicht glauben können, dass das ihr Sohn ist. Sie durfte ihren Sohn nicht sehen, weil das alles polizeilich untersucht wurde und man muss auch dazu sagen, dass der Sohn durch den Unfall sehr entstellt aussah. Aber für die Mutter war es unheimlich wichtig, selbst zu sehen, dass es tatsächlich ihr Sohn ist. Wir haben es dann mit der Polizei geschafft, dass sie anhand eines Körperteils, ihren Sohn erkannt hat. Das fand ich damals ziemlich beeindruckend, weil man gemerkt hat, nachdem die Mutter Gewissheit hatte, war es natürlich immer noch schlimm, aber sie konnte damit besser umgehen.

Solche Situationen hast du durch dein Ehrenamt beim Notfallnachsorgedienst vom DRK oft miterlebt. Erklär doch kurz, was Notfallnachsorge überhaupt ist.

Im Prinzip ist das die psychologische Erste Hilfe. Der Rettungsdienst kann bei einem Einsatz nicht ewig dableiben und dann hat man die Leute oftmals alleine lassen müssen, weil beispielsweise noch keine Verwandten da waren. Das war für die Rettungskräfte so eine blöde Situation, gehen zu müssen und keiner ist da. Deshalb haben sich dann ein paar Ehrenamtliche gefunden, die in der Zeit da sind, in der der Rettungsdienst weg ist, bis dann jemand da ist, der die Personen auffängt. Die Notfallnachsorge überbrückt also genau diese Zeit von der Erstversorgung bis die Person dann aufgefangen wird.

Du hast bereits mit knapp über 20 damit angefangen. Wie kamst du dazu?

Ich wollte immer gerne Psychologie studieren, aber ich war mir nicht sicher, ob ich diesen professionellen Abstand wahren kann. Ich war damals im Roten Kreuz aktiv und habe das mit dem Notfallnachsorgedienst mitbekommen. Das fand ich interessant, da mal reinzuschnuppern.

Hättest du dir das auch hauptberuflich vorstellen können?

Ne, also als Hobby hat’s mir Spaß gemacht und ich finde es auch wichtig, dort etwas bewirken zu können. Aber ich habe gemerkt, beruflich will ich es nicht machen. Beim Ehrenamt hat man einfach die Möglichkeit, dann auch zu sagen: ich will heute oder ich will nicht.

Ihr musstet für dieses Ehrenamt natürlich auch Schulungen belegen. Aber was sind deiner Meinung nach die Top drei Eigenschaften, die man mitbringen sollte?

Natürlich sollte man volljährig sein, allein weil man ein Auto braucht, um dann kurzfristig irgendwohin fahren zu können. Und man braucht schon ein bisschen Lebenserfahrung. Aber ich fand es immer gut, als junger Mensch dort mitmachen zu können. Ich denke, es braucht vor allem jemanden, der wirklich empathisch ist. Und dann natürlich das Thema, belastbar zu sein. Es sind Belastungen, es ist eine Ausnahmesituation und damit muss man umgehen können.

Wenn etwas passiert ist, wurdet ihr angerufen und seid immer zu zweit dort hin. Was war das für ein Gefühl, wenn du wusstest, du kommst gleich in so eine Ausnahmesituation?

Es war nicht immer einfach. Es war immer eine Aufregung mit dabei, weil du auch nie wusstest, was du vorfindest. Auch diesen ersten Kontakt zu jemandem zu finden. In der Regel wurden die Leute gefragt, ob sie jemanden dahaben möchten, aber in so einer Ausnahmesituation kann sich das auch mal innerhalb von zehn Minuten ändern.

Hat es dich in der Situation selbst emotional auch mitgenommen, also hast du dann auch mal geweint oder konntest du diesen Abstand wahren?

Klar weint man auch mal. Wenn beispielsweise ein junger Familienvater stirbt, man die ganze Familie dann kennenlernt und mit denen ein paar Stunden verbringt. Das sind schon traurige Momente. Oder auch Eltern, die Jugendliche verlieren, bei Autounfällen, Motorradunfällen, solche Sachen. In solchen traurigen Situationen den Abstand so zu wahren, dass man es gar nicht an sich ran lässt – das ging nicht und ich denke, das ist auch nicht gewollt. Man kann diese Anteilnahme auch zeigen. Wichtig ist nur, danach wieder loslassen zu können.

Wie hast du es geschafft loszulassen?

Also ich glaube ganz wichtig sind die Treffen, in denen wir geübt und reflektiert haben. Das hat schon sehr geholfen. Ansonsten generell darüber reden. Wir sind auch ganz oft nach den Einsätzen einfach zu einem von uns Zweien heimgefahren, haben einen Kaffee getrunken und nochmal alles miteinander besprochen. Das war schon wichtig. Ich denke, alles in sich reinfressen geht nicht.

Gab es auch Situationen, in denen dir das Loslassen schwergefallen ist?

Das Thema „plötzlicher Kindstod” war schon immer sehr aufwühlend, weil es keine Erklärung gibt. Ein Verkehrsunfall ist schlimm, aber es hat einer einen Fehler gemacht. Bei einem plötzlichen Kindstod, das ist einfach nicht erklärbar. Eigentlich generell immer, wenn was mit Kindern war. Das war schon immer sehr schlimm.

Du warst ganze zehn Jahre lang bei der Notfall Nachsorge und hast dann vor etwa 15 Jahren damit aufgehört. Waren solche Situationen ein Grund, dass du damals aufgehört hast?

Ja, auch. Ich kam damals in den Lebensabschnitt, in dem ich selbst eine Familie gründen wollte. Dabei wollte ich einfach diese rosarote Brille aufhaben und nicht permanent damit konfrontiert werden, was alles passieren kann. Ich habe auch bei meinem ersten Sohn gemerkt, dass ich am Anfang ganz oft geschaut habe: atmet er noch? Ich konnte gar nicht wirklich loslassen. Ich habe damals einfach gemerkt, dass ich jetzt in meinem Leben einen anderen Schwerpunkt habe. Ich wollte mich wieder mehr um dieses Fröhliche kümmern und das Leid von anderen nicht permanent in meinem Leben haben. Dazu kam natürlich auch, dass man mit einem kleinen Kind nicht einfach sagen kann, ich bin dann mal weg und weiß nicht, wann ich wiederkomme.

Wie denkst du heute über die Zeit?

Ich denke, es war eine gute Erfahrung. Es ist auch gut, wenn man mal deutlich darauf hingewiesen wird, dass es noch andere Situationen als die Eigene gibt und vor allem, dass es nicht immer gut ausgeht. Die Zeit hat mir auch geholfen zu reifen oder überhaupt das Leben kennenzulernen.

Ist auch Stolz dabei?

Es ist schon Stolz dabei. Ich weiß noch, einmal waren wir ganz viele Stunden bei einer Frau, die ihr Kind durch einen plötzlichen Kindstod verloren hatte. Sie hatte einfach wahnsinnig Angst, diesen Säugling aus der Hand zu geben, weil sie immer dachte, jemand nimmt ihr den jetzt weg. Das ging über Stunden und sie hat krampfhaft dieses Kind festgehalten. Irgendwann musste sie dann auf die Toilette und hat zu mir gesagt: „Halten Sie meinen Sohn.“ Das war so eine Situation, in der man gemerkt hat, dass ein sehr großes Vertrauen da war. Aber auch die Bestätigung, dass es sich gelohnt hat, heute Nacht aufzustehen und dass man für jemanden da war.

Denkst du oft an die Zeit zurück?

Inzwischen ist es einfach zu lange her. Durch die plötzlichen Kindstodesfälle habe ich im Säuglingsalter meiner eigenen Kinder schon oft daran gedacht. Mein Sohn kommt jetzt in die Zeit, in der man bald mit dem Führerschein beginnt. Ich glaube, das ist einfach so eine Zeit, wo halt die Wahrscheinlichkeit, dass was passieren kann, wieder steigt und wo man dann vielleicht wieder eher an das eine oder andere denkt.

Denkst du, du bist dadurch sensibler oder ängstlicher geworden?

Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich dadurch ängstlicher oder vorsichtiger bin. Aber ich glaube, was ich mitgenommen habe, ist sich abzusichern. Also dass wir eher geguckt haben, dass die Kinder versorgt sind, falls uns beiden etwas passiert. Das haben wir alles notariell festhalten lassen und das hätte ich wahrscheinlich nicht gemacht, wenn ich nicht diese Erfahrung im Notfallnachsorgedienst gehabt hätte.

Würdest du es irgendwann mal wieder machen?

Weiß ich nicht.

Vielleicht in der Rente?

Ja, vielleicht in der Rente. Wobei ich nicht weiß, ob ich diese direkten Notfallsituationen nochmal möchte. Was ich mir aber vorstellen könnte, wäre Begleitung in einem Hospiz. Aber wie gesagt, im Moment spielen wir daheim noch glückliche Familie.

Die Redakteurin steht in freundschaftlicher Beziehung zur Protagonistin.