Alltagssituationen

Fitnessumkleide oder Hungertod?

Soll ich oder soll ich nicht? Kaum eine Frage bestimmt unseren Alltag derartig.
13. März 2023
Unser Leben, ja es kann so unendlich schmerzhaft sein. Unaufhaltsam hetzen wir von einer Peinlichkeit zur nächsten – in der Regel mit großem Erfolg. Eine Kolumne, die dieses Minenfeld aus Fettnäpfchen mit all seinen wunderbaren Dilemmata etwas genauer ins Visier nimmt.

Dilemmata und ein Minenfeld aus Fettnäpfchen. Was gibt es denn da für ein besseres Beispiel als Begrüßungen? Vermeintlich harmlos – und dennoch so unglaublich viel Katastrophenpotenzial. Der ein oder andere mag sich nun fragen, was man dabei denn tierisch falsch machen kann. Und an diesem Punkt kommt mein Beispiel ins Spiel.

Schauplatz ist die Umkleide des Fitnessstudios meines Vertrauens. Unzählige Male habe ich dieses Szenario bereits durchlebt. Zwischen sich föhnenden (halb)nackten Ü60-Männern, versuche ich mir den Weg zum Spind zu bahnen. Nicht wissend, wohin ich meine Blicke wenden soll, erkenne ich dann aber auch die erste mir mehr oder weniger bekannte (und angezogene) Person. Ich beginne, die Situation auszukundschaften. Ok, wie gut kenne ich ihn? Schon gut genug, um ein „Hi“ von den Lippen zu bekommen? Ich bin mir unsicher. Starre weiter unauffällig in seine Richtung. Wer macht den ersten Schritt? Und dann – kurz bevor ich zwischen anderen Schränken verschwinde – wage ich es dann doch. Ein kurzes Kopfnicken. Was folgt, ist nichts. Nur ein befremdlicher Blick. Autsch. Und ich dachte, wir wären sowas wie „Gymbuddies“. Eine Schmach nach allen Regeln der Kunst. Dieser Schmerz, er hinterlässt seine Spuren.

Das Mittelalter als Ursprung

Das Ganze erklärt die Psychologie mit der Angst vor Ablehnung, die wir alle fürchten. Ursprung hat das Phänomen in einer längst vergangenen Zeit, als der Mensch noch mit eigener Kraft für sein leibliches Wohl sorgen musste (kaum zu glauben, dass es einmal Zeiten gab, wo der Einkauf nicht bis an die Haustür geliefert wurde). Bei den Jägern und Sammlern war der Verlust der Zugehörigkeit nämlich mit dem direkten Überleben verbunden. Die Evolution ist also dafür verantwortlich, dass wissenschaftlich gesehen bei so einem Korb der gleiche Bereich in unseren Hirnen angesprochen wird, wie bei körperlichem Schmerz. Statt nicht zu grüßen, könnte der Kerl mir also genauso eine Backpfeife geben verpassen.

Da könnte ich mir (...) auch gleich den kleinen Zeh wuchtig gegen eine Tischkante hauen.

Sicher meinte er es aber nicht ganz so böse. Versetze ich mich nämlich nach reiflicher und ausführlicher Reflexion in seine Lage, verstehe ich ihn sogar ein Stück weit (das ändert aber nichts daran, dass ich ab jetzt nur noch sehr busy, mit den Blicken ins Smartphone versunken, an ihm vorbeigehe – aber gut, wieder ein anderes Thema). Oftmals bin ich mir nämlich selbst nicht ganz sicher, ob überhaupt ich bei Begrüßungen gemeint bin. Ganz besonders bei diesen Vom-Sehen-Bekannten. Grüße ich sie nämlich zurück, obwohl es gar nicht mir galt, haben wir wieder das gleiche Problem. Da könnte ich mir, wie wir nun wissen, auch gleich den kleinen Zeh wuchtig gegen eine Tischkante hauen.

Keine andere Wahl

Umso mehr ich mich also am Anfang, peinlich berührt, über meinen Gegenüber aufregte, desto mehr wurde mir nach differenziertem Aufarbeiten der Situation klar, in welcher misslichen Lage auch er sich befand – entweder er brät mir oder sich selbst eins über und nur geringe Chancen unbeschadet da rauszukommen. Am Ende war er sich selbst am nächsten.

Fazit: Man kann es nur falsch machen. Wir fürchten um unsere Zugehörigkeit und kämpfen für Anerkennung. Das war schon immer so, mit dem feinen Unterschied, dass es damals kurz vor dem Hungertod war und heute bereits in der Fitnessumkleide beginnt.