Alkoholkonsum

Mal nüchtern betrachtet

Zu tief ins Glas geschaut?
25. Febr. 2021
Alkohol gehört einfach zum typischen Studentenleben dazu – oder? Nicht so ganz. Ein Essay über unsere gestörte Trinkkultur und wie sich das auf mein Trinkverhalten ausgewirkt hat.

Februar 2020. Es ist Samstagabend. Die letzte Prüfung im ersten Semester ist überstanden. Lange vorher stand bei meinen Freunden und mir fest: An diesem Wochenende feiern wir gebührend das Ende der Prüfungsphase. Die Nacht wird zum Tag, die Clubs werden unsicher gemacht. Doch bevor es auf die Straße geht, wird vorgeglüht. 


Wo treffen wir uns denn jetzt? Haben wir genug zu trinken da?


Beim Vortrinken steht Bierpong auf der Agenda. Hier könnte ich gleich zwei meiner Schwächen unter Beweis stellen, nämlich meine fehlende Treffsicherheit sowie meine nicht vorhandene Trinkfestigkeit. So sicher ich sagen kann, dass ich die wahrscheinlich schlechteste Bierpong-Partnerin auf jeder Party bin. Mit derselben Sicherheit müsste ich mich wahrscheinlich nach zwei Bechern davon übergeben, wenn ich es doch wagen sollte, bei Trinkspielen mitzumachen. 


Naja, sich bis zum Gehtnichtmehr zu betrinken ist doch das Ziel auf jeder Party, oder nicht? Gehört das nicht dazu? Wie soll man sonst die schlechte Musik im Club später ertragen?


Tatsächlich habe ich eine Zeit lang in meinem jungen Leben nicht nur Trinkspiele gemieden, weil ich völlig untalentiert war. Es gab eine Phase, in der ich bewusst Alkohol abgelehnt und die schlechte Musik im Club nüchtern ausgehalten habe. Jetzt fragt ihr euch vielleicht, welche Gründe mich zu dieser Entscheidung bewegt haben.


Und genau das ist das Problem.

Die gestörte Trinkkultur


Die soziale Akzeptanz von Alkohol in unserer Gesellschaft ist, wie so vieles, historisch verwurzelt und kulturell vermittelt. Alkohol hat als Genuss- und Rauschmittel eine jahrtausendalte Tradition. Schließlich verwandelte schon Jesus Wasser in Wein. Bereits die alten Ägypter brauten Bier, der griechische Weingott Dionysos wurde von der Bevölkerung verehrt. Alkohol galt daher als ein Geschenk der Götter, als ein Wunder. Nicht nur löscht er den Durst, er desinfiziert auch. Selbst Hippokrates erkannte in der Antike den Wert von Bier und Wein als Heilmittel bei Fieber und Infektionen.


Ich behaupte mal, heutzutage betrinken sich die Menschen nicht, um primär ihren Durst zu stillen oder um sich von innen zu desinfizieren. Im Allgemeinen spricht man von drei verschiedenen Trinkkulturen. Einmal die Genusskultur, wo mal ein Glas Wein zum Abendessen gereicht wird, wie es in mediterranen Ländern üblich ist. Dann gibt es Abstinenzkulturen, zum Beispiel muslimische Länder, die gänzlich auf Alkohol verzichten. 


Und dann gibt es noch uns. Wenn man Touristen nach Deutschland fragt, kommt als erste Antwort meistens Oktoberfest oder Bier. Deutschland und seine gestörte Trinkkultur, wo Jugendliche so verdammt einfach an Alkohol rankommen. Ich bin an einem Ort aufgewachsen, wo Weinfeste auf dem Dorf die sozialen Highlights waren. Es war normal, mich ab zehn Uhr morgens an Karneval volllaufen zu lassen, obwohl ich gerade mal 15 Jahre alt war. Oh, ich korrigiere: Es ist immer noch normal, das zu tun. Trinken für die Rauschwirkung, den Exzess. Ein heftiger Kater und ein Filmriss am nächsten Morgen – der Beleg für eine gute Partynacht. Komasaufen als soziale Norm. Eine Studie der Online-Zeitung YouGov hat gezeigt, dass 35 Prozent der Jugendlichen in Deutschland vorrangig trinken, um sich zu betrinken. Das ist kein Wunder, wenn einem in der Gruppe das Gefühl gegeben wird, man hat ohne Alkohol sonst keinen Spaß. 


Es ist immer noch Samstagabend. Je später es wird, desto höher steigt der allgemeine Alkoholpegel auf der Party. Und ich, mit 0,0 Promille mittendrin. Irgendein Typ bietet mir sein Bier an. „Warum hast du kein Glas in der Hand? Trink doch mal ‘nen Schluck!“, lallt er mich an. Mit einer ablehnenden Handbewegung gebe ich ihm zu verstehen, dass ich das nicht möchte. In meinem Kopf denke ich mir „Sag’s nicht, sag’s nicht“. Und dann kommt doch immer dasselbe: „Warum? Mit ‘nem Bier geht’s dir besser! Du bist ja stocknüchtern.“


Ich mag vielleicht nüchtern sein, dennoch setzt mein Hirn für einen Moment aus. Nie fällt mir eine Antwort ein, mit der sich meine Mitmenschen zufriedengeben würden. Ich habe weder religiöse noch gesundheitliche Gründe für das Nichttrinken.


Aber muss ich die haben? Warum reicht mein „Nein“ als Antwort nicht? Und warum will ich mich überhaupt rechtfertigen?

Die soziale Funktion von Alkohol bedingt den Rechtfertigungsdruck für Nichttrinker*innen.

Gallus Bischof, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie (DGSPS)

Im Gespräch mit Gallus Bischof, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie, erfahre ich den psychologischen Hintergrund der beschriebenen Situation: „Die soziale Funktion von Alkohol bedingt den Rechtfertigungsdruck für Nichttrinker*innen, denn Trinken gilt in vielen Situationen noch immer als ‚normal‘. Die ambivalente Rolle von Alkohol verleitet manche dazu, die Entscheidung einer anderen Person, keinen Alkohol trinken zu wollen, nicht zu akzeptieren.“ Ganz klar: Der Mensch ist ein soziales Wesen, der Wert darauflegt, Teil einer Gruppe zu sein. Wenn ich als Einzige auf der Party nicht trinke, grenze ich mich unfreiwillig selbst von anderen ab. Und wenn man anders als die anderen ist, gilt man als „uncool“. 


Wer will das schon?


Das klingt, als hätten die Leute auf der Party dann gesagt, ich soll nach Hause gehen. So war das aber nie. Mit der Zeit hat man mich als Nichttrinkerin akzeptiert. Mir wurde nicht mehr gesagt „Nimm doch nur ‘nen Schluck“. Ich wurde nicht mehr nach einem Grund gefragt, mein „Nein“ wurde einfach abgenickt und das Thema hat sich erledigt. Ich glaube, das liegt an meiner ohnehin schon offenen Persönlichkeit. Ich bin ein sehr geselliger Mensch und liebe es, unter Leuten zu sein. Partys, ausgehen, Freunde treffen – mir fällt es leicht, auf Fremde zuzugehen und mich mit jemandem anzufreunden. Was ich damit sagen will: Ich bin in sozialer Hinsicht nicht auf die Wirkung von Alkohol angewiesen. Mir wurde oft gesagt, ich bin „auch ohne Alkohol echt gut drauf und kann Spaß haben“. Als wäre das der einzige Grund, warum meine Entscheidung akzeptiert wird.


Alkohol ist also nicht nur flüssiges Glück, sondern auch noch flüssiger Mut! Wie allseits bekannt, fallen mit steigendem Alkoholpegel jegliche Hemmungen. Dazu hat Alkohol eine beruhigende Wirkung. Einfach perfekt für introvertierte und schüchterne Menschen, um sich doch dem sozialen Gefüge anzupassen. Das sieht man auch immer wieder bei Studienanfängern. Da wird einem direkt zu Beginn schon ein Bier in die Hand gedrückt. 


Kann man sich denn auch anders kennenlernen?


Außerdem tun viele Menschen im betrunkenen Zustand Dinge, die sie sonst nicht machen würden. Einfach, weil sie sich sonst nicht trauen. Je höher der Promillewert, desto mehr steigt die Laune. Jedenfalls bis zu einer gewissen Grenze. 

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Es gibt fünf Phasen beim Alkoholrausch. | Quelle: Lisa Pham

Klar macht die Menge das Gift. Dennoch – solche fatalen Folgen beim Alkoholkonsum sind einem auf Partys nie bewusst. Wenn ich den Begriff „Alkohol“ höre, denke ich an feiern, Freunde, laute Musik. An nächtliche Heißhungerattacken nach stundenlangem Tanzen. An eine gute Zeit. Na, sag das mal trockenen Alkoholiker*innen. Ihre Gedanken sind da um einiges düsterer als meine.

In unserer Gesellschaft wird Alkoholkonsum verherrlicht und verharmlost. Alkoholismus wird noch immer nicht als das Problem anerkannt, was es eigentlich ist. Alkohol gilt hierzulande kaum als Droge. Dabei sind 1,77 Millionen Erwachsene in Deutschland alkoholabhängig. Aber wer will schon zugeben, dass er ein Alkoholproblem hat? Laut Suchtpsychologe Gallus Bischof wird das Problem der Abhängigkeit meist durch die Stigmatisierung von Suchtkranken verdrängt. „Das verzerrte Bild von Suchtkranken als willensschwache Menschen ist gesellschaftlich verbreitet. Das führt dazu, dass Menschen ihr eigenes Trinkverhalten bagatellisieren.“ Solche Schwächen werden in unserer Leistungsgesellschaft nur ungern gesehen. Deswegen werden Suchtprobleme und deren sozialen Konsequenzen eher unterschwellig gehandhabt. Keiner soll erfahren, was zuhause passiert, wenn der Familienvater nach einem harten Arbeitstag aus Frust eine Flasche Whisky trinkt. Zu wichtig ist es, den äußeren Schein zu wahren.

Rückläufige Entwicklung


Aber die Zeiten ändern sich. Im Laufe der letzten Jahre hat sich der Alkoholkonsum sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen stetig verringert. Laut einer Umfrage trinkt jeder dritte Deutsche selten bis gar keinen Alkohol. Eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) legt dar, dass der Anteil an regelmäßigem Alkoholkonsum bei jungen Erwachsenen um mehr als zehn Prozent innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte gesunken ist. Diese rückläufige Entwicklung zeigt: Nicht nur das Gesundheitsbewusstsein der Menschen steigt an, sondern es ändern sich auch soziale Normen. Zum Beispiel fordern immer mehr Leute eine Null-Promille-Grenze.

Anteil des regelmäßigen Alkoholkonsums unter jungen Erwachsenen in Deutschland

Mittlerweile ist es bereits vier Uhr morgens. Die meisten Leute sind schon nach Hause gegangen. Eine Freundin setzt sich neben mich und fragt, ob wir nicht langsam gehen wollen. Ich stimme ihr zu. Kaum jemand ist noch auf der Tanzfläche. Der Boden ist übersät mit Glasscherben und Cocktailstrohhalmen. Der DJ spielt seine ersten Rausschmeißer-Songs. Die Party ist vorbei.


Alkohol ist insbesondere in Deutschland ein großer Bestandteil unserer Kultur. Das ist mir bewusst. Auch ist dieser Text keineswegs als Angriff auf unsere Trinkkultur zu verstehen. Dennoch ist Alkohol eine Droge – eine legale, wodurch sie gesellschaftlich mehr als nur akzeptiert wird. Dabei bestimmt nicht das Gesetz über den Gefahrenwert eines Rauschmittels, sondern die Menge. Und unzählige andere Faktoren. 


Fakt ist: Ich könnte so viele Gründe aufzählen, warum ich mich dazu entschieden habe, keinen Alkohol mehr zu trinken. Die Wahrheit ist aber, es gibt keine. Und selbst wenn es die gäbe, ginge das niemand anderen an. Mein „Nein“ sollte als Antwort reichen. Schließlich fragt mich auch niemand, warum ich nicht rauche. Das muss man einfach akzeptieren. Und genauso kann ich mir auch ein Glas Wein einschenken, während ich diese Sätze tippe – tatsächlich ist meine abstinente Phase vorbei. Einfach so. Weil mir danach ist.