Kindheitstrauma

Wenn man aus dem Trauma nicht raus wächst

Eine traumatische Erfahrung als Kind kann Betroffene bis in das Erwachsenenleben verfolgen.
03. Dez. 2021
Ihr Körper bebt, als sie das ausspricht, was sie ihr Leben lang verdrängt hat: ihr Kindheitstrauma. Jahrelang hat Evangelia Karantoni den Blick von ihrer Kindheit abgewendet, bis die Vergangenheit sie eingeholt und gezwungen hat, endlich hinzuschauen.

Nacheinander kommt jede*r Schüler*in vor die Klasse und inszeniert ein Therapiegespräch mit den eigenen Problemen. Eine Unterrichtseinheit in der therapeutischen Ausbildung. Jetzt ist Evangelia an der Reihe. Angst bricht in ihr aus. Sie schämt sich. Ihr Vater hat ihr schon als Kind verboten über die Gewalt zu Hause zu sprechen. Noch Jahre später steht sie im Kampf mit sich selbst: Hört sie auf ihre innere Stimme und schweigt oder setzt sie sich mit ihrem Kindheitstrauma auseinander und spricht endlich aus, was ihr als Kind widerfahren ist? Evangelia hat sich entschieden: Sie will ihr Trauma überwinden. 

„Ich habe das Leben als Kind als sehr gefährlich wahrgenommen“, gesteht die 27-Jährige. Sie atmet tief ein und sucht scheinbar nach Worten in der Luft. Vor ein paar Jahren wäre es für sie undenkbar gewesen, ihre Vergangenheit so offen zu erzählen. Heute trifft sie sich mit mir im Zoom-Meeting und berichtet über ihre Traumafolgen. Ausgelöst in der Kindheit. Geblieben bis in das Erwachsenenalter.

„Mein Vater hat mir psychisch und körperlich wehgetan und meine Mutter ist auf einmal gegangen“, erklärt Evangelia und wendet dabei mehrmals den Blick von der Kamera. Sie war erst drei Jahre, als ihre Mutter die Familie verlässt. Ihr Vater bekommt das Sorgerecht zugesprochen. Von nun an ist sie der Gewalt zu Hause ausgesetzt. „Wenn die dir am nächsten stehende Person dich schlägt, dann schädigt das“, erklärt sie. Ein Schaden, der sie noch bis in ihr spätes Erwachsenenleben verfolgt.

Tritt zu Hause wiederholt Gewalt auf, fühlen sich betroffene Kinder bedroht und sehen sich regelmäßig in Lebensgefahr. Diese erschütternden Kindheitserlebnisse hinterlassen regelrechte „Wunden“, ein sogenanntes Trauma. „Wenn man immer wieder in diese Verletzung reingeht und einem immer wieder das Gleiche passiert, wird die Wunde größer und es kann nicht ausheilen“, erklärt Stephanie Strube-Olm, Heilpraktikerin für Psychotherapie in Stuttgart.

„Mein Körper war das totale Erdbeben“

Evangelia Karantoni

Unnahbar, cool und stark – so wollte sich Evangelia nach Außen immer zeigen. Dafür kapselte sie sich von ihren Gefühlen und der Außenwelt ab. „Ich wusste schon immer, dass da was raus will, aber ich habe es ständig unterdrückt“, erklärt sie und lehnt sich nachdenklich in ihrem Stuhl zurück. Doch die Albträume und die unwillkürlichen Panikattacken konnte sie nicht unterdrücken. Erst als sie mit ihrer therapeutischen Ausbildung begonnen hat, setzte sich Evangelia mit ihrem Inneren auseinander. Die unterdrückten Emotionen konnten endlich zum Ausdruck kommen. „Es ist quasi rausgeschossen. Ich war nur am Heulen und am Zittern“, erzählt die 27-Jährige. Betroffene fangen oft an zu zittern, wenn sie über ihre Erlebnisse sprechen. Auch Evangelia spricht da aus Erfahrung. „Mein Körper war das totale Erdbeben“, ergänzt sie. Das ist für die Betroffenen zwar anstrengend, aber notwendig. Strube-Olm erklärt das so: „Zittern ist gut! Das Trauma wird im Körper aufgenommen und eingefroren. Zittern kann immer wieder ein Versuch sein, diese negative Energie loszukriegen.“

Die traumatischen Erfahrungen als Kind konnte Evangelia erst als Erwachsene vollständig bearbeiten. Jetzt schaut sie Richtung Zukunft.

Das Gedächtnis als Schrank

Auch wenn die traumatischen Erlebnisse Jahre zurückliegen, das Problem bleibt fest verankert im Kopf. Es reicht ein bestimmtes Geräusch und plötzlich spielen sich die fürchterlichen Erinnerungen wie ein Film vor dem inneren Auge ab. Das Gehirn ist zum Zeitpunkt des Erlebten massiven Stress ausgesetzt und wird von Stresshormonen überflutet – ein Umstand, bei dem das Gedächtnis nicht richtig arbeiten kann. Man kann sich das menschliche Gedächtnis wie einen Kleiderschrank mit unterschiedlichen Fächern vorstellen. Die verstaute Kleidung sind die Erinnerungen. Schöne Erinnerungen werden ordentlich in das passende Fach gelegt. Wann immer man auf sie zurückgreifen möchte, weiß man, wo man sie findet.

Anders sieht es bei einem Traumagedächtnis aus: „Wenn man im Stress ist -und Trauma ist massiver Stress-, dann hat man keine Zeit, seinen Pullover in das richtige Regal einzuordnen, sondern man schmeißt alles rein und macht den Schrank wieder zu“, verdeutlicht Stephanie Strube-Olm. Es entsteht pures Chaos. Doch irgendwann hält das der Schrank nicht aus: „Man kann mitten im Studium sein und sich auf die Prüfungen vorbereiten und plötzlich geht die Schranktür auf und der Pullover, [den man während eines traumatischen Erlebnisses an hatte] fällt einem entgegen“, so Stephanie Strube-Olm. Es ist die gefürchtete Erinnerung und das schlimme Gefühl, welches Betroffenen entgegenfällt, weil das Gehirn es nicht richtig verarbeitet und sortiert hat.

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Das normale Gedächtnis und das Traumagedächtnis im metaphorischen Vergleich. | Quelle: Vanessa Fass

Auch das Gedächtnis von Evangelia litt darunter. In einem Gespräch mit ihrer Stiefmutter hat sie von Situationen erfahren, als ihr Vater sie erneut geschlagen hat. Das Problem: Sie hat keine Erinnerungen daran. Ähnlich wie bei einem Blackout. Sie beschreibt das als eine Art Schutz: „Durch diese Situationen in meiner Kindheit hatte mein Körper keine andere Möglichkeit sich zu schützen, deswegen erinnere ich mich auch nicht daran.“ Wird ein traumatisches Ereignis verdrängt, ist das ein Schutzmechanismus. Die Psyche hindert einen daran, die Situation später wieder zu erleben.

Trauma, aber keine Liebe

„Selbstliebe war mit dieser Last kaum möglich“, erklärt Evangelia. Das spiegelte sich in ihren Beziehungen wider: „In der Zeit, wo ich keine Selbstliebe hatte und immer noch mit dem Trauma kämpfte, hatte ich sehr toxische Beziehungen“, erinnert sie sich. Erst als sie ihre Last abgelegt hat, ergab sich eine respektvolle und gesunde Beziehung. Stephanie Strube-Olm erklärt: „Du kannst im Außen nichts bekommen, was du im Innen nicht hast.“ Sprich: Erst wenn man weiß sich selbst zu lieben, kann es auch ein*e Andere*r tun.

Es braucht Überwindung 

„Viele wissen ihr Leben lang nicht, dass sie traumatisiert sind und funktionieren dann einfach nur“, ergänzt Strube-Olm. Wird das kindliche Trauma unbehandelt gelassen, verlieren Betroffene ihre Lebensqualität. Das zeigt sich auch in Selbsthilfegruppen. Evangelia saß immer als Jüngste im Raum. „Hätte ich doch nur früher angefangen, dann wäre mir so viel Leid erspart geblieben“: Sätze wie diese sind oft gefallen.

Offen über das Kindheitstrauma sprechen, „dass war das, was mich Überwindung gekostet, aber im Endeffekt zur Heilung geführt hat“, erzählt Evangelia und strahlt. Heute macht sie über die Social Media Plattformen TikTok und Instagram auf Traumata aufmerksam. Evangelia möchte sich nämlich nicht mehr verschließen, sondern mit ihren Erfahrungen anderen Menschen helfen.