Datenjournalismus

Russischer Aufmarsch auf Tiktok: Wie die App bei der Rekonstruktion half

Lea Weinmann rekonstruierte mithilfe von Tiktok den russischen Aufmarsch. Im ihren Erklärvideo macht sie transparent, wie sie das geschafft hat.
24. Mai 2022
Tiktok ist inzwischen jedem bekannt. Doch meist nur zur Unterhaltung. Nicht für Lea Weinmann, Volontärin bei der Süddeutschen Zeitung. Mithilfe von Tiktok analysierte sie den russischen Aufmarsch in die Ukraine. Ein Interview über die Möglichkeiten des Datenjournalismus.

Lea Weinmann, 24 Jahre alt,  hat Crossmedia-Redaktion an der Hochschule der Medien studiert. Ihren Abschluss machte sie 2020 und begann noch im selben Jahr ihr Digital-Volontariat in München bei der Süddeutschen Zeitung. Kenntnisse in Sachen Datenjournalismus baute sie im Studium auf und anschließend immer weiter aus. Drei Wochen bevor der Krieg ausbrach, rekonstruierte sie den russischen Truppenaufmarsch mithilfe von TikTok-Videos und anderen öffentlich zugänglichen Informationen im Internet. Wichtig ist ihr dabei immer die Transparenz der journalistischen Recherche. Deshalb legte sie ihre Rechercheschritte in einem Erklärvideo offen und erläuterte dabei genau, welche Rolle Online-Communities für ihre Arbeit spielen. 

Sie haben anhand von Tiktok-Videos den russischen Truppenaufmarsch analysiert. Warum haben Sie sich entschieden, sich auf diese Art mit dem Krieg zu beschäftigen? 

Es hat sich tatsächlich viel durch diesen Open-Source-Schwerpunkt in meinem Volontariat ergeben. Es war schnell klar, dass mit Kriegsausbruch und auch schon davor, diese Skills, die ich da mitbringe, dringend gebraucht werden. Das, was die Redaktion gerade möchte und sich auch die Leser*innen wünschen, war Ordnung ins Chaos bringen. Es lag auf der Hand, dass ich das Thema machen muss.

Um das Video anzuzeigen müssen Sie zuvor der Nutzung von Marketing Cookies zustimmen.

Im Erklärvideo und Artikeln sprechen Sie oft von dem Begriff OSINT. Könnten Sie den Begriff OSINT genauer erklären? 

OSINT, also Open Source Intelligence, bezeichnet alles, was jeder Mann und jede Frau im Netz finden kann. Es ist also eine sehr breite Basis an Informationen, die im Netz herumschwirren. 

Auf welche Informationsquellen greift die SZ bei solchen Analysen primär zurück? 

Wenn es um solche Open Source Analysen geht, dann gibt es erst mal die Suchmaschinen. Auch ich fange erst mal an zu googeln. Aber ich nutzte Google auf eine Art und Weise, wo der normale Internetnutzer relativ schnell aufhört. Das heißt, ich verwende verschiedene Operatoren, um wirklich alles aus den Suchmaschinen rauszukitzeln. Neben den Suchmaschinen nutze ich auch Social Media in allen möglichen Formen und Farben. Facebook, Instagram und auch Telegram sind superwichtig. Auch Datenbanken, die öffentlich verfügbar sind, Flugtracking- oder auch Schiffstracking-Seiten sind hilfreich.  

In Ihrem Erklärvideo erwähnen Sie als Quelle auch Communities in den sozialen Netzwerken. Nutzer*innen laden nämlich nicht nur Bilder und Videos hoch, sondern analysieren und lokalisieren diese auch. Inwiefern haben Ihnen solche Communities in der Open-Source Recherche weitergeholfen? 

Extrem! Was wir als Journalistin*innen im Bereich Open-Source leisten, das wäre alles gar nicht möglich gewesen, wenn es diese breite Community nicht gebe.  

Kann man denn diesen Communities vertrauen? 

Natürlich muss man da auch aufpassen. Community heißt in dem Fall, man hat keine bestimme Ausbildung, um zu dieser Community zugehören. Man muss darauf achten: Wer twittert da was? Ich habe auf Twitter eine relativ große Gruppe von Leuten, denen ich folge. Ich schaue dann, was die beobachtet oder gesehen haben könnten. Von dort aus recherchieren wir weiter. Aber ohne die Vorarbeit der Communities würden wir nur ein Bruchteil von dem schaffen, was wir momentan hinkriegen.

 „Was wir als Journalistin*innen im Bereich Open-Source leisten, das wäre alles gar nicht möglich gewesen, wenn es diese breite Community nicht gebe.“

Lea Weinmann

Wie verifizieren Sie denn, dass es sich um ein wahrheitsgetreues Bild oder Video handelt und es nicht manipuliert wurde? 

Das ist nicht leicht zu beantworten. Gerade jetzt im Krieg sind es extrem viele Informationen im Umlauf. Eine Methode, die uns dabei hilft, ist die Geolokalisierung. Das bedeutet, wenn wir ein Foto oder Video haben, analysieren wir, ob es an diesem Ort stattgefunden hat und versuchen genau herauszufinden, wo es aufgenommen wurde. Dafür wird das Video in seine Einzelteile zerlegt und es wird auf jedes kleine Detail geschaut. Wir prüfen dann, ob Agenturmeldungen oder Informationen von anderen dazu veröffentlicht wurden. In der Lokalpresse schauen wir, ob zu dem aufgenommenen Ereignis Berichterstattungen vorhanden sind. Satellitenbilder sind auch oft sehr hilfreich.  

Lassen sich die Bilder oder Videos dabei vollständig verifizieren? 

Wir berichten nur dann über Dinge, wenn wir sie ausreichend verifizieren können. Es ist aber auch ganz oft so, dass ich mir ein Video mehrmals anschaue, es aber nicht verifizieren kann, weil zu wenige Informationen dazu vorhanden sind. Das werfen wir aber nicht weg. Wir legen das zur Seite und warten, bis mehr Informationen zusammenkommen.  

Welche Merkmale sind beim Geolokalisieren besonders wichtig? 

Ganz wichtig sind Ortsschilder, Autokennzeichen, große Gebäude oder sogar Bäume. Auch Straßenverläufe sind hierbei extrem wichtig. Wenn die Straße einen komischen Knick macht oder Parkplätze zu sehen sind, dann sind das Dinge, die man auf Satellitenbildern sehr gut erkennen kann. Irgendwann weiß man, welche Merkmale einem beim Geolokalisieren helfen.  

Können auch normale Nutzer*innen geolokalisieren oder braucht man eine Ausbildung dafür? 

Geolokalisieren kann jeder! Das ist so wie Rätseln. Also keine Scheu. 

Was war besonders schwierig bei der Recherche für das Erklärvideo? 

Schwer ist mir vor allem gefallen, Ordnung reinzukriegen. Es kursierten auf Twitter oder Tiktok plötzlich extrem viele Videos. Es kamen jeden Tag neue Videos dazu und ich konnte nicht alle geolokalisieren. Ich musste für mich selber eine Systematik festlegen, anhand der ich entschieden habe, welche Videos ich analysiere oder nicht. Ansonst wäre der Artikel nie fertig geworden. 

Das Ganze klingt nach sehr viel Aufwand. Wie lange hat das ganze Projekt gedauert? 

Ich würde sagen, in etwa, drei Wochen. 

Ganz schön sportlich! Im Erklärvideos vom 05.02. sagen Sie, dass ein Kriegsausbruch noch nicht ganz sicher sei. Am 24.02. kam es leider doch dazu. Konnten Sie persönlich die Situation einschätzen und sind Sie damals schon von einem Kriegsausbruch ausgegangen? 

Das habe ich mich selbst tatsächlich auch gefragt. Ich hatte schon ein relativ ungutes Gefühl, als wir mit einem Experten gesprochen haben. Er hat gesagt, was die dort an Truppen verlegt haben, das ist nicht einfach nur Artillerie. Das sind Sachen, die braucht man, wenn man vorhat, monatelang dort zu bleiben. Material zum Bau von Brücken beispielsweise. Da habe ich mir gedacht, warum sollte das jemand tun, wenn er nur ein bisschen drohen will? Ich hatte genauso wenig Ahnung wie alle anderen auch, aber vielleicht ein etwas unguteres Gefühl als manche.    

„Ich hatte genauso wenig Ahnung wie alle anderen auch, aber vielleicht ein etwas unguteres Gefühl als manche.“

Lea Weinmann

Sie haben schon während ihres Studiums Arbeitserfahrungen gesammelt, unter anderem waren Sie beim Correctiv im Faktencheck Team. Hat Sie der Datenjournalismus schon immer interessiert? 

Ja. Das erste Mal, dass ich mit Datenjournalismus zu tun hatte, war im vierten Semester an der HdM. Danach hat mich das echt nicht mehr wirklich losgelassen. Bei Correctiv kam dann der Faktencheck Fokus. Das hat sich dann aufgebaut zu dem, was ich jetzt mache.  

Sie sind CR-Absolventin im Jahr 2020. Haben Sie irgendwelche Tipps für CR-Studierende, die in Richtung Politikjournalismus oder auch Datenjournalismus gehen möchten? 

Der wichtigste Tipp ist, dass man neben dem Studium neugierig bleibt. Wenn man Lust auf etwas hat, sollte man keine Scheu haben, sich nebenbei etwas anzueignen. Es gibt gerade im Bereich Open-Source, der ein sehr junger journalistischer Bereich ist, sehr viele Chancen für junge Journalisten. Das ist keine Rocket Science. Man kann sich da austoben und sich rantasten. 

Was sind denn sonst noch Themen und Skills, in denen man sich als junge*r Journalist*in fit machen kann? 

Mir hat extrem geholfen, dass ich über sämtliche Kanäle hinweg meine Erfahrung sammeln konnte. Ich konnte mich vor die Kamera stellen und unsere Recherche im Video erzählen. Wenn es hätte sein müssen, hätte ich auch das Video schneiden können. Musste ich aber nicht (lacht). Das sind Dinge, die sehr große Türöffner für mich waren. Breit aufgestellt zu sein, ist sehr, sehr viel wert. Gerade das macht uns als HdM- Absolvent*innen echt aus.