Flüchtlinge

Unser Boot ist nicht voll

Die Stadt Rottenburg am Neckar engagiert sich für eine schnellere Flüchtlingsaufnahme. (Symbolbild)
20. Dez. 2020
Allein im Jahr 2020 starben bisher 994 geflüchtete Menschen laut der International Organization for Migration im Mittelmeer. 83 deutsche Kommunen wollen nun selbst handeln und Geflüchteten einen sicheren Hafen bieten.

Obwohl die Zahl der Toten auf dem Mittelmeer seit 2016 jährlich sinkt, ist ein Ende des Sterbens weiterhin nicht absehbar. „Es kann ja wohl nicht europäischer Standard sein, dass man solche Todeszahlen einfach in Kauf nimmt. Das darf nicht die Politik in Europa sein, das darf auch nicht die Politik der Deutschen sein“, erklärt Stephan Neher (CDU), der Oberbürgermeister der Stadt Rottenburg am Neckar. Deshalb gründete er mit elf weiteren deutschen Städten auf einem Kongress der Organisation Seebrücke am 14. Juni 2019 das Bündnis „Städte Sicherer Häfen“. Mittlerweile zählt das Bündnis 83 Mitglieder.

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Die roten Markierungen zeigen die Gründungsmitglieder, während die gelb markierten Kommunen später hinzukamen. | Quelle: Google Maps

Durch ihren Zusammenschluss möchten sich die Kommunen und Landkreise mehr Gehör auf der Bühne der „großen Politik“ verschaffen, als sie es einzeln könnten. Denn entgegen der Auffassung des Bundes, mehr Flüchtlinge würden die Kommunen überlasten, haben sie ein Ziel: Sie wollen mehr aus Seenot gerettete Menschen aufnehmen. Auch über die Zahl an Geflüchteten hinaus, die ihnen durch die Verteilungsquote zugewiesen werden. Sie hätten genug Kapazitäten, um dieser Notsituation entgegenzuwirken, betont Stephan Neher. Dazu fordern die Kommunen zusätzlich zum aktuellen Verteilungsschlüssel eine neue Quote, die die aufnahmebereiten Städte und Gemeinden berücksichtigt.

Einige Bündnispartner, darunter auch Berlin, gehen sogar einen Schritt weiter: Sie möchten geflüchtete Menschen selbstbestimmt kommunal aufnehmen, um noch schneller auf Notsituationen reagieren zu können. Rechtlich ist das allerdings momentan nicht möglich. Dazu bräuchte es Gesetzesänderungen auf Bundesebene, denn bisher entscheidet der Bund, ob und wie viele Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden.

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Die Stadt Rottenburg hält kommunale Aufnahme nicht für den richtigen Weg. Stephan Neher befürchtet, es könnte eine Art „Rosinenpickerei“ entstehen, bei der bevorzugt qualifizierte, gut gebildete junge Menschen aufgenommen werden. Er möchte lieber politischen Druck aufbauen, um gemeinsam mit dem Bund und den Ländern beispielsweise Kontingentlösungen zu finden. Von diesen Menschen wolle er dann einen größeren Anteil aufnehmen. Außerdem betont er, dass auch sie ein normales Asylverfahren durchlaufen müssten. Es sei unverständlich und schade, dass der Bund das Bündnis und seine Hilfsbereitschaft zwar begrüßt und lobt, er das Angebot aber nicht annimmt und weiterhin auf eine europäische Lösung wartet.

Auch der Bund sieht eine kommunale Aufnahme kritisch. Michael Kuffer, Bundestagsabgeordneter der CDU/CSU, führt in einer Bundestagsrede beispielsweise an, dass die Geflüchteten womöglich nicht in den aufnahmebereiten Kommunen bleiben würden, sondern sich auch auf andere Gemeinden verteilen könnten. Zudem sei eine mögliche Abschiebung wieder Aufgabe des Bundes, der dann auch die Kosten tragen würde.

Stephan Neher und Elke Seelmann wollen den Menschen ein sicheres Ankommen in Rottenburg bieten.

Elke Seelmann engagiert sich seit 2015 ehrenamtlich für Geflüchtete in Rottenburg. Sie unterstützte junge Männer aus Gambia beim Deutschlernen, begleitete sie bei Behördengängen und half bei der Suche nach Jobs oder Praktika. Sie sammelte viele Erfahrungen, gab sie an andere weiter und baute so ein ganzes Netzwerk aus Unterstützer*innen in Rottenburg auf. Drei der jungen Männer nahm Familie Seelmann sogar bei sich zuhause auf, nachdem die Flüchtlingsunterkunft in Rottenburg wegen eines Brandes nicht mehr bewohnbar war. „Es war eine sehr, sehr bunte Zeit, nervenaufreibend, abenteuerlich.“

Mehr Menschen in Rottenburg aufzunehmen, hält sie für absolut machbar. Allerdings wünscht sie sich seitens der Politik mehr Unterstützung für Ehrenamtliche. Mehr Fortbildungen, aber auch einfachere Ämtergänge und weniger Bürokratie würden mehr Menschen dazu motivieren zu helfen. Denn schlussendlich kann Integration nur dann funktionieren, wenn sie von vielen Menschen im Alltag unterstützt wird und die Ankommenden im täglichen Umgang lernen, wie das Leben in Deutschland funktioniert.