Flüchtlingshilfe in Sachsen

Eine Stadt mit vielen Gesichtern

Karl-Marx-Monument in der Chemnitzer Innenstadt.
18. Mai 2019

Seit der Flüchtlingswelle 2015 steht Sachsen in den Medien immer wieder in der Kritik. Vor allem Chemnitz ist für viele die Stadt des Rechtsextremismus in Deutschland. Das es auch anders geht, zeigt der AGIUA e. V. in Chemnitz. Eine Stadt zwischen Rassismus und Integration.

Ein wenig unscheinbar steht das Schild mit dem Aufdruck „AGIUA e.V.“ mitten in einer der typischen Plattenbausiedlungen in Chemnitz. Genau hier, im Haus der Kulturen, treffen heute wie jeden Freitag Menschen unterschiedlichsten Alters und Nationalität aufeinander. Die Idee: bei Kaffee und Kuchen zueinanderfinden, Vorurteile aufbrechen, der Ausgrenzung entgegenwirken und – ganz nebenbei – Deutsch lernen. 


Stimmengewirr und lautes Lachen füllen den kahlen Raum. Kurden, Pakistani, Iraner, Iraker, Afghanen – sie alle sitzen zusammen und tauschen sich aus. Über ihre Kulturen und Traditionen, über die Sorgen und Freuden des Alltags. Zwischen den zwölf Migranten sitzen sechs Deutsche. Mit dabei sind Vanessa, eine Studentin und Frau Georges, eine Rentnerin. Sie alle sind regelmäßig Gast des Sprach-Cafés, um den Migranten ein offenes Ohr zu schenken. Und zu erzählen gibt es hier viel. Dass es dabei ab und zu die ein oder andere Sprachbarriere gibt, stört hier niemanden. „Viel Spaß, viel Spaß“meint Manan Jafar, der regelmäßig herkommt. Es ist ein Ort, der die Menschen zusammenbringt, wo niemand das Gefühl haben muss, nicht dazu zu gehören. Und das nicht nur beim Sprach-Café, denn das Haus der Kulturen ist nur eines von vielen Projekten des AGIUA e. V. in Chemnitz. 

„Die Gemeinschaft spielt in unserem Verein eine große Rolle, denn alle unsere Projekte ergänzen sich sehr gut miteinander“, meint Rola Saleh, die seit 2011 als Sozialarbeiterin hauptamtlich für den Verein arbeitet. Neben der Begegnungsstätte wird Asylbewerbern unter anderem ein Interkulturelles Beratungszentrum, der Jugendclub Pavillon, Interkulturelles Lernen, ein Ehrenamtler- und ein Sprachmittlerpool angeboten. 


Der Verein AGIUA - die Arbeitsgemeinschaft In- und Ausländer e. V. möchte durch die verschiedenen Projekte jedem Menschen, völlig unabhängig von Nationalität, Religion oder Geschlecht die Möglichkeit geben, gleichberechtigt am Leben teilzuhaben. Im miteinander Erleben und gemeinsamen Tun können so Vorurteile abgebaut und dabei die Verschiedenartigkeit als Bereicherung wahrgenommen werden.

Ahmad Mahmond und Manan Jafar (von links) im Haus der Kulturen in Chemnitz.

Mehr Berufung als Beruf

„Für mich ist das nicht einfach nur Arbeit“, erklärt Rola entschlossen. „Es ist eine Herzensangelegenheit. Sonst kann man das hier nicht lange mitmachen. Man erfährt Geschichten und Schicksalsschläge, die man so schnell nicht wieder loswird.“ Auch Rolas Leben ist eine dieser Geschichten. 2001 floh sie aus dem Libanon und kam als Asylsuchende nach Chemnitz – wo sie bis heute wohnt. In der Stadt ist sie schon längst ein bekanntes Gesicht. Wenn sie durch die Innenstadt laufe, kämen immer Leute zu ihr, die eine Frage oder ein Anliegen hätten, erzählt sie lächelnd. Man müsse lernen, Grenzen zu setzen, so sehr die Arbeit sie auch erfülle. „Besonders wenn man selbst Migrant ist. Sonst denkt der andere Migrant immer: du bist einer von uns, du musst besonders auf meine Bedürfnisse achten.“ Dass die Arbeit an den Nerven zehrt, gibt sie offen zu. „Ja, ich habe schon ans Aufhören gedacht, weil diese Arbeit sehr stressig ist, auch wenn ich sie so mag.“ Doch es ist nicht nur die Arbeit innerhalb der Projekte, die Mitarbeitern und engagierten viel Energie abverlangt. Es ist vor allem der nicht enden wollende Rassismus, den die Stadt nicht loszuwerden scheint. Laut Website der Stadt Chemnitz liegt der Anteil an Personen mit asylbezogenem Zuwanderungshintergrund bei 2,6 Prozent. Trotz des verhältnismäßig niedrigen Anteils ist die Stadt weiterhin ein Brennpunkt für Rechtsradikalismus. Bei den letzten Bundestagswahlen im Jahr 2017 bekam die AfD in Chemnitz 24,3 Prozent der Zweitstimmen. Eine Partei, die nicht gerade für ihre flüchtlingswillkommene Politik bekannt ist. Für Rola Saleh unbegreiflich. „Ich bin am Tag nach den Wahlen auf die Straße gegangen. Immer, wenn ich eine Gruppe von vier bis fünf Menschen gesehen habe, dachte ich: einer von euch hasst mich“, erzählt sie verbittert. Besonders nach den Übergriffen auf Flüchtlinge im August 2018 herrschte Fassungslosigkeit. Von der Politik fühle man sich alleine gelassen.

„Diese hochumjubelte Flüchtlingspolitik von 2015 wird jetzt kriminalisiert.“

Rola Saleh

Immer wieder seien neue Asylpakete verabschiedet worden, die die Integration erschweren würden. „Die ganzen Gesetze, die rausgekommen sind, haben uns wieder 30 Jahre zurückgeworfen. Man möchte wieder zu den Sachleistungen zurück, kein Bargeld, die Residenzpflicht wieder einführen.“ Die Sozialarbeiterin schüttelt den Kopf. „Was will die Politik eigentlich?“ 


Doch dann sitzt Rola da und schmunzelt. „Uns hat Herr Seehofer die Anti-Abschiebe Industrie genannt und ich sage ihm einfach dazu: Ja, die sind wir!“ Sie lacht. „Und wir sind stolz darauf!“
Ihr Standpunkt ist klar. Sie wünscht sich eine humanitäre Flüchtlingspolitik. Menschen seien nicht nach Nutzen und Nichtnutzen zu sortieren. Sie wünscht sich, dass Menschen, die jahrelang in Deutschland leben, einen Aufenthaltsstatus bekommen. „Wir haben über 200.000 Menschen, die eine Duldung haben. Ein Drittel davon sind Jugendliche und Kinder, die hier geboren und aufgewachsen sind. Sie kennen ihr Heimatland nicht, sprechen vielleicht nicht einmal die Sprache und dann erwartet man, dass sie hier weggehen?“ Unverständnis macht sich in ihrem Gesicht breit.

Suad Alfurijat, die Sozialarbeiterin Rola Saleh und Zaineb Salim Saleh (von links) vor dem Haus der Kulturen.

Eine gespaltene Gesellschaft

Trotzdem würde man immer wieder auf diese Einstellung stoßen, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Stadt mit den Menschen. Auf die Frage hin, ob man häufig mit rassistischen Aussagen konfrontiert wird, meint Ahmad Mahmond: „Wenn ich manchmal nach Hause komme und meine Nachbarn sehe, sage ich Hallo. Oft kommt kein Hallo zurück, ich weiß nicht warum.“ „Vielleicht haben sie ja einfach vergessen, ihre Hörgeräte mitzunehmen?“, fragt Moldazhan Kurpebayer lachend zurück. Schulterzucken und schmunzelnde Gesichter in der Runde. Doch den Rassismus wegscherzen? So einfach ist es leider nicht. Rola kennt viele Migranten, die weggehen. Nicht nur aus Chemnitz, sondern aus ganz Sachsen. „Viele Migranten fühlen sich hier so, dass keiner da ist, der sie schützt“, macht Rola klar. Dass Sachsen bei der Zahl der rechten Übergriffe bundesweit weit vorn liegt, ist kein Geheimnis. „Die Arbeit hier in Chemnitz ist nicht schwieriger, aber vielleicht gefährlicher“, verdeutlicht die Sozialarbeiterin. Nach den Ereignissen denke man viel über Sicherheitsmaßnahmen nach. Pöbeleien und Komplikationen mit Rechtsextremen gab es im Verein jedoch noch nie. Vielmehr seien es Situationen, in denen die Migranten außerhalb des Vereins unterwegs wären. Und die Zahlen sprechen für sich. Laut der Opferberatung Support des RAA Sachsen wurden allein im letzten Jahr 79 Angriffe auf Migranten verzeichnet, fast viermal so viele wie 2017. „Ich habe keine Idee, wie man sich wappnen soll gegen sowas“, äußert Rola resigniert. 

Auf den zweiten Blick

Der Rassismus scheint Chemnitz nicht loslassen zu wollen. Aber er ist auch nicht alles. „Es gibt sehr viele Menschen, die wegschauen, die sagen, es interessiere sie nicht oder habe nichts mit ihnen zu tun – und diese Mentalität stört mich.“ Rola hält kurz inne. „Trotzdem gibt es hier viele Deutsche, die sich für die Geflüchteten engagieren, die nicht wegschauen, wenn jemand angepöbelt wird.“ Der Verein mitten in der Chemnitzer Innenstadt ist dafür der beste Beweis. Dass die Stadt mehr ist als das, was viele von ihr denken. Und dass es sich lohnt, weiter zu machen. Für alle Menschen, ganz egal welcher Herkunft, Religion oder welchem Geschlecht. „Wir sind als erstes Menschen und die Menschenrechte sind universell.“

Michelle Nastins, Alaloush Mahmond, Vanessa Carl und Ibrahim Alissa (von links) im Sprach-Café in Chemnitz.