Kriminaloberkommissar Jonas Gruber

"Verbrechen findet nicht immer in einer Parallelwelt statt"

Kriminaloberkommissar Jonas Gruber in seinem Büro | Bild: Jonas Gruber
05. Aug. 2020

Jonas Gruber arbeitet als Kriminalpolizist bei dem Dezernat für Rauschgift- und Arzneimittelkriminalität in Stuttgart. Ein Gespräch über eine sorgenfreie Kindheit, nicht begreifbare Parallelwelten und Mitgefühl für Straftäter.

Jonas, durch deinen Beruf tauchst du täglich in eine fremde Welt ein. Diese Menschen leben in einer Art Parallelgesellschaft, mit anderen Werten und einer eigenen Kultur. Wie begreift man so etwas?  

Das ist eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Nur weil jemand aufgrund verschiedener Startbedingungen in seinem Leben, auf eine schiefe Bahn geraten ist, ist er kein schlechterer Mensch wie ich. Derjenige, der mir gegenüber steht, auch wenn er mit Rauschgift handelt oder sich das Crack reinpfeift, ist aufgrund der Umstände in seinem Leben kriminell geworden. Mit dieser Sache muss ich mich als Polizist auseinandersetzen und konfrontieren. Ich versuche das in meine Arbeit einfließen zu lassen und die Menschen auch so zu behandeln. Wobei das in meinem Dezernat mit Sicherheit etwas leichter fällt als zum Beispiel bei den Kollegen in dem Dezernat für Sexualdelikte.  

Du hast deine Kindheit auf einem Bauernhof in der Nähe von Stuttgart verbracht. Wie sind deine Erinnerungen an diese Zeit?

Durchweg positiv. Das Trampolin, die Mahlzeiten mit der Familie, Fußball spielen auf dem Hof. Das war eine schöne Zeit. 

Eine sorgenfreie Kindheit. 

Ich neige dazu zu sagen, dass eigentlich alles recht unbeschwert war. 

Würden deine Eltern diese Aussage unterstreichen? 

Nicht unbedingt. Ich war ein verhaltensauffälliges Kind und hatte immer wieder Probleme mit Lehrern und Mitschülern. In der zehnten Klasse, war ich kurz davor meinen Abschluss in den Sand zu setzen. 

Diese Entscheidung war ein großer Wendepunkt in meinem Leben.

Jonas Gruber

Und wärst womöglich nie bei der Polizei gelandet?  

Vor den Prüfungen hat mein damaliger Rektor gemeinsam mit meinen Eltern entschieden, dass ich die Klasse wiederholen werde. Im darauffolgenden Jahr war ich Jahrgangsbester in Mathematik und konnte später mein Abitur abschließen. Diese Entscheidung war ein großer Wendepunkt in meinem Leben, ich wäre sonst mit einem schlechten Notendurchschnitt womöglich in eine Berufsausbildung gegangen, die mir wahrscheinlich wenig Spaß gemacht hätte.

Wie war dein erster Kontakt mit der Polizei?

Wir haben im Urlaub auf einem Campingplatz mit anderen Kindern gespielt und der Vater war Polizist. Seine Zufriedenheit und positive Ausstrahlung waren für mich sehr eindrucksvoll. 

Gab es auch unangenehmere Begegnungen?

Das waren Momente, in denen ich wusste, „da hast du jetzt mal richtig verkackt“, aber die Polizei ist nie ungerecht mit mir umgegangen. Jede Erfahrung war fair und nachvollziehbar. Das hat mein Bild von der Polizei sehr stark geprägt. 

Wann war der Moment als du dich entschieden hast Polizist zu werden?

Ich bin nie durch die Schule gelaufen und habe jedem erzählt, ich will eines Tages Polizist werden. Die tatsächliche Entscheidung kam sehr spontan bei einer Werbeveranstaltung der Polizei. Die Ausbildung hat so viel Spaß versprochen, da habe ich mir gesagt „das machst jetzt einfach“.  

Was hat dich in der Zeit der Ausbildung besonders geprägt? 

Ich habe sehr vieles mitnehmen können. Vor allem bewusst zu handeln und immer Herr seiner Sinne zu sein.  

Ist man sich als Polizeibeamter bewusst, sein Leben zu riskieren?

Ja. Mit diesem Thema wird man offensiv konfrontiert und das ist auch richtig so. Auch meine Mutter hält mir das immer wieder vor. 

Was heißt offensiv konfrontiert? 

Während der Grundausbildung hat uns ein Dozent erzählt, wie bei einer Verfolgungsjagd seinem Kollegen ins Gesicht geschossen wurde. Da bleibt einem der Atem weg. 

Wie war das Gefühl, zum ersten Mal eine Waffe in der Hand zu halten? 

Sofort wenn du das Ding in der Hand hast, merkst du: Das ist kein normaler Gegenstand. Ich hatte von Anfang an sehr großen Respekt davor.  

Das heißt, deine Haltung zu diesem Thema hat sich seit Beginn deiner Berufslaufbahn nicht verändert?

Zu Beginn war das ein Gefühl der Überlegenheit. „Ich habe eine Waffe, du kannst mir nichts.“ Das ist ein gewisses Machtverhältnis und eine menschliche Schwäche. Damit muss man lernen umzugehen. Der Respekt davor ist immer gleichgeblieben.

Waffenbesitz ist ein heikles Thema. Auch bei der Polizei?

Die Polizei schafft eine Kultur, in der jeder über alles reden darf. Das ist gerade am Anfang der Berufskarriere extrem wichtig. Die Verantwortung, mit einem Gegenstand umzugehen, der mich auf der einen Seite schützt und gleichzeitig Leid über einen Menschen bringen kann, hat mich sehr reifen lassen.    

Im Laufe deiner Ausbildung hast du dich entschieden, deine Berufslaufbahn bei der Kriminalinspektion für Computerkriminalität zu beginnen. Warum?  

Technik hat mich von klein auf begeistert. In meiner Jugend habe ich Tage damit verbracht, in Videospielen irgendwelche Cheats zu knacken (lacht). Das Thema Computerkriminalität fand ich sehr interessant und ich dachte, ich kann dort meine Affinität gut einsetzen. 

Du sprichst im Konjunktiv. 

In der Nachbetrachtung trügt einen mit Sicherheit die subjektive Einstellung zu dem Thema Computerkriminalität. Ich habe damals die Möglichkeiten der polizeilichen Ermittlungen überschätzt und wurde auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.  

Eine enttäuschende Zeit für dich? 

Nicht unbedingt. Ich habe viel gelernt und viel rausholen können. Dennoch ist meiner Meinung nach dieses Thema als Strafverfolgungsbehörde sehr schwierig zu fassen.

Liegt das am Datenschutz? 

Damit würden wir es uns zu einfach machen. Das Problem mit Ermittlungen im Internet ist, es gibt ein ganz oder gar nicht. Für mich stellt sich dabei immer die Frage: "Wie viel Kontrolle braucht der Staat und in wie weit könnte diese Kontrolle die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen gefährden“. Das ist in einer demokratischen Gesellschaft ein großer Konflikt. 

Sind Straftäter der Polizei aufgrund der Technisierung und Globalisierung einen Schritt voraus?

Das würde ich nicht unterstreichen. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, um beispielsweise Druck auf die Betreiber von illegalen Webseiten auszuüben. 

Und das hilft nicht?

Selbst, wenn du den Täter hast, kann der beispielsweise in Russland sitzen. Da kannst du so viele Mails und so viele offizielle Schreiben des Auswärtigen Amts hinschicken lassen, wenn die in Russland kein Bock haben, dann passiert nichts. Und so ist es halt leider oft.

Ein politisches Problem?

Ja. Solche Ermittlungsverfahren sind mit einem extremen Aufwand verbunden. Das wird dann vom Landes - oder Bundeskriminalamt übernommen.

Ein ständiger Zwiespalt zwischen Datenschutz und Informationsfreiheit. 

Das muss man differenziert betrachten. Wenn wir die Gefahr eingehen, dass jeder kontrollierbar und manipulierbar ist, dann ist das eine weitaus größere Gefahr als die Straftaten, die durch das Internet ausgelöst werden. 

Für Jonas ist sein Beruf eine Lebenserfüllung | Bild: Jonas Gruber

Das klingt nach Selbstaufgabe? 

Das mag sein. Da steckt bei mir aber auch Frust dahinter. Es fehlt mir oft an Geduld, um auf rechtliche Änderungen zu warten. Bei solchen Entscheidungen hat selbst die Bundesregierung Schwierigkeiten einzuwirken.

Die Polizei muss doch Mittel haben, diese Straftaten zu verhindern?

Der effektivste Ermittlungspunkt bei Rauschgiftdelikten über das Internet ist der Postweg. Das heißt, die Drogen nach der Versendung sicher zu stellen. Doch aufgrund des Umstandes, dass man von hieraus jeden Punkt auf der Welt erreichen kann, können Straftäter auch von überall auf der Welt handeln. Das ist sehr schwierig zu begreifen.

Und dann fehlen die persönlichen Erfolgserlebnisse?

Ja. Und auch die Frage nach dem Sinn wurde für mich nicht mehr ausreichend beantwortet. Dann habe ich mich umgesehen und entschieden, in das Dezernat für Rauschgift- und Arzneimittelkriminalität zu wechseln. 

Wurde dir dort die Frage nach dem Sinn beantwortet?

Ich sehe einen klaren Sinn dahinter, Heroin- oder Kokainhändler, die auf der Straße Menschen verarmen lassen und kaputt machen, hinter Gitter zu bringen. Das ist für mich ein großer Ansporn. 

Was hat dich in deiner Entscheidung bestärkt? 

Für mich war die Art der Ermittlungen sehr wichtig. Die sind hier sehr vielseitig. Vernehmungen, Wohnungsdurchsuchungen, Telekommunikationsüberwachungen, Observationen, Lauschangriffe. Ich weiß, dass wir 98 Prozent der Drogenkriminalität wahrscheinlich nicht aufdecken, aber wir geben den Straftätern das Gefühl, dass sie nicht schalten und walten können, wie sie wollen.

Was ist ein Lauschangriff?

Das Verbauen von Wanzen.

Wie muss man sich das vorstellen, jemand ist außer Haus und die Spezialeinheit steigt in die Wohnung ein?

Einen derart großen Lauschangriff gibt es so gut wie nie. Das ist ein extrem hoher Aufwand und eine enorme rechtliche Hürde.     

Du sagst 98 Prozent der Drogendelikte werden nicht aufgedeckt. Das klingt sehr deprimierend. 

Würde ich meinen beruflichen Erfolg an der Bekämpfung und Verdrängung der Rauschgiftkriminalität festmachen, dann wäre das mit Sicherheit deprimierend.  

Ist es nicht skurril, bei einer Telekommunikationsüberwachung derart intime Gespräche eines Fremden abzuhören?

Ja, das ist manchmal komisch. Wenn die Frau erzählt, dass sie ein Kind erwartet und ich in dem Moment weiß, derjenige wird zum Zeitpunkt der Geburt im Gefängnis sitzen, rutscht einem das Herz auch mal in die Hose.

Zu Beginn unseres Gesprächs haben wir über eine Parallelwelt gesprochen. Wird diese Welt im Laufe der Berufslaufbahn irgendwann zur Normalität?

Dazu muss man sagen, dass man zwar Einblicke in diese Welt bekommt, sie aber nie erfassen wird. Ich kann einen Menschen nicht aufgrund seiner Herkunft oder Religion verurteilen und dieses Urteil auf andere Menschen übertragen. Das funktioniert nicht. Ich muss jeden Fall einzeln betrachten. Verbrechen findet nicht immer in dieser Parallelwelt statt.

Ich kann einen Menschen nicht aufgrund seiner Herkunft oder Religion verurteilen und dieses Urteil auf andere Menschen übertragen.

 

Jonas Gruber über die Herkunft von Straftätern

Sondern?

Das sind oft Menschen mit ganz normalen Familienbildern. Verheiratet, Kind, Beruf, alles normal. Aber sie handeln zusätzlich mit Drogen. Diese Straftäter versuchen den Staat auszunutzen. Da sag ich mir dann ganz klar, da will ich mit der vollen Härte des Gesetzes rein. 

Empfindet man für diese Menschen so etwas wie Mitleid? 

Wir müssen als Gesellschaft funktionieren und da geht das einfach nicht. Aber klar, vor allem für die Familien empfindet man definitiv so etwas wie Mitleid. 

Die Zahl der Drogendelikte steigt jährlich. Auch in Stuttgart. Ein Zeichen von guter Polizeiarbeit oder ein Fass ohne Boden?

Da kann ich keine eindeutige Antwort darauf geben. Diese Statistiken sollte man mit Vorsicht betrachten. 

Statistiken lügen nie. 

Es gibt verschiedene Auswirkungen auf die Statistik, deren Gewichtung auf die tatsächlichen Zahlen lassen sich nur schwer abschätzen. 

Zum Beispiel?

Die Anzeigebereitschaft der Personen. Beispielsweise die Polizei zu rufen, wenn jemand im Park mit Drogen handelt.  

In Berlin geben sich Drogendealer als Obsthändler aus. Gibt es in Stuttgart Vergleichbares?

Obstverkäufer haben wir hier zum Glück noch nicht gehabt, also zumindest nicht solche, die sich nur als solche tarnen (lacht). In Stuttgart gibt es zurzeit keine offene Rauschgiftszene, das ist wirklich bemerkenswert für eine Großstadt.

Offene Rauschgiftszene?

Es gibt hier keine Plätze, an denen offen mit Drogen gehandelt wird. 

Im letzten Jahr gab es in Deutschland den größten Drogenfund der Geschichte. Dabei wurden 4.5 Tonnen Kokain beschlagnahmt. Steigt die Skrupellosigkeit der Straftäter?

Diese 4.5 Tonnen haben absolut keinen Einfluss auf das Konsumverhalten in Deutschland. Das muss man sich vor Augen führen.

Wahnsinn. 

Es gibt einfach so viele Wege, die Drogen in ein Land einzuschleusen. Ich kenn die Zahlen der täglichen Einfuhr nicht, aber die sind erheblich, das habe ich auch erst realisiert, seitdem ich in dem Dezernat arbeite. 

Du bist vor einigen Wochen in das Dezernat für organisierte Kriminalität versetzt worden, wie kam es dazu?

Der Wechsel kam durch ein aktuelles Verfahren zustande. 

Geht es um Clans oder Arabische Großfamilien?

Das möchte ich nicht beantworten. 

Was bedeutet organisierte Kriminalität?

Das sind Tätergruppierungen, die bei verschiedenen Personen Rauschgift anfordern, Drogen verkaufen, Transporte beauftragen, Menschen zur Bunkerhalterung zwingen. Um diese Strukturen aufzudecken, bedarf es einer starken Ermittlungsintensität. Dafür gibt es das Dezernat für organisierte Kriminalität. 

Das läuft dann bestimmt wie in einem Film, bei dem ein riesiges Netzwerk von Menschen an der Wand hängt. 

Tatsächlich. So ein Bild hängt bei mir im Büro. Und das ist wirklich geil. 

Geil?

Geil im Sinne von faszinierend. Die Straftaten sind das natürlich nicht, aber man hängt den ganzen Tag an dieser Aufgabe, bekommt unterschiedliche Informationen aus verschiedenen Richtungen, lernt verschiedene Wege kennen und muss immer wieder originell sein. Observationen, Zeugenaussagen, polizeiliche Ermittlungen. Das begeistert mich. 

Dadurch hat man oft das große Ganze im Blick und lässt offensichtliche Straftaten bestimmt auch mal geschehen?

Ganz klar. Das ist ein Konflikt. 

Du wirkst in deinem Beruf sehr zufrieden. Wie geht es weiter? 

Irgendwann möchte ich eine Führungsebene erreichen, in der ich für viele Beamte eine Verantwortung übernehme. Ich liebe diesen Beruf und stecke sehr viel Herzblut rein. Für dieses Ziel muss ich noch sehr viel lernen. Dafür braucht es vielleicht wieder einen Wendepunkt in meinem Leben. Allerdings lasse ich dieses Ziel auch nicht zu wichtig werden, sondern konzentriere mich auf meine aktuelle Aufgabe, das steht für mich an erster Stelle.