Handball

Kopfverletzungen: Die unterschätzte Gefahr

Torhüter leiden am häufigsten an Kopfverletzungen
03. Dez. 2021
Kopfverletzungen im Handball? Ja! Gerade Torhüter*innen sind durch Kopftreffer gefährdet. Sie wollen spielen, auch wenn es wehtut. Die Folge können unerkannte Schädel-Hirn-Traumata sein. Die möglichen Folgeschäden bleiben unbedacht.

Der Körper steht unter Hochspannung. Die Gedanken sind fokussiert. Die Augen verfolgen jede Bewegung. Der Ball fliegt. Alles muss blitzschnell gehen. Es gibt keine Zeit die Reaktion zu überdenken. Der Kopf verhindert das Tor. Eine kurze Entschuldigung und es geht weiter. Nikolas Katsigiannis ist Torwart beim Handball Bundesligisten Rhein-Neckar Löwen. Nachdem er einen Kopftreffer erhalten hat, achtet er auf mögliche Symptome einer Gehirnerschütterung. Bemerkt er dann Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel oder Lichtempfindlichkeit, wendet er sich an den Mannschaftsarzt. In den meisten Fällen geht es am nächsten Tag wieder ins Training.

Der 39-jährige Handballer Nikolas Katsigiannis steht seit seiner Kindheit im Handballtor.

Um die spätere Diagnose einer Gehirnerschütterung oder möglichen Schädel-Hirn-Traumatas zu erleichtern, wird Nikolas Katsigiannis am Anfang der Saison getestet. Durch die Vergleichswerte des Saisonbeginns kann der zuständige Mannschaftsarzt feststellen, ob es eine neurologische Verschlechterung des Spielers gibt. Im Oktober 2020 ist Katsigiannis Teil des Kaders der Rhein-Neckar Löwen geworden. Seit dem kam es im Training zu zwei oder drei Kopftreffern. Wie häufig ein Torhüter am Kopf getroffen wird, hänge jedoch von der Qualität der Spieler oder des Trainings ab. So hat Katsigiannis auch schon in Mannschaften gespielt, in denen er zwei bis drei Mal in der Woche oder Monate lang gar nicht am Kopf getroffen wurde.

Da es mehr Trainings- als Spielsituationen gibt, kommt es im Training häufiger zu Kopftreffern. Insgesamt schätzt Katsigiannis das Risiko im Spiel aber höher ein. „Die Schützen des Gegners nehmen auf die Torhüter gar keine Rücksicht”, so der Torhüter. Eine Untersuchung auf eine Gehirnerschütterung findet bei Katsigiannis nicht automatisch statt sobald er in einer Spielsituation getroffen wird. Der Handballer befürwortet das: „Vielleicht nimmt mich der Arzt aus dem Spiel und das würde ich in manchen Situationen nicht bevorzugen”. Anders sieht das Claus Reinsberger von der Universität Paderborn. Er forscht im Bereich Schädel-Hirn-Traumata im Sport. Reinsberger ist der Meinung, dass Spieler solche Situationen oft gar nicht allein einschätzen können, da sie durch das Adrenalin „wie in einem Tunnel” sind. Im Fußball obliegt es seit 2015 „nur dem Mannschaftsarzt” ob ein Spieler nach einem Kopftreffer weiterspielen darf oder nicht. Eine Regel wie diese existiert im Handball bislang nicht.

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Bei einer Gehirnerschütterung gibt es häufig keine offensichtlichen Anzeichen einer Verletzung. Aus diesem Grund werden sie in vielen Fällen unterschätzt. Dabei können die Folgeschäden von Schädel-Hirn-Traumata verheerend sein. Keine Symptome zu zeigen, bedeutet dabei nicht automatisch ungefährlich. „Repetitive head impacts", also kleine Schläge auf den Kopf, können in der Summe zu Veränderungen der Hirnstruktur führen. Besonders Sportler*innen sind davon betroffen. „Wenngleich die Häufigkeit von Schädel-Hirnverletzungen in anderen (Kollisions-) Sportarten höher ist, gehört Handball als Kontaktsportart zu den Risikosportarten", so Reinsberger. American Football ist eine Kollisionsportart. An Football Spielern wurde das erste Mal die chronisch traumatische Enzephalopathie (CTE) diagnostiziert. Durch wiederholte Einschläge auf den Kopf entstandene Schäden im Gehirn führen zu starken Persönlichkeitsveränderungen, Parkinson und anderen psychischen Beeinträchtigungen. Bei der erforderlichen Häufigkeit an „repetitiv head impacts" sind sich Neurologie und Forschung jedoch uneinig. So gibt Oliver Ganslandt, ärztlicher Direktor des Neurozentrums Stuttgart, eine Menge von 885 bis 1800 Kopfbällen vor, die die Wahrscheinlichkeit auf CTE erhöhen. Reinsdorf hingegen sieht keinen kausalen Zusammenhang zwischen Kopfbällen und CTE.

Prävention von Kopfverletzungen

Die sogenannte “Return to Play” Maßnahme sieht eine stufenweise Wiedereingliederung des Sportlers vor und findet Anwendung beim Deutschen Handballbund. Sowie das Concussion Recognition Tool, einer Taschenkarte zum Erkennen und Behandeln von Gehirnerschütterungen.

Um den Spielbetrieb der ersten und zweiten Bundesliga kümmert sich die Handball Bundesliga (HBL). Hierunter fallen auch die Rhein-Neckar Löwen. Laut Patrick Luig vom Deutschen Handballbund gibt es “keinen zentralen Leitfaden seitens der HBL zur Versorgung der Athleten bei Verletzungen aller Art”. Die Rhein-Neckar Löwen konnten darauf keine Auskunft geben und die Handball Bundesliga hat auf wiederholte Anfrage nicht reagiert.

Reinsberger sieht mehrere Punkte, die vorgenommen werden können, um schweren Gehirnerschütterungen vorzubeugen. Insgesamt solle eine zielgruppenspezifische Sensibilierung zum Thema stattfinden. Zudem hält Reinsberger Protokolle zur Erkennung und Behandlung von Kopfverletzungen, die vorgegeben und stetig weiterentwickelt werden, für notwendig. Auch Regeländerungen müssten, sofern sinnvoll, abgewogen werden. Katsigiannis würden Änderungen einfallen, die die Verletzungsgefahr auf seiner Spielposition verringern sollen. Für einen Kopftreffer beim sieben Meter Strafwurf gibt es bereits die Regelung einer roten Karte. Bei einem Treffer aus dem Positionsangriff “wirst du am Kopf getroffen und die Schützen bekommen gar nichts dafür”, beschwert sich Katsigiannis. Eine Regeländerung wie diese hält Reinsberger für sinnvoll. Neben Regeländerungen müsste jedoch auch das Verhalten der Spieler durch Sensibilisierung verändert werden. Eine intensive Schulung zur Behandlung von Schädel-Hirn-Traumata sollte zudem Teil der Trainer*innen Ausbildung in allen Ligen sein. Laut Luig ist dies beim Deutschen Handballbund bereits der Fall. Wiederkehrende Überlegungen zu einem Helm für Torhüter werden sowohl im Handball als auch im Fußball verworfen. Reinsberger nennt hierfür mehrere Gründe. Zum einen spiele der psychologische Faktor eine Rolle. Sobald ein Spieler eine Schutzkleidung trägt, fühle er sich automatisch sicherer als vorher. Dadurch könnten schwerwiegendere Verletzungen entstehen. Zum Anderen sei die Materialforschung noch nicht so weit fortgeschritten. Ein Helm dürfe die Torhüter*innen nicht in der Bewegung einschränken, müssten jedoch trotzdem genug Schutz bieten, um tatsächlich vor einer Gehirnerschütterung zu bewahren. Gerade in den USA sei deshalb die Materialforschung auf diesem Gebiet ein großes Thema.

“Es ist schwer wenn man einen anderen Stil hat, weil die Leute wollen, dass man normal ist.”

Nikolas Katsigiannis

Einen Tipp möchte Katsigiannis an junge Spieler*innen weitergeben, den auch Reinsberger befürworten kann: „Mindestens zwei Mal die Woche ein komplettes Krafttraining, um das Verletzungsrisiko zu minimieren”. Trotz seines, wie er selbst sagt, risikofreudigerem Spielstils hätte dies ihm einige Verletzungen erspart. Der sprungreiche Stil des 1,94 Meter großen Torhüters macht ihn in der Bundesliga so besonders. In seiner Jugend wollte man ihm diesen jedoch abtrainieren. „Es ist schwer, wenn man einen anderen Stil hat, weil die Leute wollen, dass man normal ist”. Jungen Torhüter*innen rät er deshalb, außerhalb „der Box” zu denken und neue Dinge auszuprobieren, um die Schützen zu überraschen.