Leistungssport 6 Minuten

Junges Talent ganz groß

Schwimmhalle
Die Trainingsbahnen vieler Schwimmhallen leeren sich - eine neue Angst vor Leistungssport? | Quelle: Paul Antwerpes
08. Dez. 2023

Sport macht attraktiv – gutes Aussehen, große Bühne und glanzvolle Erfolge steigern das Selbstbewusstsein gerade bei jungen Menschen. Wenn es dann aber um den Leistungssport geht, erreichen viele ihre Grenzen. Hugo Engelien ist da eine Ausnahme. Was treibt ihn an?

Maribor, Slowenien, 24. Juli 2023: Es ist so still, dass man sogar eine Stecknadel fallen hören könnte. Angespannt und bereit für den Hechtsprung steht er da. Der muskulöse Oberkörper wird durch seine gebückte Haltung noch einmal mehr betont. Die Wasseroberfläche ist noch so ruhig, dass sich sein Ebenbild darin spiegelt. Dann ertönt der erste Pfiff. Ein breites Lächeln zieht über sein Gesicht. Denn er weiß: Gleich geht es los, gleich kann er wieder seiner größten Leidenschaft nachgehen. Bei den European Youth Olympic Festivals, also auf der ganz großen Bühne. Der zweite Pfiff und er holt noch einmal Schwung. Die glatte Wasseroberfläche umschließt ihn schnell mit eisiger Kälte, doch das ist ihm ganz recht. Er ist süchtig danach. Er liebt dieses Adrenalin. Für ihn zählt jetzt ohnehin nur noch eines: der Sieg. 

Jeder fängt mal klein an 

Hugo Engelien ist gerade einmal 15 Jahre jung, gilt aber schon jetzt als eines der größten Nachwuchstalente im deutschen Schwimmsport. Mehrfache deutsche Jahrgangstitel und Altersklassenrekorde stehen schon jetzt in seiner Vita, auf seine eigenen Erfolge setzt er regelmäßig noch einen drauf. 2021 stellte er bei den deutschen Jugendmeisterschaften in nur knapp zwei Minuten und 25 Sekunden einen neuen Rekord auf – ganze neun Sekunden betrug der Vorsprung vor seinen Gegnern, die ihn trotz aller Anstrengungen mit Mühe gerade einmal von hinten erahnen konnten. 

Doch das alles kommt nicht von ungefähr. Hugo weiß schon ganz früh, was er will. Im zarten Alter von nur acht Monaten gehen seine Eltern aus Fürsorge mit ihm zum Babyschwimmen – ihnen ist wichtig, dass sich Hugo später einmal in allen Lebenslagen zu helfen weiß. Dabei entsteht eine große Liebe. Hugo hat seitdem im Schwimmbecken sei zweites Zuhause gefunden, sagt er. Zumindest aus sportlicher Sicht. Bis zu 20 Stunden in der Woche verbringt er im Wasser. Das sind etwa drei Stunden pro Tag. Vorbilder braucht Hugo auf diesem Weg keine. "Ich will niemanden nachahmen, ich will mein eigenes Ding durchziehen", sagt er selbstbewusst. 

Für diesen Traum arbeitet er seither kontinuierlich. Dabei immer an seiner Seite steht Trainer Harald Beige. Der 66-Jährige ist eigentlich ausgebildeter Trainer für Behindertensport. Er erkannte das Talent in dem kleinen Jungen und begann, ihn zu trainieren. Daraus resultierte die erfolgreiche Zusammenarbeit, bei der Hugo von Harald Beige zur neuen deutschen Nachwuchshoffnung im Schwimmsport geformt wurde. Mit großem Stolz präsentiert Beige bis heute immer wieder die Erfolge seines Schützlings – jedoch sieht er seinen Anteil an Hugos Erfolg eher gering. Das Talent und den Willen würde der Sportler schon selbst mitbringen, der Trainer habe lediglich die Aufgabe, das Maximum aus ihm herauszukitzeln. 


 

Hugo und sein Trainer
Harald Beige und Hugo sind seit Jahren ein erfolgreiches Team
Quelle: Privat

Coaching braucht Gespür 

Das Maximum herauskitzeln –  das geht nicht immer nur mit Samthandschuhen. Wer Hugo und seinen Trainer bei der Arbeit beobachtet, der merkt: Hier kriegt niemand etwas geschenkt. Wenn Hugo einen Fehler macht, spricht sein Trainer es sofort an – und zwar laut und deutlich. In den letzten Jahren ist der Ton zwischen den beiden rauer geworden. Harald Beige gibt ihm immer wieder strenge Anweisungen, Hugo führt sie ohne Wenn und Aber aus. Von nichts kommt nichts, sagt Hugo selbst. Deshalb ist er dankbar dafür, dass sein Trainer ihn herausfordert und  nicht nur lobt. 

Hartes Training – das kann fördernd ein, muss es aber nicht. Der ehemalige Leistungssportler Christian Matthai ist heute Psychologe und als Berater für den deutschen Sportbund tätig. In dieser Funktion beschäftigt er sich speziell mit der Förderung von Nachwuchs. Er warnt davor, das Training allzu streng oder fordernd zu gestalten, da dies gerade bei Jugendlichen fatale Folgen nach sich ziehen könnte: „Wenn man einen Jugendlichen bestraft oder ihm in übertriebener Weise die Anerkennung entzieht, wird ganz automatisch die Wahrscheinlichkeit größer, dass er Hemmungen entwickelt, die am Ende auch guten Leistungen im Weg stehen.".

Solche destruktiven Verhaltensweisen von Trainern seien zum Beispiel nervöses Herumlaufen und hektisches Gestikulieren. Auch die sogenannte "Dialogsperre", das Nicht-Eingehen auf die Bedürfnisse des Gegenübers nach misslungenen Leistungen, kommt häufiger zum Einsatz. Ewige Diskussionen über Fehler seien zwar nicht zielführend, denn das führe eher nur zu einer gewissen Ratlosigkeit des Sportlers in Problemsituationen. Jedoch müsse man einen gesunden Mix aus Härte und Hilfestellung finden, denn nur so könne man den Sportler durch Fordern fördern. 

„Man muss beim Training einen gesunden Mix aus Härte und Hilfestellung finden, denn nur so kann man den Sportler durch Fordern fördern.“ 

Dr. Christian Matthai, heute promovierter Psychologe

Genau diesen Mix scheinen Hugo und sein Trainer gefunden zu haben. Außerhalb des Schwimmbeckens herrscht Harmonie zwischen den beiden, im Wasser sind beide wieder fokussiert. Harald Beige gibt die Anweisungen, Hugo setzt sie um. Wie ein Uhrwerk – Der eine kann ohne den anderen nicht funktionieren, aber zusammen sind sie unschlagbar. "Wir sind ein tolles Team und werden es hoffentlich noch lange bleiben", sagt Hugo stolz über das Verhältnis zu seinem Coach.

Woran es hakt 

Dass Hugo und Harald Beige mit ihrer erfolgreichen Zusammenarbeit eher eine Ausnahme als die Regel darstellen, beweist ein Blick auf die Statistik: Ganze 75 Prozent der Jungen unter 15 Jahren steigen laut deutschem Sportbund innerhalb der ersten 5 Trainingsjahre aus, bei den Mädchen sind es gar ganze 90 Prozent. Dr. Christian Matthai sieht das Problem weniger im Stress, der durch den Sport für die Jugendlichen  entsteht. „Der Giftcocktail für viele junge Menschen mixt sich aus den gestiegenen Erwartungen, Zeitdruck und stetig sinkender Stresstoleranz seitens der Jugendlichen.”

Auch aus medizinischer Sicht seien junge Menschen im Leistungssport mit Schwierigkeiten konfrontiert: Nachwuchsathlet*innen würden viel zu früh auf eine bestimmte Sportrichtung spezialisiert. So werde eine ausgeprägte Entdeckung der eigenen Fähigkeiten blockiert. Generell passe man auch das Training zu selten an das tatsächliche biologische Alter an. Das steigere das Risiko für Verletzungen, die im schlimmsten Fall eine ganze Karriere beenden können. bevor sie überhaupt angefangen hat. 

Laut Christian Matthai achten junge Sportler viel zu wenig auf ihre Ernährung. Dies kann fatale Folgen haben, gerade in jungem Alter. In dieser Phase würden viele Grundsteine für das weitere Leben gelegt. "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr", sagt Matthai und betont, dass gerade im Jugendalter Wissen über richtige Ernährung wichtig wäre. Diese sei immerhin ein elementarer Baustein für die körperliche Fitness, die in allen Lebensbereichen wichtig ist, auch im alltäglichen Leben der jungen Sportler*innen. 

Hugo gestaltet seine Ernährung ganz ohne Verbote. Er achtet zwar darauf, nicht zu viel oder zu wenig zu essen, doch er schreibt sich nichts vor. Auch an anderen Stellen seines alltäglichen Lebens ist er sich nicht zu schade, Freizeiteinbußen in Kauf zu nehmen. Die Noten des 15-Jährigen blieben in seinem Streben nach sportlichem Erfolg konstant, er schaffte trotz erheblicher Belastung einen Notendurchnitt von 1,7. Mathe-Formeln auswendig lernen und Gedichte interpretieren - das alles bringt Hugo auf seinem Weg in den Sportler-Olymp unter einen Hut. "Einen privaten Hugo gibt es eigentlich gar nicht", beschreibt Hugo seinen Alltag. Sein Fokus lag schon immer voll auf dem Training, auch wenn es hart ist und manchmal wehtut. 

Hugo kennt diesen Schmerz nicht. Für ihn ist das Schwimmen mehr als nur ein Sport. Es ist ein ganz besonderer Tanz mit dem Wasser. Um dieses Gefühl zu erleben, macht er alles. Sogar aus seinem geliebten Zuhause in Eisenhüttenstadt an der polnischen Grenze zieht er weg. Obwohl ihm dieser Ort viel bedeutet. „Eisenhüttenstadt ist meine Heimat, hier habe ich meine ersten Bahnen gezogen und hier werde ich hoffentlich auch meine letzten Bahnen ziehen“, malt er sich träumerisch aus. Das dortige Inselbad, in das er bis heute ab und zu zurückkehrt, benannte sogar das eigene Maskottchen nach dem erfolgreichen Nachwuchsschwimmer. Um seine Fähigkeiten optimal zu fördern und den Fokus auf die Entwicklung seiner Karriere zu legen, zog er jedoch erstmal einige 100 Kilometer weiter in ein Sportinternat in Magdeburg. 


 

Dort hat Hugo alles, was er braucht. Neben unzähligen modernen Fitnessgeräten und einer großen Schwimmhalle stehen Hugo dort viele Fachleute rund um die Uhr mit Rat und Tat zur Seite. Nicht nur auf rein sportlicher Ebene, auch die Psychologie spielt eine große Rolle. Denn ohne klaren Kopf gibt es nur selten sportlichen Erfolg, davon ist auch Hugo überzeugt. Die Kosten für das Internat zahlen er und seine Eltern selbst. Aber er sieht das nicht als Problem. Ihm ist auf dem Weg nach oben alles recht. 

Man muss ein großes Opfer bringen

Hugo selbst sieht in der Aussicht auf ein Sportinternat auch eine potentielle Abschreckung, aber auch eine Chance für viele junger Nachwuchstalente: „Von zuhause ausziehen ist ein großer Schritt in die Eigenständigkeit. Außerdem muss man viele eigene Entscheidungen treffen. Das Telefon ist dort der ständige Begleiter, um den Kontakt in die Heimat zu haben.“

Der Weg vom Jugendtalent zum Spitzensportler ist hart und steinig. Doch Hugo lässt sich davon nicht unterkriegen. Er schwimmt immernoch auf seiner Bahn in Maribor. Disziplin: 100 Meter Brust. Er schlägt am Ziel an. Sein Trainer gratuliert ihm: viertschnellster Schwimmer. Das bedeutet: Semifinale, zusammen mit den besten 16 Nachwuchstalenten aus Europa. Doch dann die Schocknachricht: Vor ihm hat ein anderer Schwimmer aus Deutschland angeschlagen. Der Schiedsrichter erklärt dem aufgebrachten Hugo, dass sich nur ein Schwimmer pro Land für das Finale qualifiziert. Verärgert schlägt Hugo ins Wasser. Doch er weiß genau: Sein Ehrgeiz ist geweckt, nächstes Jahr will er es noch einmal versuchen. Aufgeben ist keine Option. Zumindest nicht für ihn. Dieses junge Talent ist schon jetzt ganz groß.