Faktencheck

„Der Sexualkundeunterricht kann homosexuelle Lebensweisen fördern.“

Der Sexualkundeunterricht ist in deutschen Schulen Teil des Lehrplans. Beeinflusst dieser die jungen Leute in ihrer sexuellen Orientierung?
21. Mai 2019

Der Sexualkundeunterricht ist staatlicher Erziehungsauftrag und somit in jeder weiterführenden deutschen Schule Teil des Lehrplans. Während Experten der Meinung sind, nicht früh genug mit sexueller Aufklärung anfangen zu können, sind erzkonservative Kritiker und Politiker grundsätzlich dagegen. Denn ihrer Meinung nach könne der Sexualkundeunterricht zur Frühsexualisierung der Kinder führen und homosexuelle Lebensweisen fördern. So berichtete die Nachrichtenwebsite „Spiegel online“ am 30.04.2019 in dem Artikel „Wie funktioniert Verliebtsein?“. Stimmt diese Aussage?

Die Studie „Jugendsexualität 2015“, die im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchgeführt wurde, zeigt, dass im Jahr 2014 rund 95 Prozent der befragen Mädchen und Jungen im Alter von 14 bis 17 Jahren sowie junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren aus Deutschland einmal Sexualerziehungsthemen im Unterricht besprochen haben. Sie zeigte außerdem, dass seit 1994 jährlich mehr und mehr Jugendliche durch den schulischen Unterricht sexuell aufgeklärt wurden. Der Sexualkundeunterricht hat im Laufe der Jahre also einen immer größeren Teil im Lehrplan deutscher Schulen eingenommen. Aber ist die Sexualerziehung nicht eigentlich Aufgabe der Eltern?

Sexuelle Aufklärung als Erziehungsauftrag des Staates

Das Verfassungsgerichtsurteil aus dem Jahre 1977 hat deutlich festgelegt, dass die Aufklärungsarbeit nicht die alleinige Aufgabe der Eltern ist. Der Staat hat hier eine ergänzende Aufgabe, die mit der Verfassung konform ist. Art. 7 Abs. 1 GG hat den Inhalt, das Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden. Dieser erzieherische Auftrag der Schule ist dem Elternrecht also gleichgeordnet. Zu diesem staatlichen Erziehungsauftrag gehört nicht nur die Vermittlung von Wissen, sondern auch von sozialer Kompetenz im Umgang mit Andersdenkenden. „Der Sexualkundeunterricht soll den Kindern im frühen Alter ein Gefühl von Vielfalt und den Respekt für Vielfalt vermitteln“, sagt Markus Ulrich vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD). In der Bildungsdebatte müsse man zwischen zwei gravierenden Dingen differenzieren: Denn man unterscheide einmal zwischen dem Sexualkundeunterricht im Biologieunterricht, bei dem von Sexualität die Rede sei und bei dem sowohl Homosexualität als auch die verschiedenen Geschlechtervorstellungen erwähnt werden müssten. Hier handele es sich um nämlich um Wissensvermittlung. In der Vielfaltspädagogik jedoch – die außerhalb des regulären Sexualkundeunterrichts, also mehr fächerübergreifend und unabhängig vom Biologieunterricht in Schulen stattfindet – ginge es um mehr: „Die Vielfaltspädagogik hat den Ansatz, Kinder und Jugendliche in mehreren Fächern für LSBTTIQ zu sensibilisieren, früh die Unterschiedlichkeit von Menschen zu vermitteln und so die Vielfalt der Demokratieerziehung klar zu machen“, so der LSVD. Dies geschehe zum Beispiel im Kunstunterricht, indem lesbische oder schwule Malerinnen und Maler Teil des Lehrplans seien oder dass Lehrer im Geschichtsunterricht auf die Emanzipationsbewegung zu sprechen kämen.

Doch woher kommt die Abneigung gegen die Thematisierung von Homosexualität im Unterricht? Dr. Konrad Weller, promovierter Psychologe und Lehrender der Hochschule Merseburg im Studiengang „Angewandte Sexualwissenschaft“ erklärt: „In einer pluralisierten und multikulturellen Gesellschaft sind immer auch traditionelle und religiös untersetzte Vorstellungen präsent, die nur eine ‚naturgegebene‘, auf Fortpflanzung bezogene Heterosexualität gelten lassen wollen“. Vorstellungen, Homosexualität wäre unnormal und heilungsbedürftig stammen aus der christlichen Tradition. Früher sollten sexuelle Kontakte einzig der Fortpflanzung dienen. Andere sexuelle Kontakte wurden pathologisiert und kriminalisiert.  „Ursache einer solchen überstarken Ablehnung von Homosexualität und homosexuellen Paaren kann die Verdrängung eigener Neigungen sein. Die Inbrunst gegen Homosexualität ist dann ein Abwehrprozess und kann durchaus pathologische Züge haben“, so Dr. Weller.

Homosexualität ist keine Krankheit

Die sexuelle Orientierung habe organische Grundlagen und bilde sich vom ersten Lebenstag an heraus. Sexuelle Vorlieben ergäben sich aus individuellen Erfahrungen des Menschen und änderten sich im Laufe des Lebens stetig. „Ab dem zweiten Lebensjahr entwickelt jeder Mensch eine ‚Lovemap‘, eine Liebeslandkarte, wie es der Sexuologe John Money nennt. Dazu gehört zunächst die Erkenntnis der eigenen Geschlechtszugehörigkeit, der Geschlechtsorgane von Frau und Mann und ihrer Funktion“, meint Dr. Weller. Mit zunehmendem Wissen über Formen und Funktionen von Sexualität und eigenen Erfahrungen in Kindheit und Jugend werde die Liebeslandkarte differenzierter und ständig erweitert. Somit handele es sich auch bei der Sexualität um einen Prozess lebenslangen Lernens.  Auch konkrete Vorstellungen von partnerschaftlicher Sexualität entwickelten sich bereits im vorschulkindlichen Alter, dort aber zunächst noch sehr fortpflanzungsbezogen und somit heterosexuell. Wann ein Mensch eher ein homo- oder heterosexuelles Leben einschlägt, darüber gäbe es verschiedene Theorien“, sagt Dr. Weller. In der Sexualwissenschaft werden sowohl hirnphysiologischen, genetischen als auch hormonellen Faktoren Einflüsse eingeräumt. „Ob nun diese quasi angeborenen Faktoren oder die eigene Aktivität und der individuelle Erfahrungsgewinn die entscheidende Rolle spielen, darüber wird gern gestritten, weil es nun einmal viele Formen sexueller Neigungen gibt“. Aber: „Homosexualität ist keine Krankheit“, so der Sexualwissenschaftler.

Der Aussage, Sexualkundeunterricht an Schulen fördere homosexuelle Lebensweisen kann auf Grund obiger Aussagen also nicht zugestimmt werden. Die sexuelle Aufklärung an Schulen soll Kinder lediglich auf alle möglichen und potenziellen sexuellen Orientierungen in der Gesellschaft aufmerksam machen und ihnen gleichzeitig den respektvollen Umgang mit homosexuell orientierten Menschen lehren. Die Vermittlung der Akzeptanz von Homosexualität steht im Lehrplan deutscher Schulen hier also im Vordergrund, sodass sich Kinder später selbstständig mit ihrer eigenen sexuellen Orientierung auseinandersetzen können, ohne sich dabei einem Zwang durch archaische Gesellschaftsnormen ausgesetzt zu sehen.