Ein Tag in der Onkologie:

„Gefühlt stirbt hier jeden Tag jemand“

Mehrere tausend Patienten werden jährlich in der onkologischen Abteilung des Dornbirner Krankenhauses behandelt.
14. Juli 2019

Der Tod gehört im Krankenhaus zum Alltag. Vor allem aber in der Onkologie ist er ein ständiger Begleiter. Auch im Vorarlberger Krankenhaus Dornbirn in Österreich. Mit 69 Betten ist die Abteilung für Innere Medizin die größte des Krankenhauses, hierzu zählt auch die onkologische Tagesklinik. Mit rund 20 Ärzten, 70 Pflegekräften und Abteilungshelfern wird Tag für Tag versucht, dem Krebs den Kampf anzusagen. Für die Mitarbeiter ist das nicht leicht: Täglich erleben sie die Ängste der Patienten und das Leid der Angehörigen.

Um kurz vor acht Uhr morgens strömt der Geruch von Kaffee aus dem Schwesternzimmer in die Gänge des sechsten Stocks. Während sich Dr. Jürgen Ertl* gemeinsam mit anderen Ärzten und Pflegekräften auf den bevorstehenden Tag vorbereitet, tropft leise Kaffee aus der Kaffeemaschine. Die Fenster sind zum Lüften geöffnet, frische Morgenluft durchdringt den Raum. Alle sitzen gemeinsam an einem Tisch und tauschen sich über die Geschehnisse der Nacht aus. Das grelle Klingeln eines Diensttelefons stört die Runde. Ein Assistenzarzt klinkt sich aus dem Gespräch aus und nimmt ein Telefonat entgegen. Die Visite steht als erster Punkt auf der Tagesordnung der onkologischen Station.

Der 58-Jährige ist Oberarzt der Krebsstation. Die Onkologie befasst sich mit der Entstehung, Entwicklung und Behandlung von Tumorerkrankungen und ist Teildisziplin der inneren Medizin. Vor dem ersten Zimmer studiert Dr.Ertl die Krankenakte der Patientin hinter Tür B624. Diese umfasst Informationen zu Vorerkrankungen, Medikamenten, Allergien und Stand des Untersuchungsverlaufs. Der Tod ist in seinem Arbeitsalltag ein ständiger Begleiter: „Gefühlt stirbt hier jeden Tag jemand“, sagt er. Seit rund 30 Jahren arbeitet der Arzt in der Inneren Medizin, seit 20 Jahren hier im Krankenhaus Dornbirn. „Der Beruf als Onkologe kann wahnsinnig spannend sein“, sagt der Oberarzt. „Aber auch nach all den Berufsjahren wird der Umgang mit dem Tod nicht erträglicher“. Der Anblick der Betroffenen sei für ihn bis heute kein einfacher: „Gerade die gesamte Familie in dieser Situation sehen zu müssen, ist hart.“

Als sich die Türe öffnet, ist ein latenter Geruch von Desinfektionsmittel wahrzunehmen. Im Raum liegt eine 93-jährige alte Dame mit Schizophrenie und Wahnvorstellungen. In der Nacht habe sie oft Angstzustände. Laut Psychiater ist das alles jedoch im Rahmen des Alters. Während sich der Doktor mit der Patientin unterhält, ist im Hintergrund ein rhythmisches Tropfen der Infusion zu hören. Die Frau hängt am Sauerstoff, selbstständig kann sie nur sehr schwer atmen. Dr. Ertl verabreicht ihr ein Benzodiazepin, ein Beruhigungsmittel, um ihre Angstzustände etwas zu mildern. „Ich glaube, sie hat Angst zu sterben“, sagt er.

In den meisten Fällen begegnen Menschen dem Tod erst dann, wenn dieser im Bekannten- oder Familienkreis eintritt, oder sie selbst erkranken. Menschen wie Dr. Ertl begegnen dem Tod täglich. Sie müssen sich mit den Ängsten der Patienten und dem Leid der Angehörigen auseinandersetzen, Empathie zeigen, gleichzeitig jedoch auch professionelle Distanz wahren. Keine leichte Aufgabe. „Vor allem beim Tod von jungen onkologischen Patienten mit langer Betreuungszeit oder von einem Elternteil mit Kindern ist das wirklich schwer“, sagt der 58-Jährige. Vor allem aber in seiner Anfangszeit habe der Arzt Angst gehabt, falsche Entscheidungen für den Patienten zu treffen. „Das schwirrt einem eigentlich immer irgendwie im Hinterkopf herum“, sagt er. Auch das werde nicht zwingend einfacher mit den Jahren, denn je mehr berufliche Erfahrung, desto mehr sei das Bewusstsein dafür da, welche potentielle Fehler eintreten können. „Das ist einem als junger Assistenzarzt vielleicht nicht ganz so klar“, meint der Onkologe.  

Nicht jeder Krebs ist tödlich

Laut dem Bundesgesundheitsministerium erkranken jährlich etwa 476.000 Menschen neu an Krebs. So war im Jahre 2014 jeder vierte Todesfall durch Krebs bedingt. Für die meisten Todesfälle unter Männern war in diesem Jahr der Lungenkrebs verantwortlich. Zum Vergleich: An Herz-Kreislauf-Erkrankungen verstarben in diesem Zeitraum circa 338.000 Menschen. Insgesamt sei die häufigste Krebserkrankung bei Männern jedoch der Prostatakrebs, bei Frauen der Brustkrebs. Nach Angaben des statistischen Bundesamts verstarben im Jahr 2016 rund 230.700 Patienten an einem bösartigen Tumor.

Es gibt jedoch zwischen den vielen Todesfällen auch immer wieder unerwartete und untypische Krankenverläufe. „Ich hatte einmal einen Patienten, bei dem wir aus therapeutischer Sicht am Ende des Möglichen angelangt waren. Doch plötzlich verbesserter sich sein schlechter Allgemeinzustand. Er klarte auf und konnte stabil nach Hause geschickt werden. Heute kommt er in regelmäßigen Abständen zur Nachsorge“, sagt der Oberarzt. „Das glich fast schon einem Wunder.“ Im Hintergrund tönt seit Beginn der Visite ein permanentes Piepsen der Patientenrufanlage auf dem Flur der Station. Dieses gilt als Signal und Aufforderung für das Pflegepersonal, einem Patientenanliegen nachzukommen.

Krebs sei jedoch auch nicht gleich Krebs. Bei der gleichen Diagnose gebe es unterschiedliche Verläufe des Krankenbildes. Jeder reagiere individuell. Nicht jede Krebsart verurteile den Menschen zum Tode: „Ein Hodgkin-Lymphom zum Beispiel, die Erkrankung des Immunsystems mit Lymphknotenvergrößerung, hat bei früher Diagnosestellung eine Heilungschance von rund 95 Prozent“, erklärt Dr. Ertl.

Die Medizin – ein facettenreiches Fach

Der Oberarzt ist aber nicht ausschließlich in der onkologischen Tagesklinik tätig. Am frühen Nachmittag zum Beispiel verlegt er einen Patienten zur Herzkatheteruntersuchung in eine Spezialabteilung. Der 40-Jährige war mit Atemnot und Herzrhythmusstörungen sowie mit einem Verdacht auf Herzinfarkt in die Klinik eingewiesen worden. „Im Nachtdienst muss jeder Arzt alles können, egal auf welches Fach er spezialisiert ist“, wirft Dr. Ertl ein.

Besonders aber in der Onkologie sei es wichtig, sich viel Zeit zu nehmen. „Die Umgebung und Betreuung von Ärzten und Schwestern sind beim gesamten Behandlungsprozess enorm wichtig. Fühlt sich der Patient aus irgendwelchen Gründen nicht wohl, so ist es noch schwerer für ihn, sich zu erholen“, erklärt der Arzt.  Beim Blick aus dem Fenster fällt auf, dass im Minutentakt das Gebäude betreten und verlassen wird. Im Krankenhaus Dornbirn wurden 2017 ungefähr 54.000 Patienten behandelt, darunter fast 9.000 ambulante Patienten in der Abteilung des Oberarztes.

„Natürlich gibt es immer wieder Momente, in denen ich mich frage, ob und wie lange ich das Ganze hier noch machen will“, sagt Dr. Ertl. Nachdenklich blickt er auf die Akten, die auf seinem Schreibtisch liegen. Die Medizin habe aber neben all den Schattenseiten durchaus auch schöne Dinge an sich: „Die ständige Herausforderung, neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Medizin am Patienten umzusetzen, ist das, was unseren Beruf so interessant und faszinierend macht. Das abwechslungsreiche Tätigkeitsfeld mit viel Kontakt zum Menschen führt auch zu einem gewissen Maß an innerer Zufriedenheit, ein Zustand, der sich praktisch durch mein ganzes Berufsleben gezogen hat“, erzählt der 58-Jährige.  

Dem Oberarzt hilft es, seine freie Zeit mit Leuten zu verbringen, die nicht im medizinischen Beruf tätig sind, um den Gedanken an den Klinikalltag zu entkommen. Gespräche und Unternehmungen mit engen Freunden tun ihm sehr gut. „Dann kann ich wirklich abschalten“, sagt er. Für ihn sei es wichtig, die kranken Patienten nicht außerhalb seiner Tätigkeit gedanklich mit sich herumzutragen. „Im Dienst versuche ich voll da zu sein. Sobald ich das Krankenhaus verlasse, möchte ich das alles aber hinter mir lassen. Manchmal einfacher gesagt als getan“, erklärt der 58-Jährige. Er zieht seine Karte, die seine tägliche Arbeitszeit erfasst, über das Lesegerät vor dem Ausgang, steckt sie in seinen Geldbeutel und verlässt das Gebäude. Für heute ist sein Arbeitstag beendet.

*Der Name wurde aus Datenschutzgründen von der Redaktion geändert.