Inklusion 7 Minuten

Geistige Behinderung und Politik - (K)ein Gegensatz?

Achim Wegmer sitzt in einem Restaurant
„Das ist gelebte Inklusion“ – Achim Wegmer im Essenz, einem Restaurant, in dem Menschen mit und ohne Behinderung zusammen arbeiten. | Quelle: Lea Ehrenberg
15. Mai 2024

Unterschätzt und belächelt: Personen mit geistiger Behinderung wurden politisch lange nicht ernst genommen. Wie sieht das heute aus? Ein Sonderpädagoge, ein Anwalt und ein Mensch mit geistiger Behinderung, der für politischen Einsatz das Bundesverdienstkreuz erhalten hat, erzählen.

„Ich erinnere mich noch ganz genau: Es war 2005. In NRW waren Landtagswahlen. Auf dem Tisch eines Mitarbeiters lag die Wahlbenachrichtigung für eine der Bewohnerinnen mit geistiger Behinderung, die gerade 18 geworden war. Ich sagte: Ach cool, wer geht denn mit ihr zur Wahl? Die Antwort war: Warum sollte da einer mit ihr hingehen, warum sollte die wählen? Das ist doch totaler Quatsch“, erzählt Simon Baumann, Lehrer für sonderpädagogische Förderung. Er arbeitete in einem Wohnheim für Jugendliche mit geistiger Behinderung. „Ich war völlig irritiert, dass die davon ausgehen, dass sie mit dieser geistig behinderten jungen Frau nicht zur Wahl gehen“, sagt er.

Baumann entschied sich, berufsbegleitend eine Promotion anzufangen. Seine Doktorarbeit schrieb er über „Politische Partizipation von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung“. Für diese interviewte Baumann Menschen mit geistiger Behinderung zum Thema Politik. Der Sonderpädagoge erklärt, dass er den Kontakt zu Personen mit geistiger Behinderung beispielsweise über Behindertenwerkstätten oder ambulant betreutes Wohnen gesucht habe. Dabei habe er eine Entwicklung erkennen können, was den Umgang mit politischen Themen angeht. „Ich bin dort auf offene Ohren gestoßen“, stellt Baumann fest. Noch vor 20 Jahren sei das vermutlich anders gewesen: „Da hätte man vielleicht eher gesagt: Der spinnt ja, der Baumann, dass der jetzt über Politik mit denen reden will“, meint er. Den Grund für diese Entwicklung sieht Baumann unter anderem in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).

 

Die UN-Behindertenrechtskonvention

Die Vereinten Nationen verabschiedeten am 13. Dezember 2006 die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie umfasst 50 Artikel und ist ein völkerrechtlich bindender Vertrag. Die UN-BRK soll Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung schützen, indem Rechte, beispielsweise in Bezug auf Inklusion, Chancengleichheit und Selbstbestimmung festgelegt sind. Artikel 29 beinhaltet das Wahlrecht. Es heißt: „Die Vertragsstaaten garantieren, […] dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertreterinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden“. Deutschland ratifizierte die UN-BRK am 24. Februar 2009.

Wie kam es zum inklusiven Wahlrecht?

Obwohl in Artikel 29 der UN-BRK das Wahlrecht festgelegt ist, durften seit Beschluss der Konvention nicht alle Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland wählen. Erst seit einer Verfassungsbeschwerde im Jahr 2019 gibt es in Deutschland das uneingeschränkte Wahlrecht für Menschen mit geistiger Behinderung.  

Die Infografik zeigt die Entwicklung des Wahlrechts geistig behinderter Personen
Entwicklung des Wahlrechts von Menschen mit geistiger Behinderung
Quelle: Bundesverfassungsgericht

„Probleme, Betrug und Manipulation kann es überall geben“

Ein Kritikpunkt am momentanen Gesetz ist, dass Menschen mit geistiger Behinderung kognitiv nicht in der Lage seien, eine Wahlentscheidung zu treffen. Rechtsanwalt Boris Burow kann das nicht nachvollziehen. „Gegenprobe: Es gibt auch genügend Nichtbehinderte, die zur Wahl gehen, und überhaupt nicht wissen, was die Parteien wollen“, sagt er. Auch in einem möglichen Wahlbetrug sieht Burow kein Argument, das Wahlrecht zu entziehen: „Probleme, Betrug und Manipulation kann es überall geben. Das kann ich genauso machen, wenn ich merke, dass meine Oma nicht mehr ganz so fit ist.“ Deshalb wolle man auch nicht allen alten Menschen das Wahlrecht entziehen, meint der Anwalt. 

Als erste Person mit geistiger Behinderung im Bundesvorstand

Eine gesetzliche Betreuung hatte Achim Wegmer noch nie. Er hat eine Spastik und eine leichte geistige Behinderung. Es gibt lediglich Teilbereiche in seinem Alltag, in denen er manchmal Unterstützung benötigt, beispielsweise, wenn er Interviews führt und bei der Beantwortung mancher Fragen einen Ratschlag braucht. Stefan Baiker, Betreuer der Lebenshilfe Mühlacker, ist einer dieser Unterstützer.

 

„Ich habe dafür gebrannt, dass wir Behinderten unsere Themen selbst einbringen.“

Achim Wegmer

Von seinem Wahlrecht macht Achim Wegmer seit seinem 18. Lebensjahr Gebrauch. „Schon als junger Schnösel, 18 Jahre war ich alt, habe ich bei politischen Themen mitdiskutiert“, erinnert sich Wegmer zurück. Heute ist er 67 Jahre alt. Bei bloßen Gesprächen blieb es nicht. Wegmer engagiert sich politisch: Zunächst saß er im Landesvorstand Baden-Württemberg der Lebenshilfe. Im Bundesvorstand des Vereins war zu diesem Zeitpunkt noch kein Amt von einer Person mit geistiger Behinderung besetzt. „Ich habe mich immer gefragt, wieso am Vorstandstisch keine Behinderten sitzen“, erzählt der 67-Jährige. Und so kam es, dass Wegmer sich zur Wahl aufstellen ließ. „Und ich habe direkt haushoch gewonnen“, erzählt er stolz. Von 2000 bis 2016 saß Wegmer als erste Person mit geistiger Behinderung im Bundesvorstand der Lebenshilfe. Stefan Baiker erklärt, welche Bedeutung der Bundesvorstand hat. Es wird festgelegt, wie man als Bundesvereinigung der Lebenshilfe zu Themen, die beispielsweise die Inklusion betreffen, steht. Das wird an die Landesvertretungen bis hin zu den kleinen Ortsvereinen weitergegeben. Während seiner Zeit im Bundesvorstand wollte Wegmer mehr Teilhabe für Behinderte erreichen. „Ich habe dafür gebrannt, dass wir Behinderten unsere Themen selbst einbringen“, sagt er. 

Ein Aspekt, der ihm als Vorstand wichtig war, sind die Löhne in den Behindertenwerkstätten, „die in Deutschland arg arg niedrig sind“. 2022 lag der Durchschnittslohn für Berufstätige in einer Werkstatt für Personen mit Behinderung laut Lebenshilfe bei 222 Euro monatlich. Da Wegmer selbst 45 Jahre in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung arbeitete, störte ihn das auch in seinem eigenen Alltag. Besondere Unterstützung, wie leichte Sprache, sei für Wegmer in Sachen Politik nicht nötig. Er sehe sich manchmal stundenlang politische Talkshows an. Früher habe er sonntags gerne Anne Will geschaut. „Gell Stefan, ich kenn mich aus“, sagt er zu Baiker. „Ja, du informierst dich“, die Antwort. 

2018 wurde Wegmer für seinen Einsatz im Bundesvorstand mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. „Kein geringerer als der Landesvater Winfired Kretschmann hat das überreicht“, berichtet Baiker. Darauf ist Wegmer ziemlich stolz: Die Auszeichnung liegt bei ihm zu Hause in einer Vitrine. Ein Vorbild habe er dabei nie gehabt: „Ich sag immer: Ich bin ich. Ich bin das Original“, lacht der 67-Jährige. 

Wahlerfolge der AfD machen Sorge vor Diskriminierung

Der aktuelle Erfolg der AfD macht Wegmer Sorgen. Das bemerkt auch Baiker: „Das macht dir schon Angst. Also das ist immer wieder Thema im Alltag, dass du da Sorge hast, dass das eine Entwicklung nimmt, wo du diskriminiert werden könntest“, sagt er zu Wegmer. Besorgniserregend findet Wegmer dabei zum Beispiel die Haltung der AfD zu inklusiven Schulen. „Höcke hat im Sommerinterview letztes Jahr gesagt, dass alle behinderten Kinder auf eine Sonderschule gehen sollen. Das finde ich einen Mist“, sagt er. 

Gemeint ist das Sommerinterview, das Björn Höcke, Vorsitzender der AfD Fraktion im Thüringer Landtag, dem mdr im August 2023 gab. „Unter anderem müssen wir das Bildungssystem auch befreien von Ideologieprojekten, beispielsweise der Inklusion“, sagt Höcke im Interview. Es gäbe Parteien, die die Inklusion wieder rückgängig machen wollen, so Wegmer. 

An alle Parteien im Bundestag wurde ein Fragenkatalog zum Thema geistige Behinderung und Politik gesendet. Die Fragen bezogen sich auf die Themen leichte Sprache, das inklusive Wahlrecht und ob sich die Partei für die politische Teilhabe für Menschen mit geistiger Behinderung einsetzt.

So lauten die Antworten:

Bundestagsabgeordneter der AfD Jürgen Pohl: „Wir sehen im Bereich des Wahlrechts keinerlei Handlungsdruck, bestehende Situationen grundlegend zu überarbeiten. Die derzeitige Ausgestaltung des Wahlrechts sowie die vorhandenen Möglichkeiten politischer Partizipation für Menschen mit Behinderung sind meines Erachtens ausreichend."

Bündnis 90/Die Grünen: „Die grüne Bundestagsfraktion will Menschen mit Behinderungen die volle und gleichberechtigte Teilhabe in unserer Gesellschaft ermöglichen. Wir bieten auf unserer Homepage auch Informationen in Leichter Sprache und Gebärdensprache an. Wahlprogramme der Partei werden in Leichte Sprache übersetzt. Außerdem haben wir als Partei einen Diversitätsrat und ein Vielfaltsstatut“

SPD: „Wir bieten regelmäßig Informationsmaterial auch in leichter Sprache an. Aus der Sicht der SPD hat jeder Mensch das Recht zu wählen. Die Teilnahme an Wahlen ist für viele Menschen mit Behinderungen ein wichtiges Element ihrer Selbstbestimmtheit und ihrer Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben. Für eine wirksame und aktive Beteiligung aller Gruppen von Menschen mit Behinderungen gehört der Auf- und Ausbau barrierefreier Strukturen und Prozesse in den Parlamenten und in den politischen Parteien und Stiftungen auf allen Ebenen der parlamentarischen Demokratie dazu. Die SPD setzt sich dafür ein, Bewerber*innen mit Beeinträchtigungen, die Interesse für ein Mandat haben, individuell und gezielt zu fördern und finanziell zu unterstützen.“

FDP: „Wir Freie Demokraten engagieren uns aktiv dafür, die politische Partizipation aller Bürger zu ermöglichen und zu erleichtern, einschließlich Menschen mit geistigen Behinderungen. Aktuell haben wir jedoch kein Infomaterial in leichter Sprache.“

CDU: „Unser Wahlprogramm zur Europawahl 2024 wird es in Leichter Sprache geben. Gerade auch Menschen mit einer Behinderung müssen an allen politischen Prozessen uneingeschränkt partizipieren können. Auf kommunaler und landespolitscher Ebene gibt es in unserer Partei Netzwerke von Menschen mit Behinderung, so beispielsweise in der CDU Baden-Württemberg das „Netzwerk Chancen für alle – Menschen mit und ohne Behinderungen“

Die Linke: „DIE LINKE übersetzt Kurzwahlprogramme in Leichte Sprache. Darüber hinaus gibt es verschiedene Flyer. DIE LINKE will sich für ein Umfeld einsetzen, in dem Menschen mit Behinderungen emanzipatorisch und ohne Diskriminierung gleichberechtigt mit anderen Politik gestalten und mitbestimmen können. Eine Maßnahme dafür ist die alljährliche Durchführung des Wettbewerbs "Barrierefreie Geschäftsstellen", mit der mehr Barrierefreiheit - baulich und kommunikativ - angestrebt werden soll."

Bündnis Sahra Wagenknecht: Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat auf den Fragenkatalog per Mail nicht geantwortet. Telefonisch war niemand erreichbar.

Dabei ist die Inklusion für Menschen mit geistiger Behinderung essenziell, erklärt Sonderpädagoge Simon Baumann. Weil davon ausgegangen werde, dass sie sich nicht für Politik interessieren, fehle ihnen der Bezug zu politischen Themen. Man brauche Politikunterricht für Personen mit geistiger Behinderung, müsse sie in politische Gespräche miteinbeziehen. „Wenn die allgemeine Meinung, Politik wäre nichts für geistig Behinderte, sich ändern würde, könnten viele Barrieren abgebaut werden“, sagt Baumann. So würden in Zukunft vielleicht Situationen, in der einer geistig behinderten jungen Frau der Sinn ihrer Wahl abgesprochen wird, nicht mehr vorkommen.