Sagenerzählerin

Eine Magie, die Heimat schafft

Seit rund 20 Jahren nimmt Bärbel die Menschen mit in die Welt der Sagen.
31. Jan. 2019

Google, Wikipedia & Co sind im Jahr 2019 eine Selbstverständlichkeit. Vor tausenden von Jahren hingegegen wurde Wissen größtenteils mündlich überliefert. Mythen oder Legenden prägten nicht selten ganze Weltbilder. Aber welchen Nutzen soll so etwas heute schon haben? Die Sagenerzählerin Bärbel Bentele aus dem Oberallgäu gibt edit Einblicke in ihren Beruf und in die Faszination ihrer „Magie“.

Bärbel, warum gibt es Sagen?

Der Mensch versucht seit Urzeiten zu begreifen, was zwischen Himmel und Erde passiert. Das Sagenerzählen war früher eine Möglichkeit, Wissen und Gebote weiterzutragen. Beispielsweise im Mittelalter, zu Zeiten der Inquisition und Hexenverfolgungen. In damaligen Sagen wurden Weisheiten und Regeln weitergegeben, um Folter und Todesstrafe zu umgehen. So gaben Sagen den Menschen Orientierung in ihrer komplexen Welt. Heute finden sich die alten Sagen vor allem in den verschiedenen Brauchtümern, die wir über das Jahr pflegen. In diesen Traditionen steckt das Wissen der alten Sagen, die mehrere Jahrhunderte zurückgehen. Die Sagen werden zur Gestalt, indem sie in den heutigen Brauchtümern der Menschen weiterleben und sichtbar werden.

Und was macht die Sage in der heutigen Zeit besonders?

Gerade in Zeiten, in denen sich Kulturen vermischen und Leute aus fremden Ländern zu uns kommen, erwacht im Menschen das Interesse an seinen Wurzeln. Er sucht durch Sagen ein Stück Heimat: Um sie zu finden, muss man sich mit den uralten Geschichten der Region auseinandersetzen und herausfinden, welche Ordnung und Regeln dort herrschen. Alte Sagen spiegeln so die eigene Heimat wider und die Erzählungen helfen Menschen, ihren Ursprung und das Land mit seinen Bräuchen und Regeln besser zu verstehen. 

Ist es das, was dich am Sagenerzählen reizt?

Interessant für mich am Sagenerzählen ist, dass man neben dem jeweiligen charakteristischen, örtlichen Bezug auch immer wieder Parallelen zu anderen Regionen und Ländern findet. Auch in den Allgäuer Sagen spiegeln sich Ähnlichkeiten zu Sagen aus anderen Nationen wider. Der Kern der Sage wird von anderen Völkern und Kulturen übernommen und einzig durch landschaftliche Besonderheiten vermischt und ergänzt. Im Süden zum Beispiel geben sie Hinweis auf Ebbe und Flut. Bei uns im Allgäu vermitteln sie uns, wann es Zeit ist, den Berg zu verlassen. Das haben Sagen gemeinsam. Man spricht hier auch von „Wandersagen“. Wichtig ist allerdings, eine Sage nie zu sehr zu analysieren oder zu versuchen, ihre Tiefgründigkeit zu übersetzen. So habe ich im Laufe der Zeit für mich entdeckt, dass diese Erzählungen „Heilweisen“ sind. Denn sie können Menschen eine unglaubliche Lebenskraft schenken.

„Sagen haben für mich eine heilende Wirkung.“

Bärbel

In meinen Vorträgen entsteht eine Verbindung zwischen den Zuhörern und ihren Wurzeln. Sie werden mit etwas ganz Ursprünglichem verbunden und für kurze Zeit aus ihrem Alltag abgeholt. Die Erzählungen geben ihnen die Möglichkeit, in sich zu gehen, in eine Welt einzutauchen und sich so mit ihrer Heimat zu identifizieren.

Auf rund 600 Seiten stehen kulturelle Sagen aus der Allgäuer Gegend, aus denen Bärbel vorliest.
Im ganzen Allgäu trägt Bärbel die „Allgäuer Sagen“ vor. Zunächst hat es lange gebraucht, bis das Sagenerzählen bei den Leuten Anklang gefunden hat. Heute besuchen viele ihre Vorträge.
Auch gemeinsam mit anderen Geschichten, Märchen- und Sagenerzählern tritt Bärbel auf. Beispielsweise mit Sagenerzähler Jürg Steigmayer aus der Schweiz. | Quelle: Bärbel Bentele

Wie bist du zu dem Beruf der Sagenerzählerin gekommen?

Über Beobachtungen in den Bergen. Ich war schon immer eine sehr bildhafte Denkerin. Ich habe viele Jahre auf einer Alpe gelebt und das Tun der Menschen und das Geschehen in der Natur beobachtet. Ich habe mich von jeher für fremdländische Mythologien, wie die griechischen Göttersagen, interessiert. Meine Zeit in den Bergen hat mir gezeigt, dass wir hier im Allgäu genau die gleichen Mythologien haben. Nur sind sie eben versteckt in ganz einfache Geschichten. Das hat mich beeindruckt.

Wie weit gehen die Sagen zurück, die du erzählst?

Sagen sind insgesamt sehr, sehr alt. Auch die Allgäuer Sagen, die ich erzähle. Wie alt sie sind, kann niemand so genau sagen. Man geht davon aus, dass die ältesten um 600 nach Christus entstanden.

Haben sich die Inhalte dieser Sagen im Laufe der Jahrhunderte geändert?

Sagen sind meist umsponnen mit der Bewegung der Zeit. Sie werden immer wieder aktualisiert, modernisiert, der Zeit und dem Ort angepasst. Da Sagen früher nur mündlich überliefert wurden, interpretierte sie jeder anders und so wurden sie unterschiedlich erzählt. Die Kernaussage blieb jedoch immer bestehen, die Information steckte zwischen den Zeilen des Gesagten.

„Sagen sind vom Zeitraum umsponnene Wahrheiten.“

Bärbel

Aber sind Sagen und Märchen dann nicht dasselbe? Oder wo liegt da der Unterschied?

Sagen beginnen mit dem Ort, ein Märchen immer mit „Es war einmal…“. Die Geschichte eines Märchens muss nicht wahr sein, Sagen wiederum werden mit realen Begebenheiten, Personen, Orten und Kulturen der Region verbunden und haben somit einen realistischen, wahren Kern.

Sowohl Sagen als auch Märchen erzählen Geschichten über das Übernatürliche. Es gibt jedoch auch markante Unterschiede zwischen den beiden Erzählformen. | Quelle: www.schema.at

Was willst du mit deiner Tätigkeit bei den Menschen erreichen?

Ich möchte den Menschen Anstoß geben, sich Gedanken über ihr Leben zu machen, ihre Verhaltensweisen zu reflektieren und gegebenenfalls etwas daran zu ändern. Ab und zu kommt es auch mal vor, dass ich Menschen an einer bestimmten Szene einer Sage zum Weinen bringe, obwohl ich vielleicht gar nichts trauriges gesagt habe. Die Leute werden dann mit ihrem eigenen Leben konfrontiert und setzen es mit der erzählten Sage gleich. Mein Ziel ist es, den Leuten durch meine Erzählungen eine Erinnerung, eine Kraft und Energie mitzugeben, die ihnen in ihrem Leben weiterhilft.

So zum Beispiel in der Wandersage „Wie die Wilden Pflegedienste heischen und entlohnen“ aus dem Kleinwalsertal:

Zum weiteren Verständnis gibt es hier die erzählte Sage zum Nachlesen: 

http://www.sagen.at/texte/sagen/deutschland/bayern/allgaeu/pflegedienste.html