Kolumne

Die „Anderen“ und der eigene Kosmos

Distanziertes warten auf den Bus.
07. Dez. 2022
In meiner WG treffen die unterschiedlichsten Lebensrealitäten aufeinander. Oft witzig, manchmal anstrengend, aber genauso lehrreich. Teil zwei meiner Kolumne.

Ich laufe tagsüber durch die Stadt und beobachte die Kontraste. Einen perfekt geschneiderten Anzugträger neben einem Skater, der in seinen Klamotten ertrinkt, Döner-Läden neben veganen Wrap-Ketten, „Ausländer raus“-Kritzeleien neben „Fuck-Nazis“-Stickern.  Ziemlich viel Chaos. Viele verschiedene Standpunkte. Manchmal ziemlich überfordernd. Bisschen wie meine WG. Das Chaos an unterschiedlichsten Lebensrealitäten sitzt nicht nur neben mir im Bus oder schlendert an mir vorbei durch die Einkaufsstraßen. Es sitzt am Abend auch mit uns allen am Küchentisch. Wir selber sind das Chaos.

Manchmal wäre es mir dann schon lieber, mit meinen eigenen Freunden zusammenzuwohnen. Irgendwie ist es ja normal und auch gesund, sich ein harmonisches und bekanntes Umfeld zu suchen. Menschen bilden eben Gruppen und suchen sich Gleichgesinnte, die ihr schon bestehendes Weltbild bestätigen. Sie schaffen sich ein Umfeld, das sich warm und wohlig anfühlt und das zu ihrem Lifestyle passt. Egal ob finanzieller Status oder politische Einstellung. Reiche heiraten am liebsten andere Reiche. Leute, die grün wählen, setzen sich selten mit mega konservativen CDU-Wählern auseinander.  Außer, sie sind zwangsläufig mit ihnen verwandt... oder wohnen in einer WG mit ihnen.

Von Vorurteilen und Distanz

„Aber deine Freundin muss doch Kopftuch tragen?“, hat ein Mädchen, das neu aus einem 80 Seelen Dorf in unsere WG gezogen ist, mal den türkischen Kumpel eines anderen Mitbewohners gefragt. Die Betonung lag ganz klar auf dem „muss“. Wir saßen alle gemeinsam in der Küche und haben getrunken. Kurz darauf ist der gesamte Tisch vor Unglauben in Lachen ausgebrochen. Ein entgeistertes „Nein, wieso das denn“, war die Antwort. Und in meinem Kopf ist direkt eine schrille, leuchtende Sirene losgegangen. Was war das bitte für eine Frage?

So wirklich überrascht war jedoch niemand. Komische Kommentare waren uns von ihr schon öfter aufgefallen. Fragen und Kommentare, die mit Vorurteilen behaftet waren. Ihre Lebensrealität war etwas ganz Neues für unsere ohnehin schon vielfältige WG. "Sie ist eben aus einem kleinen deutschen Dorf, sie kennt das gar nicht anders", argumentierten manche Mitbewohner*innen. "Informieren kann man sich trotzdem", hielt ich dagegen.

Je öfter wir diese Diskussion führten, desto mehr brachte mich das Argument meiner Mitbewohner*innen jedoch zum Nachdenken. Wie jeder von uns bewegte sich das neue Mädchen aus dem Dorf natürlich in ihrem ganz eigenen Kosmos. Ihre Fragen waren vermutlich Fragen aus Unwissen. Fragen, die entstehen, wenn eine Person null Kontakt mit einer ihr fremden Gruppe hat. Die Begegnung und somit auch die Kommunikation und der Austausch fehlen. Von weitem fällt es leichter, Fremdes zu bewerten und Vorurteile klären sich vermutlich nicht auf, wenn man sein ganzes Leben lang nur 79 deutsche Dorfbewohner und ein paar hundert Kühe sieht. Informieren kann man sich. Das Weltbild, mit dem man groß geworden ist, zu hinterfragen, kann jedoch ziemlich schwierig sein.

Kontakt wird zu Verständnis

Das Problem: Null Kontakt ist oft mit genauso wenig Verständnis verbunden. Als Rechtfertigung für Diskriminierung oder Vorurteile funktioniert dieses Argument nicht, als Lösungsansatz kann es jedoch ziemlich hilfreich sein, denn Kontakt ist eins der besten Mittel, um Verständnis zu stärken und kann zum Nachdenken und zur Reflexion anregen.  Berührungspunkte zwischen verschiedenen Kulturen oder Konfliktparteien haben sich zudem oft, als das beste Mittel gegen Vorurteile herausgestellt. Das ist beispielsweise auch ein Grund, wieso Parallelgesellschaften so toxisch sind.

Vielleicht ist es also genau das Richtige, wenn Kontraste nicht nur auf der Straße aneinander vorbeispazieren, sondern aufeinandertreffen. Wohnt man plötzlich in einer WG zusammen oder vielleicht auch nur in derselben Nachbarschaft, bricht die erste Kontakt-Barriere. Und wenn man dann noch beginnt zu reden, zu fragen und zuzuhören, kann aus dem „Anderen“ schnell eine Person werden, die sich nicht so einfach auf einen eindimensionalen Stereotyp reduzieren lässt. Da steht dann plötzlich eine Person, die von eigenen Problemen, Sorgen und Träumen erzählt, geprägt vom eigenen Umfeld und individuellen Erfahrungen. Eine Person wie "Ich", wie "Wir" und wie die "Anderen".

Um den ersten Teil dieser Kolumne zu lesen klicke hier: Von WGs, Großstädten und Echokammern".