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„Wir ersticken in diesem Tourismus“

Viele parkende Autos, im Hintergrund ein Bergkamm.
Der Parkplatz an den drei Zinnen füllt sich mehrmals täglich mit 700 Autos. | Quelle: Celine Urban
19. Febr. 2024

Wandern, essen und Fotos machen. Die Dolomiten sind ein beliebtes Urlaubsziel. Einheimische wie Josef Oberhofer beklagen ein „zu viel“ und finden: Der Kipppunkt ist schon längst überschritten. Ein Text über die Kehrseite des Wohlstands der Südtiroler.
 

Es ist acht Uhr morgens, fast schon zu spät. Die Bergluft riecht nach Tannengrün und See. Um die Spitzen der Berge hängen Nebelwolken fest. Die Straße ist kurvenreich und rechts und links von hohen Tannen umgeben. In der einen Richtung stehen zahlreiche Autos im Stau. Die Rücklichter leuchten verschwommen rot aus dem Nebel heraus. Aus einem weißen Mini Cooper steigt ein Mann in einem leuchtend orangenen Fleece, um ein Foto von der Kulisse zu machen. Dann steigt er schnell wieder ein, denn es geht voran. Um die nächste Kurve kommt dann endlich das Kassenhäuschen in Sicht. Daneben steht eine LED-Anzeige, die in leuchtend grünen Punkten die Zahl 198 anzeigt. Mit jedem Auto, das die Schranke passiert, wird die Zahl kleiner. „Morgen“, sagt der grau gekleidete Kassenwart mit gelangweilter Stimme: „30 Euro.“ Dann geht die Schranke auf. Bis man den Parkplatz erreicht, für den man bezahlt hat, vergehen noch knapp zehn Minuten. Immer näher kommt man dem Berg, Serpentine um Serpentine kurven die Autos immer höher. Am Ziel angekommen, winkt eine Person in neonorangener Warnweste die Autos auf die Parkplätze, die sich direkt am Fuß der gigantischen Berge befinden. 

Die Auffahrt zu den berühmten drei Zinnen fordert Geduld und das nötige Kleingeld von den Besucher*innen. Sie sind ein markantes Gebirgsmassiv, gelegen im prominentesten Gebirge Italiens: den Dolomiten. Südtirol kämpft schon seit einigen Jahren mit „Übertourismus“. Die drei Zinnen haben an einem Tag im Sommer 2018 laut einer Studie der Stiftung Dolomiten UNESCO 13.400 Besucher*innen angelockt. Die Grenzen der natürlichen Tragfähigkeit für das Wandergebiet und Zentrum des Alpinkletterns liegen allerdings laut der Welttourismusorganisation (WTO) bei 7.500 Personen. Diese Grenze wird von Juni bis August, in der Hochsaison, oft überschritten. 

In Bozen, der Hauptstadt von Südtirol, geht Josef Oberhofer mit dunklen, zum Mittelscheitel gekämmten Haaren und federndem Schritt durch die Nachmittagssonne. In den beiden Strähnen, die ihm rechts und links ins Gesicht fallen, schimmern einzelne silbergraue Haare. Er trägt ein dunkelblaues Hemd aus einem Leinenmix das er sich bis kurz unter die Ellenbogen hochgekrempelt hat. Die Altstadt besticht mit ihren bunten und bemalten Häuschen. Er nickt so manchem zu oder ruft ein „Grias di!“ entgegen und hebt seine gebräunte Hand zum Gruß. Freundschaftlich klopft er im Vorbeigehen auf die Schulter eines Mannes, der in einem Lokal sitzt. Eine braune Lederumhängetasche schaukelt beim Gehen an seiner rechten Seite. Josef Oberhofer ist 1959 in Bozen geboren. Er war 30 Jahre lang Geschäftsführer beim Heimatpflegeverband Südtirol, vor zwei Jahren ist er in Pension gegangen. „Der Schutz der Kultur- und Naturlandschaft lag und liegt mir schon immer am Herzen“, sagt er mit einem leichten Südtiroler Dialekt. Nach einem halben Jahr Pension hat er deshalb den Posten des Präsidenten beim Dachverband für Natur- und Umweltschutz angenommen. An seinem linken Handgelenkt trägt er eine Armbanduhr, denn sein Handy hat er nicht immer bei sich. Bozen, das ist seine Stadt, hier lebt er schon seit 40 Jahren und hat so einiges miterlebt – auch die Entwicklung des Tourismus.

Der Wirtschaftswandel

Aufgewachsen ist Oberhofer in Tramin, einem „bescheidenen und unglaublich schönen“ Weindorf. „Es war ein harmonisches und gemütliches Dorf. Ein Bauerndorf, wo noch fast jedes zweite Haus einen Stall mit Kühen hatte“, erinnert er sich. Die Straßen seien zum Teil noch nicht asphaltiert gewesen, es gab noch Fuhrwerke, die von Ochsen gezogen wurden und die Weinlese von den Bergen heruntergebracht haben. Noch in den 60-er Jahren war Südtirol das am deutlichsten landschaftlich geprägte Gebiet der Alpen. An die Anfänge des Tourismus in den 70-er und 80-er Jahren erinnert er sich noch gut. Sein Onkel und seine Tante, die ein etwas größeres Haus hatten, haben damals Zimmer vermietet. „Die Gäste, die vorwiegend aus Deutschland kamen, haben das sehr gut angenommen. Aber es waren wenige. Es war noch ein gemütlicher Tourismus. Die Leute haben mit in der Familie gelebt", erzählt er. Tramin habe früher beim alljährlichen Sommerfest die Gäste prämiert, die jedes Jahr nach Tramin kamen, um dort Urlaub zu machen. „Ich weiß noch, mein Onkel und meine Tante hatten Gäste, die waren wie Brüder und Schwestern. Sie sind wirklich 20 Jahre lang, jedes Jahr zu ihnen gekommen. Das war einfach wunderschön. Da entstanden Freundschaften“, erinnert sich Oberhofer mit einem Lächeln auf den Lippen.

Der Agrarsektor und auch diese „gemütliche“ Art des Tourismus, wurden jedoch bald abgelöst. Zwischen den 60er und 80er Jahren vervierfachte sich die Zahl der ankommenden Tourist*innen. Und auch danach kamen immer mehr Menschen. „Heute sind wir an einem Punkt angelangt, wo wir in diesem Tourismus quasi ersticken“, sagt Oberhofer. Einen neuen Höchstrekord haben 2022 knapp acht Millionen Tourist*innen, die 34,5 Millionen Mal übernachteten aufgestellt. „Wir haben sicher auch einen Wohlstand durch den Tourismus erreicht, das möchte ich nicht bestreiten“, beteuert er. Inzwischen kommen 75 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus dem Dienstleistungsbereich, 20 Prozent aus dem Handwerk und nur noch fünf Prozent aus der Land- und Forstwirtschaft. Südtirol zählt zu den wohlhabendsten Gebieten der EU, 2021 betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf 44.054 Euro. Zum Vergleich: in ganz Italien lag das BIP-pro-Kopf 2021 laut Statista bei 35.842 US-Dollar - das waren umgerechnet 31.693 Euro.

Warum kommen so viele Menschen? 

Ursachen für den Übertourismus sieht Oberhofer vor allem in der Werbung. Die Landesregierung selbst bewirbt Südtirol und dazu gibt es noch eine Gesellschaft, die „Innovators. Developers. Marketers. (IDM)“, die das Gebiet weltweit bewirbt. Im Juni 2009 wurden neun Teilgebiete der Dolomiten wegen ihrer weltweiten Einzigartigkeit als serielles Weltnaturerbe in die Welterbeliste aufgenommen. Der Titel bringt Pflichten für das Land mit sich: Schutz und Erhalt des Gebiets, sowie die Sensibilisierung dafür liegt in der Verantwortung der Regierung. Oberhofer sieht die Aufnahme allerdings eher kritisch: „Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich nicht weiß, ob das mehr Fluch als Segen ist. Denn alles, was man in den Fokus stellt, alles, was interessant gemacht wird, was beworben wird und wo Aufmerksamkeit erregt wird, da läuft man Gefahr, dass es überrannt wird.“  Er setzt seine schmale Lesebrille mit blauem Rahmen auf und liest ein Zitat von Hans Magnus Enzensberger vor – „Der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet." Ein paar Sekunden schaut er noch auf das Blatt, als wäre ihm die Bedeutung des Satzes von neuem klar geworden. Dann sagt er: „Ja, das ist einfach eine Wahrheit. Dieses in den Fokus stellen ist etwas ganz Gefährliches.“ Nicht nur das UNESCO - Gebiet, sondern auch ein Nationalpark und sieben Naturparks, die mit 1.800 Quadratkilometern Fläche fast 25 Prozent der Landesfläche ausmachen, stehen unter besonderem Schutz. Auch für zahlreiche Biotope, die per Gesetz vor Umwelteinflüssen geschützt werden müssen, steht die Regierung in der Verantwortung.

„Der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet.“

Hans Magnus Enzensberger

Ganz in der Nähe der drei Zinnen, ungefähr einen halbstündigen Fußmarsch über felsiges Gelände, vorbei an Tourist*innen aller Herren Länder, erreicht man einen weiteren Hotspot: die Cadini di Misurina. Das Felsmassiv sieht nicht aus wie eins, die Spitzen ragen wie tausend Messer zackig, spitz und grau in den Himmel. Ein einzelner, grasbewachsener Fels hängt weit über einem Abgrund. Er wirkt wie eine abgebrochene Brücke. Ein Anblick, der einen vor Demut und Schönheit  erschaudern lassen würde – wenn man die Zeit dazu hätte. Auf dem bewachsenen Felsen ist ein tief ausgetretener Trampelpfad zu sehen. Eine Schlange von Tourist*innen steht wartend an dessen Anfang. Auch hier finden sich die verschiedensten Nationalitäten. Drohnen, Selfiesticks und Kameras sind griffbereit, denn wer ein Foto auf dem Felsen haben will, muss schnell sein. „Others are waiting too! Hurry up!“, ruft ein Münchner Fotograf verärgert aus der Schlange zu den beiden Asiat*innen, die seit etwas mehr als fünf Minuten vor der atemberaubenden Kulisse posieren. Sie kommen nach weiteren fünf Minuten zurückgerannt. Unterdessen sind die nächsten sind schon wieder fast oben angekommen, ihre Drohne ist schon in der Luft.

Dieses Phänomen nennt sich Instagram-Tourismus und ist ein maßgeblicher Faktor für den Anstieg der Tourismuszahlen in den letzten Jahren. Dass soziale Medien, die Digitalisierung und Globalisierung unser Leben maßgeblich verändern, ist nichts Neues. Der Einfluss, den sie auf Tourismus nehmen schon. Laut einer Bitkom-Studie haben sechs von zehn Personen im Urlaub ein Ausflugsziel gewählt, um davon ein Foto in sozialen Netzwerken teilen zu können. 20 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie für ein gutes Foto sogar Verbote und Absperrungen ignorieren. Durch Reels, TikToks und Co. können Orte innerhalb von kürzester Zeit tausenden, manchmal sogar Millionen Menschen auf sozialen Netzwerken ausgespielt werden. Nicht nur werden die Orte dadurch beworben, manchmal werden sie unweigerlich zu einem Hotspot für Instagram-Tourist*innen. Auch Oberhofer kann davon berichten: „In Villnöß durfte ich als Junge in den Sommerferien bei einem Bauern die Kühe hüten. Dort gibt es ein Kirchlein, ‚Ranui Kirchlein‛ heißt das. Das hat jemand irgendwann auf so ein soziales Netzwerk gestellt und in kürzester Zeit sind Millionen von Menschen in dieses kleine Seitental gekommen. Und die kamen von überall. Sie sind in die Wiese von diesem Bauern reingerannt, ohne zu fragen, stellten sich hin, machten ein Selfie und waren wieder weg. Da muss man sich doch fragen: Was sind das für Menschen? “, empört er sich. 

Josef Oberhofer sieht den „tipping-point“ schon längst erreicht. Das Gespür für ein vernünftiges Maß sei verloren gegangen. Durch den Wohlstand wollten die Hotels und Betriebe immer größer werden. „Durch diese Übergröße, haben sie jetzt natürlich auch Probleme: Sie sind gezwungen, sie ständig zu füllen, denn wenn sie nicht ständig ausgelastet sind, dann arbeiten sie im Defizit, denn sie brauchen das Personal. Also; jetzt schlägt das System zurück.“ Der Übertourismus ist nahezu ein Muss für die Region und vor allem für die Wirtschaft geworden, er ist nicht mehr wegzudenken.

Auch die Landesregierung hat das Problem erkannt, so kann man meinen. Im September 2022 hat sie einen Bettenstopp verhängt. Allerdings mit Einschränkungen; bis zum April 2023 konnte die Erhöhung der Bettenanzahl von Betrieben beantragt werden, sodass der Bettenstopp erst spät greifen wird. Auch das Landestourismusentwicklungskonzept 2030+ beschäftigt sich mit einer für die Zukunft „neuen Tourismuskultur“ und stellt Soll-Szenarien auf. Alle Bereiche sollen angegangen werden; Mobilität, Unterkünfte, Umwelt und Biodiversität, Energie und Klimaschutz – eine Mammutaufgabe. „Südtirol befindet sich in der schwierigen Position zwischen der Aufrechterhaltung erreichter Erfolge einerseits und dem Einleiten großer Veränderungsschritte andererseits“, so im Landestourismusentwicklungskonzept 2030+. Josef Oberhofer wünscht sich – wie viele andere Einheimische auch – ein „weniger“: „Das Problem ist die Masse. Der Tourist als solcher, geht gut. Und den wird es auch hoffentlich immer geben, wir sind ein Tourismusland und leben davon. Aber wir müssen eben eine neue Strategie einleiten.“

Spitze Berge im Hintergrund, im Vordergrund eine Schlange Tourist*innen, die auf ein Foto warten.
Wer ein Foto mit den Cadini-Spitzen haben möchte, sollte Geduld und die Pose schon mitbringen. | Quelle: Celine Urban
Viele Tourist*innen auf einem Wanderweg.
Beim Umrunden der drei Zinnen muss man sich den Wanderweg mit vielen anderen teilen. | Quelle: Celine Urban
See und Berg im Hintergrund, vor dem See stehen Selfie-machende Tourist*innen.
Auch am Pragser Wildsee – bekannt durch eine Serie mit Terence Hill - boomt der Instagram-Tourismus. | Quelle: Celine Urban