Selbstoptimierung

Optimieren um jeden Preis

Fitness-Tracker zeichnen Daten wie die Herzfrequenz, den Puls und die Schrittanzahl auf.
16. Mai 2021
Selbstvermessung soll zu mehr Fitness, gesünderem Essverhalten oder tieferem Schlaf führen. Der Gedanke der Selbstoptimierung ist zu einem modernen Leitbild unserer Gesellschaft geworden. Aber wollen wir wirklich immer besser werden?

Ohne besondere Begabung einen Einser-Schnitt im Abitur erreichen - das verspricht ein etwa siebenstündiger Videokurs von Erfolgscoach Joe. Der Workshop richtet sich an 16- bis 18-jährige Schüler*innen, die kurz vor dem Abitur stehen. Der reguläre Preis: stolze 493 Euro. Immerhin wird versprochen, dass die Schüler*innen mit dem perfekten Notenschnitt den ersten Grundstein für ein erfolgreiches Leben legen. Vor vier Jahren bin ich per Zufall auf den Kurs gestoßen - als ich 16 Jahre alt war und mich demnächst auf das Abi vorbereiten sollte. Einen Einserschnitt wollte ich nie erreichen und hätte ich den Zugang wegen einem damaligen Sonderangebot nicht kostenlos bekommen, hätte ich auch nicht teilgenommen. Ich war aber davon überzeugt, dass ich durch etwas mehr Disziplin, Organisation und Lerntechniken meinen Traumstudienplatz und vielleicht auch ein erfolgreicheres Leben erreiche. Der Erfolg solcher Workshops zeigt, dass der persönliche Optimierungswille schon im Jugendalter besteht und durch solche Angebote gefördert wird. Die Selbstoptimierung hat sich zum Leitmotiv unseres Lebens etabliert. Ein erfülltes oder erfolgreiches Leben garantiert sie aber nicht.

Die Zeit während der immer wiederkehrenden Lockdowns lässt sich zum Beispiel für solche Coachings nutzen. Nach einer Umfrage bedeutete der erste Lockdown im vorigen Jahr für rund ein Drittel der Befragten Zeit für persönliche oder berufliche Weiterentwicklung. Inspirationen für den Zeitvertreib erhält man von allen Seiten. Die Werbung empfiehlt das perfekte Programm, um endlich eine neue Sprache zu lernen. Influencer wollen einen durch tägliche Workout-Livestreams vom Sofa zerren und Meditations-Apps bieten kostenlose Testwochen an. Das Bananenbrot schmort im Ofen, der Ausnahmezustand bleibt. Statt zu versuchen, sich an die Isolation zu gewöhnen oder sie zumindest zu verarbeiten, sollte man sie anscheinend lieber ausnutzen. Soweit die Erwartungshaltung.

Die Natur des Optimierens

Doch auch wenn gerade keine Pandemie herrscht, wird ständig weiterentwickelt und verbessert. Per Definition heißt Optimieren: zu versuchen, stets das Beste unter gegebenen Voraussetzungen zu erzielen. In der Praxis kann die Prozessoptimierung beispielsweise Schwachstellen erkennen und später Zeit und Geld sparen. Das Verbessern von Maschinen kann die Qualität des Produkts steigern. Bei der Selbstoptimierung soll aber weder Prozess noch Technik, sondern der Mensch selbst verbessert werden. Der aktuelle Zustand scheint immer ungenügend zu sein, das Optimierungspotenzial ist unendlich. Denn für Ideale wie Gesundheit, Schönheit oder Glück lässt sich kein allgemeingültiges Optimum festlegen.

Das Streben nach Verbesserung ist kein neues Phänomen. Schon immer versucht der Mensch den gesellschaftlichen Idealen zu entsprechen. Das Bild des perfekten Menschen hat sich im Laufe der Geschichte jedoch ständig verändert. Schon rein ästhetisch: In der Antike war es der Athlet, im Barock der füllige Körper. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Nietzsche die Vorstellung des Übermenschen, welcher laut dem Philosophen durch Züchtung und Vernichtung Missratener gestaltet werden solle. Eine ganz neue Dimension des Optimierungsgedanken brachte die Theorie der Eugenik, die die Nationalsozialisten später folgenreich umsetzten. Sie nahmen Nietzsche beim Wort und vernichteten Millionen als „rassistisch minderwertig“ betrachtete Menschen. Statt auf ganze Völker bezieht sich der Optimierungsgedanke heute immer stärker auf uns selbst. Der eigene Körper wurde in allen gesellschaftlichen Schichten zum Optimierungsobjekt und die aktive Selbstbearbeitung zum modernen Leitbild.

Messen, Auswerten, Verbessern

Technische Hilfsmittel zum Aufzeichnen der Laufstrecke, der Kalorienzufuhr oder auch des Schlafrhythmus' spielen eine immer größere Rolle bei der Selbstoptimierung. Im Jahr 2015 gaben 15 Prozent der Befragten ab 16 Jahren an, zumindest gelegentlich eigene Fitness-Daten zu messen. 2019 hat sich mit 29 Prozent die Anzahl der Nutzer von Fitness-Trackern fast verdoppelt. Für manchen ist es die faszinierende Technik am Handgelenk, ein anderer will seine Werte kontrollieren können oder strebt sportliche Verbesserungen an. Selbstvermessung hat den Vorteil, dass sie direkt zur Selbstoptimierung anleiten kann. Eine neue Bestzeit zu erreichen, erfüllt den Sportler und bringt ihn seinen Zielen näher. Und wer die eigenen Daten mit anderen vergleicht, bleibt vielleicht eher ehrgeizig und motiviert.

Gleichzeitig schwirrt im Hinterkopf die Vorstellung, dass der Körper im aktuellen Zustand nicht bestmöglich funktioniert, aber durch genug Optimierung störungsfrei laufen würde. Kritisch gesehen kann Self-Tracking auch als Verinnerlichung der ökonomischen Logik verstanden werden. Das Aussehen und die Persönlichkeit werden zur Ressource. Der Mensch zur*m Unternehmer*in, der*die Bilanz aus seiner Leistungsfähigkeit zieht. Das Ziel ist es, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.

Die Gesellschaft fordert Selbstoptimierung

Die Natur des Menschen ist nicht allein für das Streben nach Selbstoptimierung verantwortlich. Was es zu verbessern gilt, orientiert sich in der Regel stark an gesellschaftlichen Normen. Als Beschleuniger des Optimierungsgedankens gilt die neoliberale Gesellschaft. Mit der neoliberalen Wende ab den 1970ern etablierte sich anstelle des Interventionsstaats die freie Marktwirtschaft. Als Folge wurden staatliche Sozialleistungen zunehmend abgebaut, was die Bürger zu mehr Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft bewegte.

Das fordern beispielsweise auch Bonusprogramme deutscher Krankenkassen. Vorsorgeuntersuchungen, bestimmte Impfungen oder die Mitgliedschaft in einem Sportverein werden in Form von Rückzahlungen entlohnt. Mehr Eigenverantwortung fördert die eigene Gesundheit und kann das Gesundheitswesen finanziell entlasten. Gleichzeitig wird Krankheit als mangelnde Bereitschaft zur Selbstoptimierung dargestellt. Jeder kann zwar frei entscheiden, wie er oder sie das Leben gestalten will. Aber ist man noch frei, wenn einem die Freiheit als Aufgabe auferlegt wurde?

Problematisch wird Selbstoptimierung vor allem dann, wenn Nicht-Optimierende diskriminiert werden. Der verinnerlichte Leistungsdruck gibt einem das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, wenn man sich nicht laufend verbessern will. Die eigene Selbstoptimierung darf aber nicht zum eigenen Vorteil gegen Andere ausgespielt werden – auch nicht aus wirtschaftlichen Interessen. Eine Untersuchung der US-Organisation Open Markets zeigt die mögliche Diskriminierung durch unfreiwilliges Self-Tracking am Arbeitsplatz. Danach ist der Versandriese Amazon ganz vorne dabei, was die Überwachung der Mitarbeiter*innen angeht. Kameras zeichnen die Laufstrecken auf und Softwares tadeln die Angestellten, wenn sie zu lange für einen Arbeitsschritt brauchen. Zum einem übt die Selbstvermessung hier Druck auf die eigene Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers aus und bewirkt unfreiwillige Selbstverbesserung. Zum anderen kann der Betrieb auch die Leute ausgrenzen, deren Daten sich in letzter Zeit nicht verbessert haben.

Auch in Krisen soll optimiert werden

Natürlich zwingt einen niemand, eine neue Sprache zu lernen oder Bananenbrot zu backen. Trotzdem fühlt man sich nach einem Blick in die sozialen Medien ertappt, wenn man trotz aller Bemühungen der Fitness-Influencer weiterhin auf dem Sofa bleibt und Omas Kekse futtert, garantiert nicht vegan. Dabei ist jedem klar, dass Vergleiche mit all den inszenierten Bildern und inspirierenden Texten nirgends hinführen. Es scheint aber so, als würde uns die digitale - vermeintlich optimale - Welt in der Krise noch stärker beeindrucken. Wer bei keinem Home-Workout mitmacht oder kein neues Hobby für sich entdeckt, muss sich doch oft dafür rechtfertigen, warum er oder sie nicht das Beste aus der Situation rausgeholt hat.

Das ist gegenüber denen unfair, die die Pandemie hart getroffen hat: Nach wie vor bedroht die Krise Leben und Existenzen. Manche haben Angst vor den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen, manche vor dem einsamen Tod, manche vor beidem. Mit sich zu hadern, ist im Ausnahmezustand wie dem einer Pandemie nicht nur normal, sondern jedermanns Recht. Die Floskel „Wir werden gestärkt aus der Krise hervorgehen“ drückt die gesellschaftliche Verbesserungssehnsucht nahezu perfekt aus.

Selbstoptimierung ist mehr als nur ein Fitness-Trend. Der Verbesserungsgedanke hat sich in uns und der Gesellschaft verankert, freiwillig oder unfreiwillig, mit positiven und negativen Effekten. Persönliche Weiterentwicklung ist essenziell für den Menschen, sie sollte aber nie mit Druck oder Zwang verbunden sein. Man darf nicht vergessen, dass Selbstoptimierung nie persönliche oder berufliche Vorteile garantieren kann. Denke ich als Studentin an den selbstgemachten Stress vor der Abiturprüfung zurück, dann merke ich, wie irrelevant die Mühe um den „optimalen“ Notenschnitt letztlich war. Jeder hat das Recht und die Verantwortung dazu, an sich selbst zu arbeiten. Jeder hat aber auch das Recht auf einen nicht optimierten, vielleicht sogar ungesunden, Lebensstil. Und in Ausnahmesituationen wie der aktuellen reicht es auch zu versuchen, einigermaßen „okay“ statt verbessert aus der Krise zu gehen.