Folgen von Corona

Jetzt nehme ich es ernst

Das Corona-Virus trennt und verbindet Menschen.
06. Febr. 2021
Die Studentin Sandra Maksimovic sieht sich von der Corona-Pandemie nicht persönlich betroffen. Ihren Vater Zeljko dagegen prägt die Angst vor dem Virus. Zwei verschiedene Blickwinkel erzählen über die fatalen Folgen einer Corona-Erkrankung.

Sie blickt aus dem Fenster ihrer Küche. Im Glas reflektiert ihr Spiegelbild. Sie trägt noch immer ihren grauen Pullover und die Leggings, die sie seit gestern anhat. Ein Blick in ihre roten, verheulten Augen verraten, dass sie seit Stunden wach ist. Das braune, lange Haar hat sie sich zu einem Dutt zusammengebunden, als müsse sie den Stress irgendwie wegstecken, sich aufrappeln. Schließlich drückt sie auf den roten Knopf ihres Bildschirms, um eine Sprachaufnahme zu starten: „Kann ich dich heute mal anrufen?“ Sie zögert und erklärt dann weiter: „Ich bin gerade ganz alleine und muss auf den Anruf von der Klinik warten. Ich muss überlegen, ob ich dieses Semester überhaupt noch was mache.“ Die Worte aus ihrem Mund klingen bedrückt, fast schon verwirrt. „Alles ist gerade so scheiße.“ Mit diesem Satz verstummt sie. Sandra Maksimovic legt ihr Handy auf den kühlen Tresen der Küche, ihr Blick immer noch zum Fenster gewandt. Weit weg vom Fenster hört man das rhythmische Pumpen einer Sauerstoffmaschine, die Luft in den ermatteten Körper eines Mannes presst. Es ist Sandras Vater.

Sandras Lächeln scheint an diesem Tag verblasst. Das ist unüblich für sie. Als meine Freundin kenne ich sie als eine Frau, die viel lacht und ihre Mitmenschen durch ihre offene Art und ihre impulsiven Antworten zum Schmunzeln bringt. Sie hat diese glückliche und leidenschaftliche Seite. Dann redet sie viel, wirft mit sarkastischen Sprüchen um sich und steht damit oft im Mittelpunkt des Geschehens. Seit zwei Wochen erlebt man kaum noch diese Seite an ihr. Sandra spricht kaum. Wenn sie redet, dann nur auf eine pessimistische Art. Ihre Trauer hat sie in eine Art Schutzwand verwandelt, an der jede Zuneigung abprallt. Auf Nachrichten antwortet sie nur gelegentlich und kühl. Ohne Smileys und ohne Emotion.

Anfang November 2020 hat das Robert Koch-Institut den 24101. Corona-Toten in Deutschland vermeldet. An dieser Zahl lässt sich die Dramatik und Unberechenbarkeit der Pandemie ablesen. Bis zu den ersten 10.000 durch Corona Verstorbenen dauerte es gut sieben Monate. Die zweiten 10.000 wurden in gerade einmal sieben Wochen von der Virus-Welle überrollt. Um die steigenden Infektionszahlen zu senken, wurden in zahlreichen Ländern Einreisestopps verhängt, in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln wurde die Maskenpflicht eingeführt und das Gastronomiegewerbe mitsamt aller Bars und Clubs musste bis auf Weiteres schließen.

Sandra hilft als Lehramtspraktikantin in einem Kindergarten aus und arbeitet nebenbei noch als Sales Assistentin im Einzelhandel. Angst vor Corona hat sie kaum. „Corona ist auf jeden Fall eine schlimme Krankheit. Aber seitdem ich eine Herzoperation und den Schmerz eines Nierensteins durchlebt habe, fürchte ich mich einfach nicht mehr so stark vor Krankheiten“, erklärt Sandra. Daher geht sie weiterhin jede Woche ohne Bedenken zur Arbeit, berät die Kunden nach Passgrößen und quatscht gelegentlich mit ihren Mitarbeitern – nur jetzt eben mit Maske und stündlichem Desinfizieren. Während Sandra gerade Hosen zusammenfaltet, merkt sie, dass sich ihre Arbeitskollegin merkwürdig verhält. Das gelegentliche Niesen störte sie kaum, doch als die Kollegin sich ständig über ihre schweißbedeckte Stirn fährt, spricht Sandra sie darauf an. Mit einer heiseren Stimme erklärt die Mitarbeiterin, dass sie sich seit heute Morgen unwohl fühle. Der Plausch unter Kolleginnen fällt dem Chef direkt auf. Ohne zu zögern, geht er auf die Arbeitskollegin zu und legt seinen Handrücken auf ihre Stirn. Sie ist glühend heiß.

„Seitdem ich eine Herzoperation und den Schmerz eines Nierensteins durchlebt habe, fürchte ich mich einfach nicht mehr so stark vor Krankheiten.“

Sandra Maksimovic

Trotz Masken-Schutz haben zwei Stunden ausgereicht, damit sich die gesunde, 20 Jahre junge Sandra mit Corona infiziert hat. Ob alt oder jung, das Corona-Virus verschont keinen. Es wird hauptsächlich über virushaltige Partikel übertragen, die von infizierten Personen vor allem beim Husten und Niesen, aber auch schon beim Atmen und Sprechen freigesetzt werden. Nach Lothar Wieler, dem Präsidenten des Robert Koch-Instituts, reichen bereits 15 Minuten neben einer infizierten Person aus, um sich anzustecken. Die dünnen Einwegmasken, die im Einzelhandel an die Mitarbeiter verteilt werden, sind einlagig und haben lediglich eine Filterleistung von 35 Prozent, so Johannes Knobloch, Leiter für Virologie und Hygiene am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die Aerosole, die das Corona-Virus transportieren, können auf Dauer nicht mehr genügend herausgefiltert werden. Bei dreilagigen Masken liegt die Leistung schon bei 89 Prozent.

Nun muss die ganze Familie Maksimovic in eine 14-tägige Quarantäne. Ziel einer Quarantäne ist es, durch Reduktion von Kontakten die Verbreitung des Krankheitserregers zu verhindern. Unter Familienmitgliedern kann eine sofortige Isolierung das Risiko einer Ansteckung durch den Quarantäneverpflichteten verringern. „Für uns stand eine Isolierung innerhalb der Familie nie zur Debatte, weil wir Vorfälle wie diese immer gemeinsam durchstehen. Keiner soll allein gelassen werden“, erklärt Sandra. So hat sich die Familie gegen den gängigen Vorschlag entschieden, in dieser Zeit trotz der Gefahr von einer Ansteckung viel gemeinsam zu unternehmen. Tagsüber kochen sie zusammen, unterhalten sich am Esstisch und telefonieren mit der Verwandtschaft. Abends veranstalten sie einen Film- und Serienmarathon und spielen alle verfügbaren Kartenspiele von UNO bis Activity. „Die Zeit ging schneller vorbei als ich dachte“, bemerkt Sandra. Denn durch die Quarantäne hat sie sehr viel Zeit mit ihrer Familie verbracht.

Von der Außenwelt dagegen zieht sich die Familie stark zurück. Während der Quarantäne treffen sie sich kaum mit jemandem außerhalb der Familie. Tanten und Cousinen kaufen für sie ein und die Eltern arbeiten im Homeoffice. Trotz Isolierung nach außen haben sie das Virus nicht innerhalb des Hauses gestoppt. Ende der Woche hat sich das Corona-Virus hinterlistig seinen Weg in das Haus der Familie Maksimovic gebahnt. Sandra ist schon am Mittag müde und auf einmal schmeckt sie nichts mehr. Das Virus erreicht der Reihe nach auch die anderen Familienmitglieder: Nach einigen Tagen klagt die kleine Schwester ebenfalls über Geschmacksverlust. Die Mutter ist zwei Tage lang bettlägerig krank. Und am Ende trifft das Virus auch den Vater. Denjenigen, der am meisten Angst vor dem Virus hatte.

Als Vater zweier Töchter nimmt Zeljko oft die Rolle des starken Beschützers ein. Ein Ebenbild seiner großen Statur. Sein Charakter ist dagegen gar nicht so straff und böse, wie er scheinen mag. Zeljko hält sein Umfeld durch seine Witze immer bei Laune, fast schon wie seine Tochter. Vor allem bei Jugendlichen kommt er mit seiner jungen und lässigen Art gut an. Sandra nennt ihn auch „eine Labertasche“, weil er oft in seinen Geschichten abschweift. Seine Zeit verbringt er am liebsten mit Freunden und der Familie. Seit der Corona-Pandemie ist er wie ausgewechselt. Zeljko trifft sich weder mit Freunden noch mit Verwandten. Zum Einkaufen schickt er entweder die Tante oder seine beiden Töchter. Wenn er einen Fuß aus dem Haus setzt, achtet er streng auf die Hygieneregeln und trägt ununterbrochen eine Maske. „Für mich ist Corona eine sehr ernst zu nehmende Krankheit und man sollte Respekt vor ihr haben. Man weiß nie, wie es bei jedem Einzelnen verläuft.“ Der einst so große und fröhliche Mann wirkt auf einmal klein und traurig. Am meisten aber verängstigt.

„Für mich ist Corona eine sehr ernst zu nehmende Krankheit und man sollte Respekt vor ihr haben. Man weiß nie, wie es bei jedem Einzelnen verläuft." 

Zeljko Maksimovic

Vielen Menschen in Deutschland geht es wie Zeljko. Aus Angst vor einer Ansteckung durch das Corona-Virus verlassen viele ihre Wohnung nicht mehr und waschen sich zwanghaft die Hände. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge gibt fast jeder zweite Deutsche an, „sehr große Angst“ oder „eher große Angst“ vor einer Ansteckung zu haben.

Zum Ende der Quarantäne hin verschlechtert sich Zeljkos Zustand. Sein Atem ist schwer, der Schweiß rinnt ihm am ganzen Körper hinab. Zeljko will dem ein Ende setzen. Er fährt in die Notaufnahme. Ein langer, weißer Gang führt zum Warteraum. Dieser – überfüllt von weißen Kitteln, rollenden Betten und hustenden Menschen. Im Warteraum muss Zeljko erst einmal auf der weißen Sitzcouch Platz nehmen, bis er drankommt. Vor ihm rennen die Krankenschwestern hin und her und bringen einen Patienten nach dem anderen in den Testraum. Trotz des Chaos empfindet er eine gewisse Ordnung im Krankenhaus: „Alle haben sich Mühe gegeben, das Beste aus der Situation zu machen und für alle Patienten da zu sein.“ Nach ein paar Minuten wird Zeljko beim Nachnamen aufgerufen, in den Testraum zu kommen. Zeljko blickt auf und muss beim Anblick sofort stutzen. Der Arzt ist von Kopf bis Fuß bedeckt: Neben Mund-Nasen-Schutz trägt der Arzt auch einen Augenschutz, der einer Schwimmbrille gleicht. Außerdem trägt er einen Ganzkörperanzug aus blauem Plastik. Bis auf die Augen ist kaum etwas von der Person zu sehen. „Es war ein bisschen befremdlich, dass die Ärzte in Anzügen reinkamen. Man hatte das Gefühl, dass man hochansteckend ist, aber es war auch gut zu sehen, dass die Maßnahmen ernst genommen werden“, erzählt Zeljko. Die Verkleidung ist für Ärzte notwendig, da das Corona-Virus auch auf Oberflächen haften und im Krankenhaus dann möglicherweise von einem Raum zum nächsten übertragen werden kann. Zur Unterbindung der Krankheitserreger wird der Plastikanzug deshalb auch nach jeder Behandlung ausgewechselt.  

Gegenüber von Zeljko hat der Arzt auf einem blauen Drehsessel Platz genommen. Aus der Schublade zieht er einen weißen Streifen heraus. „Wir beginnen mit einem Schnelltest.“ Schnelltests funktionieren ähnlich wie ein Schwangerschaftstest. Ein Rachenabstrich wird auf einem Streifen aufgetragen, der nach wenigen Minuten eine Farbe anzeigt, die dem Erkrankten zeigt, ob er mit dem Corona-Virus infiziert ist. Bei Zeljko wird ein Antigentest durchgeführt, der nach Proteinen und Bausteinen des Virus sucht. So ein Test zeigt an, dass das Virus im Körper des Patienten unterwegs ist. Der Streifen ändert seine Farbe. Das Resultat ist negativ. Zeljko kann seine Freude förmlich spüren. Seine Gedanken werden vom Arzt unterbrochen: "Können Sie mir noch einmal ihre Symptome nennen?" Zeljko erklärt: "Ich habe oft Schweißausbrüche, Atemnot und Rückenschmerzen" Symptome, die leider alle für Corona sprechen. Aber der Test war doch negativ? Der Nachteil von Antigentests ist, dass sie erst bei einer großen Menge des Erregers anschlagen. So laufen viele Schnelltestes ins Leere. Aufgrund der Symptome entscheidet sich der Arzt für einen richtigen Corona-Virus-Test. Er gibt Zeljko eine Art überdimensioniertes Wattestäbchen, das er sich in den Rachen stecken muss. So unangenehm die Erfahrung auch ist, sie liefert exakte Ergebnisse. Die Proben werden an ein Diagnostiklabor geschickt, das mit einem speziellen Verfahren prüft, ob das Corona-Virus in der Probe nachgewiesen werden kann.

Das Ergebnis kam innerhalb von 24 Stunden per E-Mail an Zeljko. Entgegen seiner Hoffnung ist es positiv. Seine größte Angst wurde zur Realität. Nach zwei Wochen Quarantäne kommen nun noch einmal zwei Wochen Isolierung hinzu. Die Isolierung ist eine behördlich angeordnete Maßnahme bei Erkrankten mit bestätigter Corona-Infektion. Diese 14 Tage verlaufen deutlich langsamer als die ersten zwei Wochen während der Quarantäne. Die anfangs noch spaßigen Kartenspiele sind jetzt langweilig und öde. „Nach drei Tagen habe ich schon gemerkt, dass ich genug von meiner Familie hatte“, sagt Sandra. Das ständige Aufeinanderhocken führt in diesen Tagen zu Streitereien innerhalb der Familie. Am Esstisch wird oft gestritten und alle sind schneller reizbar. Die einzige Lösung scheint eine Isolierung im eigenen Schlafzimmer. 

Nach vier Wochen Quarantäne und Isolierung sollte der Albtraum vorüber sein. Es ist wieder Sonntag, der letzte Tag der Isolierung. Anders als sonst sitzt Zeljko an diesem Morgen sehr ruhig am Esstisch. Gelegentlich nickt er, wenn seine Frau ihm Milch anbietet oder seine Töchter von der Arbeit erzählen. Die meiste Zeit ist er aber still. Plötzlich unterbricht er das Gespräch. „Ich fühle mich heute irgendwie nicht so gut“, sagt Zeljko. Trotz der bizarren Situation scheint die Familie nicht weiter beunruhigt. Sandra schlägt nur prompt vor, dass er sich eine Wärmflasche holen und sich wieder ins Bett legen soll. „Wir dachten, vielleicht hat er einfach Schmerzen, weil er schlecht geschlafen hat.“ Ohne das Frühstück aufzuessen, verlässt Zeljko schweigend den Raum. Bei den Treppen zum Schlafzimmer holt er tief Luft und fängt an, sich am Treppengeländer hochzuziehen. Nach jedem zweiten Schritt stoppt er, um seinen Rücken zu strecken. Nach einer Weile hört man nichts mehr von Zeljko. Verwundert hört Sandras Mutter auf zu reden und alle merken, wie still es im Haus ist. Sandra meldet sich freiwillig, um nach ihrem Vater zu sehen. Als große Schwester ist sie es gewohnt, sich um die Familie zu kümmern. Sei es bei Jungsproblemen ihrer Schwester oder bei sprachlichen Hürden ihrer Mutter, sie sorgt sich um alle. Nur ihr Vater scheint alles selbst geregelt zu bekommen. Als Sandra die Tür einen Spalt öffnet, sieht sie ihren Vater, der sich vor Schmerzen nach vorne krümmt. Ein Schauer überkommt sie: „Hast du starke Schmerzen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, rennt sie auf ihn zu und stützt ihn. „Passt schon“, antwortet Zeljko mit einer zerbrechlichen Stimme, die alles verraten hat. Sandra kann sich auf einmal in ihrem Vater wiedererkennen. Der Schmerz in seiner Stimme erinnert sie an die Zeit, als sie selbst mit einem Nierenstein im Krankenhaus lag. „Ich konnte denselben Schmerz in seiner Stimme hören und in seinem Gesicht sehen. In solchen Momenten muss man einfach direkt handeln.“

Die Autotür stand bereits weit offen, als Zeljko von seinen Töchtern ins Auto gebracht wird. Er kann kaum stehen und muss sich von beiden Seiten an seinen Töchtern abstützen. Zu seinem Glück sind Sandra und ihre Schwester beide sehr groß und können ihn somit zu zweit stützen. Die Haltung von beiden wirkt steif, in den Gesichtern ist die Angst abzulesen. Eingestiegen, Motor an und Sandra düst los wie eine Irre. „Mein einziger Gedanke war: schnell in die Klinik und hoffen, dass alles gut wird.“ Für den Weg braucht man normalerweise zehn Minuten. Sandra schafft es in fünf. Angekommen an der Klinik, bremst Sandra scharf im grauen Haltebereich vor dem Eingang. Der Motor läuft noch, als die Schwester die Tür aufschlägt. Stützend begleitet sie ihren Vater zur Eingangstür, ohne dass Sandra ihre Gedanken zu Ende führen kann. Die Krankenschwester an der Rezeption hat das Geschehen beobachtet und merkt schnell, dass Zeljko vor Schmerz nicht mehr laufen kann. Vor der automatischen Schiebetür bringt sie dem Vater einen Rollstuhl. Kurz darauf kommt auch Sandra angerannt. In der Hektik drückt sie auf irgendeinen Knopf ihres Schlüsselbundes, ohne nachzusehen, ob sie ihr Auto tatsächlich abgeschlossen hat. Ihr einziger Gedanke ist, schnell bei ihrem Vater zu sein. Doch ihre Schwester hält sie vor der Eingangstür auf. „Es bringt nichts, er muss alleine rein.“ 

Die Rollen des Rollstuhls hallen im Gang des Krankenhauses. Es ist derselbe Gang, den Zeljko vor zwei Wochen noch selbst entlanggehen konnte. Nun ist es der Rollstuhl, der ihn durch den Gang führt. "Man fühlt sich einfach hilflos", erinnert sich Zeljko. Vor seinen Augen scheint die Menschenmenge zu verblassen, bis sie nur noch eine graue Masse ist. Die Krankenschwester versucht ihn zu beruhigen, jedoch kann er der Stimme nicht folgen. Seine Augen sind wie blind und seine Ohren wie taub. Innerhalb von wenigen Sekunden wird Zeljko in den Testraum geführt, wo ein Antikörpertest angeordnet wird. Diese Schnelltests können anhand von Immunkörpern herausfinden, ob Zeljko bereits mit Corona infiziert war. Dann wäre er erst einmal immun gegen das Virus. Die gute Nachricht: Über die 14 Tage hat Zeljkos Immunsystem Antikörper gegen das Virus aufgebaut. Er ist nicht mehr infiziert. Die schlechte: Die Schmerzen deuten auf eine Lungenentzündung hin, die nach Corona auftreten kann.

Im Auto wird es langsam kalt. Die Fensterscheiben sind beschlagen. Es sind zwei Stunden vergangen, seitdem die Schwestern ihren Vater an die Krankenschwester abgegeben haben. Sie wissen nicht, wie lange er in der Intensivstation bleiben wird und überlegen, nach Hause zu fahren. Gleichzeitig wollen sie aber auch für ihren Vater da sein, falls er sie braucht. "Ich hatte Angst, dass ich die Tage etwas übersehen hatte und ihm jetzt etwas zustößt", sagt Sandra. Nach langem Zögern greift sie nach ihrem Schlüssel und startet den Wagen. Ihre Mutter ist seit zwei Stunden allein zu Hause und muss sich große Sorgen machen. 

Die Mutter steht schon vor der Haustür. Vor Nervosität tritt sie von einem Bein auf das andere. Ihre Augen sind voller Fragen. „Was ist mit Zeljko?“, fragt sie. „Wir wissen es noch nicht.“ Eine Antwort, die keinem gefällt. Vor einem Tag saßen noch alle gemeinsam am Esstisch und haben Karten gespielt. So schnell hat sich das Blatt gewendet. Die Familie sitzt nun ohne Zeljko am Esstisch. Keiner will etwas sagen. Sie plagt das Schuldgefühl, dass sie Zeljko die ganze Zeit über nicht ernst genommen haben. Erst gestern nannte Sandra ihren Vater „das Sorgenkind der Familie“, einer, der immer etwas übertreibt. „Wir haben alle gesagt, wenn ihm was passiert, würden wir uns das nie verzeihen“, sagt Sandra. Alle sind in einer Art Schockstarre und schweigen sich einfach nur an.

Langsam wird es draußen dunkel. Die weißen Vorhänge haben sich schwarz gefärbt. Die kleine Schwester sitzt am Esstisch und schläft fast auf ihrem Arm ein. Sandra sitzt dagegen auf der beigen Couch im Wohnzimmer. Sie kann nicht schlafen und schaut seit Stunden auf ihr Handy. Neben ihr liegt der Kater Mirko, der sich an sie schmust. Sandra streichelt ihn, ohne ihn wirklich zu beachten. Mirkos Pfoten zucken, das Fell zittert und zwischendurch schnurrt er leise. Er träumt. Plötzlich wird er aus seinem Schlaf gerissen. Das laute Vibrieren von Sandras Handy hat ihn aufgeschreckt. Sandra schreit: "Papa hat geschrieben." Jetzt sind alle wach. Von oben hört man, wie die Mutter fast aus dem Bett fällt und die Treppen herunterrennt. Auch die Schwester schreckt auf und stürzt sich ins Wohnzimmer. Um 19 Uhr endlich eine Nachricht von Zeljko: “Es geht mir sehr schlecht. Mein Zustand ist kritisch.“ Die Textnachricht ist das einzige Lebenszeichen, das die Familie nach sieben Stunden von Zeljko erhalten hat. Sie beginnen zu weinen. Alle aufgestauten Tränen drängen nach draußen. Es ist, als ob sie durch das Unwissen gelähmt waren und es jetzt kein Halten mehr gibt. 

Die Maske erlaubt Sandra, ihren Alltag zu meistern.

Reglos liegt Zeljko auf dem kalten, harten Bett der Intensivstation. Er wurde in ein Zimmer mit einem älteren Mann eingeteilt, der Corona-Patient war. Da Zeljko zuvor auf den Antigentest positiv getestet worden war, ist er nun erst einmal immun gegen die Krankheit. Im Vergleich zu anderen Ländern Europas hat Deutschland eine hervorragende Bettenreserve, davon ist aber ein erheblicher Anteil durch den Ansturm von Corona-Infizierten belegt. Aus Platzgründen müssen sich auch früher positiv getestete Patienten mit Corona-Infizierten ein Zimmer teilen. Trotz Mitbewohner fühlt sich Zeljko allein. Corona hat ihn von seinen Kindern und seiner Frau getrennt. „Man fühlt sich ja noch sicherer, wenn die Familie einen besuchen kommen kann. Das war leider nicht möglich und hat die Situation für mich schlimmer gemacht.“ Normalerweise sind Besuche auf der Intensivstation erlaubt und für das Wohl der Patienten von großer Bedeutung. Die Corona-Pandemie hat die Länder gezwungen, Besuchsverbote in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu verhängen. Das Alleinsein macht Zeljko Angst. Er kann kaum schlafen und sich nicht mal hochstemmen, um nach seinem Handy zu greifen. Mit viel Mühe schafft er es doch noch, sein Handy zu nehmen. Gerade als er seiner Familie schreibt, wird er von blau gekleideten Ärzten unterbrochen. Noch am selben Tag ist eine Röntgenaufnahme angeordnet, die seine Lunge untersuchen soll.

Sandra blickt aus dem Fenster ihrer Küche. Sie hat gerade eine Sprachaufnahme abgeschickt und wartet jetzt seit Langem auf den Anruf von der Intensivstation. Seit der traurigen Nachricht hat Zeljko sich nicht mehr bei der Familie gemeldet. Das Unwissen hat die Familie verrückt gemacht. Trotz Angst und Panik musste der Alltag weitergehen, daher sind Mutter und Schwester schon am Morgen zur Arbeit gegangen. Sandra ist allein mit ihren Gedanken und beschließt selbst im Krankenhaus anzurufen, um herauszufinden, wie es um ihren Vater steht. Zuerst erreicht sie die Rezeption. Ein Mann namens Zeljko Maksimovic sei nicht auf ihrer Station, heißt es am Telefon. Dann wird sie an eine Krankenschwester weitergeleitet. Ihre Hände fest ans Telefon geklammert, zeugen von Wut. Sie holt tief Luft und erzählt mit ruhiger Stimme, dass ihr Vater gestern in die Intensivstation eingeliefert wurde. „Ich kann auch später noch mal anrufen, wenn es jetzt nicht passt.“ Kühl und emotionslos antwortet die Ärztin: „Sagen sie mir mal den Namen“ Sandra nennt den Namen ihres Vaters. Es folgt eine unerträgliche Stille. Dann kommt nur die Antwort: „Ich bin nicht für ihn zuständig.“ Jetzt ist auch der letzte Geduldsfaden von Sandra gerissen. Wer sei denn für ihn zuständig, entgegnet sie laut. Daraufhin legt die Ärztin prompt auf.

Die Röntgenuntersuchung bestätigt die vermutete Lungenentzündung. Was niemand erwartet: Zudem hat sich eine Lungenembolie bei Zeljko gebildet. Bei bettlägerigen Covid-19-Patienten steigt das Risiko von einer Thrombose, die sich durch eine gesteigerte Blutgerinnung entwickeln kann. 14 Tage lang konnte sich Zeljko während der Isolation kaum aus dem Bett bewegen. Die fehlende Bewegung führte dazu, dass sich eine Thrombose gebildet hat, die das Blutgerinnsel in die Lungenarterien transportierte. Das eingeschwemmte Blutgerinnsel führt dann zu einem Verschluss einer oder mehreren Lungenarterien. Der Verschluss einer großen Lungenarterie kann sogar lebensbedrohlich sein. So sterben mehr als 15 Prozent der Betroffenen, bei denen gleich zu Beginn der Lungenembolie schwere Kreislaufprobleme eintreten.

Die Schmerzen sind bei Zeljko so groß, dass er sich nicht einmal aufrichten kann. Er kann nicht selbst auf die Toilette gehen, muss gewaschen werden und kann nicht einmal alleine essen. „Ich fühlte mich wie ein hilfloses Baby und gleichzeitig wie ein alter Mann vor dem Sterben“, erzählt Zeljko. Entgegen der Erfahrung von Sandra empfindet Zeljko die Pflegekräfte als nett und freundlich. „Sie hatten alle keine Berührungsängste, trotz Corona.“ An einem Tag besucht ihn sogar eine Seelenbetreuerin, die ihm Fragen zu seiner Psyche stellt. Da die Patienten in Corona-Zeiten alle auf sich allein gestellt sind, geben sich die Ärzte trotz der zusätzlichen Arbeit viel Mühe, um sich auch die Psyche der Patienten zu Herzen zu nehmen. Und das, obwohl die Intensivstationen in Deutschland seit der Zunahme der Covid-19-Patienten sehr ausgelastet sind. Viele Kliniken fangen daher an, ihre Abläufe umzustellen. Ärzte müssen mittlerweile an vielen Stellen nur Aufgabenbereiche und Ziele vorgeben. Die Pflegekräfte füllen die Aufgaben dann handwerklich aus und erreichen die vorgesetzten Ziele teilweise selbstständig. Sie geben alle jeden Tag ihr Bestes und lassen ihre Angst vor Corona zu Hause.

Nach langer Zeit sieht man Sandra wieder lächeln. Ich bin heute zu Besuch bei ihr zu Hause, weil sie Geburtstag hat. Dieses Jahr hat sie sich nichts gewünscht. Denn ihr größter Wunsch ist bereits in Erfüllung gegangen. Ich laufe hinter Sandra durch die Küche ins Wohnzimmer. Ein Mann winkt mir zu. Es ist Zeljko. Er begrüßt mich offenherzig und macht schonungslos Witze über Sandra. Alle lachen. Am Ende des Abends erzählt mir Sandra, dass ihr Vater jede Woche zur Reha geht, um seine Muskeln wiederaufzubauen. Auf die Frage, was sich seit dem Vorfall geändert hat, antwortet Sandra: "Jetzt nehme ich es ernst."