Ernährungsmythen

... oder hast du schon mal einen Hasen mit Brille gesehen?

Wenn der Hase die Karotten gegessen hätte, würde er dann keine Brille tragen?
20. Mai 2021
Ernährungsmythen werden oft zu unwissenschaftlichem Aberglauben degradiert. Doch entsprechen sie tatsächlich nie der Wahrheit? Und was haben der Zweite Weltkrieg, eine verrutschte Kommastelle und die Franzosen mit der Entstehung solcher Ernährungsmythen zu tun?

Ob im Kuchen, Salat oder als gekochtes Gemüse – Karotten werden auf vielfältige Weise zubereitet. Eltern versuchen so, ihren Kindern das Gemüse schmackhaft zu machen. Dabei fällt oft der Spruch: „Du musst viele Karotten essen, die sind gut für deine Augen. Oder hast du schon mal einen Hasen mit Brille gesehen?“ Doch wie kommen Eltern eigentlich darauf?

Im Zweiten Weltkrieg setzten die Briten bei einem Angriff auf die Deutschen erstmals ein mobiles Radarsystem in Flugzeugen ein, das zur Navigation verwendet wurde. Somit konnten zielgerichtete nächtliche Angriffe geflogen werden. Die Deutschen fragten sich, weshalb die Briten immer so früh von ihren Flugzeugen wussten. Um die Erfindung geheim zu halten, gaben die Briten als Erklärung an, dass die Piloten viele Karotten essen würden und deswegen nachts so gut sehen könnten. So entstand der Mythos, dass Karotten unsere Sehkraft verbessern würden.

Dieser hält sich bis heute hartnäckig in unserer Gesellschaft. Ernährungswissenschaftlerin Prof. Dr. Andrea Henze erklärt, dass Karotten ein guter Vitamin-A-Lieferant seien, da sie dessen Vorstufe, das Beta-Carotin, enthalten. Eine Karotte könne zwar keine Fehlsichtigkeit korrigieren und damit eine Brille ersetzen, jedoch leiste Vitamin A einen Beitrag zur Aufrechterhaltung einer normalen Sehkraft. Ein Vitamin-A-Mangel könne zu Nachtblindheit und im schlimmsten Fall zu vollständiger Erblindung führen. In Deutschland trete ein solcher Mangel jedoch fast nie auf.
Der Karotten-Mythos ist nur einer von vielen Ernährungsmythen.

Entstehung und Verbreitung von Mythen

Ernährungspsychologe Prof. Dr. habil. Christoph Klotter definiert Ernährungsmythen als Geschichten, die das Gegenstück zu Rationalität und Wissenschaft darstellen. Sie werden kulturell geformt und entstehen kollektiv über Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Auch Ernährungsmythen über Fleisch stellen solch eine kulturelle Produktion dar.

Der Verzehr von Fleisch war früher ein Wohlstandsindikator einer Gesellschaft. Zudem signalisiere Fleischkonsum Überleben und Männlichkeit: Ein Mann brauche starke Nahrung, um sich von seiner außerhäuslichen Leistungskraft regenerieren zu können. Jeden Sommer, wenn der Mann am Grill steht, werde dieser Mythos reproduziert. Damit etabliere sich also auch ein Geschlechterrollenverhältnis, beschreibt Klotter.

Je länger ein Mythos fortdauert, desto mehr verankere er sich im gesellschaftlichen Bewusstsein. Die hierfür notwendige Voraussetzung bestehe darin, dass er weitererzählt werden muss. Klotter erklärt, dass ein Ernährungsmythos durch mündliche Überlieferung oder durch praktisches Tun weitergegeben werde. Bereits im Kindesalter integrieren wir Mythen oft unbewusst in unseren Alltag.

„Kultur ist entscheidender als die Wissenschaft.“

Christoph Klotter, Ernährungspsychologe

Mythen können sich lange in unserer Gesellschaft halten, obwohl es immer wieder neue Studien gibt, die einige dieser Geschichten falsifizieren. Klotter meint, dass die Kultur entscheidender sei als die Wissenschaft und die Forschung nur begrenzt Einfluss auf das Essverhalten habe. Spinat verdeutliche dies sehr gut.

„Ein gutes Beispiel, an dem man sieht, dass Wissenschaftler nicht unfehlbar sind“, so Henze. Spinat galt jahrzehntelang als besonders eisenhaltig, da während einer Eisenuntersuchung angeblich ein Komma verrutschte. Ein Forscher machte unabsichtlich aus einer 3,5 eine 35. Spinat war somit das Superfood schlechthin, was auch die Comic-Figur „Popeye“ in der gleichnamigen Serie vermittelte. In Wirklichkeit enthält Spinat nicht mehr Eisen als andere Gemüsesorten. Wissenschaftler*innen haben den Fehler bereits vor vielen Jahren entdeckt und korrigiert, aber die Wahrheit hatte nicht die Kraft, sich gegen den bereits entstandenen Mythos durchzusetzen.

Karotten sind gut für unsere Augen. Eine Brille können sie jedoch nicht ersetzen.
Jeden Sommer das gleiche Bild: Der Mann steht am Grill und die Frau schenkt Getränke aus oder macht Salate.
Die Comic-Figur Popeye entwickelt durch Spinat ungeahnte Kräfte. Bei Menschen erzielt das Gemüse jedoch nicht den gleichen Effekt.

Das Bier steht für Deutschland

Jede Kultur definiert sich über bestimmte Lebensmittel. Schon vor etwa 2000 Jahren beschrieb der römische Geschichtsschreiber Tacitus Deutschland als Land der Biertrinker. Auch heute ist Bier das beliebteste alkoholische Getränk der Deutschen. Mit dem Bier kommt aber auch der Bierbauch, oder?

Alkohol hat viele Kalorien. Bier enthalte zwar relativ wenig Alkohol, jedoch kommen noch einige Inhaltsstoffe dazu, die den Kaloriengehalt anheben, so Henze. Zudem werde Bier meist in größeren Mengen konsumiert. Dennoch könne man nicht pauschal sagen, dass Bier direkt einen Bierbauch verursache, betont Diätassistentin Victoria Sicheneder. An welchen Körperstellen sich das überschüssige Fett anlagert, sei größtenteils genetisch determiniert.

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Bier hat auf den ersten Blick verhältnismäßig wenig Kalorien. Doch der Schein trügt. | Quelle: Anika Geiger

Menschen suchen Ausreden

Mythen seien in der heutigen Gesellschaft gerade dann zur Stelle, wenn Essbares problematisch wird. Das spiegle sich auch in ihrem Rechtfertigungscharakter wider. Sicheneder spricht von „Ausreden, die wir uns selbst einreden“. Ein typisches Beispiel hierfür stelle der Mythos, dass Schnaps unsere Verdauung unterstütze, dar.

Alkohol beeinflusse und blockiere im Gehirn Bereiche, die für die Verdauung zuständig sind, erklärt Sicheneder. Der Körper sei somit in erster Linie mit dem Abbau des Alkohols beschäftigt und vernachlässige daher die Verdauung. Somit könne der Mythos ganz klar widerlegt werden. Henze vermutet seine Herkunft darin, dass der Alkohol den Magen ein wenig betäube und man deshalb das Völlegefühl nicht mehr so stark wahrnehme. „Der Schnaps ist also eine Art Narkotikum für den Magen.“

Psychisches Wohlbefinden verlängert das Leben

Auch die Psyche spielt bei Mythen eine Rolle. Man hört zum Beispiel oft, dass ein Gläschen Rotwein am Tag gesund für unser Herz sei. Dieser Mythos geht Hand in Hand mit dem „Französischen Paradoxon“. Franzosen trinken viel Wein und haben schlechtere physiologische Werte als die Deutschen, erklärt Klotter. Dennoch weisen sie eine höhere Lebenserwartung auf. Dies liege daran, dass sie relativ oft in der Gemeinschaft essen und trinken und deshalb einen verstärkten sozialen Rückhalt haben. Ein genussvolles Leben könne also durchaus eine präventive Wirkung entfalten. Für die vermeintlich positiven Wirkungen des Rotweins wird der darin enthaltene sekundäre Pflanzenstoff Resveratrol verantwortlich gemacht. Laut Henze nehme man jedoch nur Spuren zu sich und so viel Rotwein könne man gar nicht trinken, um die negativen Effekte von Alkohol zu kompensieren.

Subjektiv betrachtet hilft der Schnaps den meisten Menschen bei der Verdauung. Jedoch ist genau das Gegenteil der Fall und der Absacker hemmt die Magenentleerung.
In Geselligkeit Rotwein zu trinken kann sich positiv auf die Psyche und somit auch auf die Gesundheit auswirken.

„Mythen haben durchaus ihren pädagogischen Reiz.“

Andrea Henze, Ernährungswissenschaftlerin

Ernährungsmythen prägen auch heutzutage das Essverhalten und schaffen kulturelle Zugehörigkeit. Henze glaubt zudem, dass solch aussagekräftige Formulierungen wie Mythen eine positive Ernährung unterstützen können. „Sie haben durchaus ihren pädagogischen Reiz und sind ja auch nie zu 100 Prozent falsch.“ Gerade weil Mythen aber auch ein gesundheitsschädliches Verhalten fördern können, scheint den Expert*innen zufolge mehr Aufklärung unabdingbar. Sicheneder wünscht sich diese bereits im Kindesalter.