Eitelkeit

Ich bin eitel. Ich bin höflich.

Eine Schicht Make-up vom Gegenüber entfernt: Warum wir dazu stehen sollten, eitel zu sein.
25. Febr. 2021
Die Haare werden länger, die Kleidung bequemer und um Schminktische wird ein großer Bogen gemacht. Die Pandemie beweist: Wir machen uns nicht für uns selbst schön, sondern für andere. Wir Menschen sind eitel und das ist auch gut so.

Es ist 19:27 Uhr, ich stehe in dem Zimmer meiner besten Freundin, mein Gesicht so nah am Spiegel, dass ich mir fast die gepuderte Nase daran plattdrücke. Sie sitzt auf dem Boden und glättet sich die Haare. Wir haben noch 20 Minuten Zeit, bis wir uns mit unseren Freunden treffen: Wir gehen aus. Es klopft und die kleine Schwester meiner Freundin kommt herein. Sie erzählt von ihrem Tag, setzt sich auf das Bett ihrer großen Schwester und beobachtet uns beim Herrichten. Ich kann sie durch den Spiegel sehen. Nach einiger Zeit fragt sie: „Wieso macht ihr das eigentlich?“ Ich verstehe nicht. „Was meinst du?“, frage ich zurück. „Euch schminken. Für wen macht ihr das?“ Meine Freundin macht keine Anstalten zu antworten. Sie ist nicht gerade begeistert davon, dass ihre kleine Schwester uns Gesellschaft leistet. Ich überlege. Eine gute Frage. „Ich mache das für mich. Ich möchte mir selbst gefallen, nicht den anderen“, sage ich. Und ich meine es so. Jetzt, ein Jahr später, korrigiere ich mich: Ich meinte es so.

Denn während des Lockdowns im letzten Jahr konnten wir alle der Wahrheit ins ungeschminkte Auge blicken: Der tägliche Weg zur Arbeit wird ersetzt durch den Gang von Bett zum Schreibtisch. Aus dem gemeinsamen Arbeiten in der Bibliothek werden Video-Konferenzen, bei denen man die Kamera ausgeschaltet lässt. Die Arbeit beschränkt sich auf das Homeoffice und Club-, Bar- und Kinobesuche fallen ins Wasser. Wenn all das entfällt – wozu sich dann schön machen? Wozu sich schminken, schicke Kleidung anziehen und sich aufbrezeln? Für sich selbst? Nein, das machen die wenigsten.

„Ich mache das alles nur für mich. Nicht für andere“, sagte man sich immer wieder. Aber in der Zeit, in der die Menschen tatsächlich nur für sich sind, in der sie wirklich ganz und gar allein mit sich selbst sind, da legen sie nicht viel Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild. Da machen sie das eben nicht nur für sich. Sondern gar nicht.

Wer Maske trägt, braucht keinen Lippenstift

Wenn man dann allerdings mal unter Menschen kommt, dann möchte man aussehen wie aus dem Bilderbuch. Es ist schließlich die einzige Möglichkeit, sich anderen zu präsentieren. Da kann ein Gang zum Supermarkt schon mal zu einer Modenschau werden, wenn die neu-geshoppten Kleidungsstücke ausgeführt werden und vielleicht sogar ein leichtes Make-up aufgelegt wird. Ansonsten wird sich höchstens noch für eine Online-Besprechung mit Kamera-Pflicht schick gemacht. Das ist schließlich eine weitere Möglichkeit, von anderen gesehen zu werden. Da reicht ein hübsches Oberteil allerdings auch wieder aus, die Jogginghose unter dem Tisch ist auf dem kleinen Ausschnitt des Bildschirms ja eh nicht zu erkennen. Danach wird der bequeme Hoodie wieder übergeworfen – man ist ja schließlich zuhause. Ansonsten wird ein großer Bogen um den Schminktisch gemacht. Kein Wunder, dass die Nachfrage nach Make-up 2020 einbrach: Der Verband der Vertriebsfirmen kosmetischer Erzeugnisse ging davon aus, dass die Unternehmen im letzten Jahr durchschnittlich 20 Prozent weniger Umsatz gemacht haben. Kaum überraschend. Wer Maske trägt, braucht nun mal keinen Lippenstift. Da werden, wenn überhaupt, die Augen betont.

Wenn ich wirklich gemeint hätte, was ich gesagt habe und ich mich tatsächlich nur für mich selbst schön machen würde, dann würde ich es doch nicht nur dann tun, wenn mich andere Menschen sehen können, oder? Wenn es tatsächlich nicht um die anderen geht, wieso richte ich mich dann nicht auch zuhause ordentlich her, wenn ich mit mir selbst allein bin?

Ganz klar: Wir machen uns nicht für uns selbst schön, sondern für andere. Für unsere Kolleg*innen, für ein Date, für die Nachbarin, für die Gesellschaft. Das ist aber nicht das Absurde, das ist völlig normal. Absurd ist, dass wir uns das nicht eingestehen wollen. Wir wollen anderen vorgaukeln, dass wir uns nur für uns selbst schick machen. Die Aussage, sich für andere schön-zu-machen, gleicht einem Unsicherheits-Eingeständnis. Es zeuge schließlich von fehlendem Selbstbewusstsein, wenn man sich nur schön macht, um anderen zu gefallen. Macht man sich für andere schön, lenke man doch nur von seinen charakterlichen Schwächen auf sein schönes Äußeres ab. Man sollte das alles selbstverständlich nur für sich selbst tun, wenn überhaupt.

An Eitelkeit nicht zu übertreffen

Doch das ist nicht der Fall. Menschen sind eitel. Wir sorgen uns darum, ob wir gut aussehen, was andere von uns denken könnten und ob ihnen unsere Kleidung und unser Auftreten gefallen. Und dazu sollten wir auch stehen können und dürfen. Liest man allerdings etwas über den Begriff „Eitelkeit“, fällt auf, dass dieser fast ausschließlich negativ behaftet verwendet wird. So sei die Eitelkeit die übertriebene Sorge um die eigene Schönheit. Eitel zu sein bedeute, darauf bedacht zu sein, von anderen wahrgenommen und bewundert zu werden. „Eingebildete Menschen wollen immer nur Lobreden hören“, schreibt auch der französische Autor Antoine de Saint-Exupéry in seinem Büchlein „Der kleine Prinz“. Synonyme für Eitelkeit wären Affigkeit, Einbildung, Gefallsucht und Selbstgefälligkeit. In der katholischen Theologie wird die Eitelkeit zu den Hauptsünden gerechnet, da sie das Denken der Menschen von Gott ab und hin zu sich selbst lenkt. Eitelkeit hat außerdem die veraltete Bedeutung der Vergänglichkeit, Leere und Nichtigkeit. Kurz: Die Eitelkeit sei eine Eigenschaft, die Menschen besser ablegen sollten.

Doch was ist, wenn Eitelkeit in Wirklichkeit gar nichts Schlechtes ist? Was ist, wenn sie nicht nur ein nerviges Mitbringsel eines Menschen, sondern eine wichtige Eigenschaft von uns Individuen ist?

Schon der Psychologe Abraham Maslow setzte die Eitelkeit als Wunsch nach Ansehen und einer Komponente unserer Selbstachtung, die nur von anderen erfüllt werden kann, in der vierten Stufe seiner Bedürfnispyramide fest. Darin beschreibt er die Bedürfnisse und Motivationen der Menschen. Sind die physiologischen Grundbedürfnisse, die zum Überleben unausweichlich sind, gegeben, strebt der Mensch nach Sicherheit, danach nach sozialen Kontakten und danach nach individuellen Bedürfnissen, wie dem Ansehen anderer. In der Erweiterung der Bedürfnispyramide räumt Maslow diesem Verlangen nach Ansehen und Schönheit sogar eine eigene Stufe ein: die ästhetischen Bedürfnisse. Somit ist die Eitelkeit nach Maslow ein grundsätzliches Bedürfnis des Menschen, das uns motiviert und zum Weitermachen anspornt. Das hört sich doch schon besser an. Auch der deutsche Neurologe, Erziehungsberater und Psychologe Leonhard Seif schreibt in seinem Buch „Über Eigenliebe und Eitelkeit“ von 1928, dass die Eitelkeit ein Hilfsmittel für Individuen ist, um die eigene Stellung zu sichern, um Unsicherheiten und Minderwertigkeitsgefühlen abzuhelfen und um den eigenen Ehrgeiz zu fördern.

Die Eitelkeit hat außerdem noch eine weitere, grundlegende Funktion. Szenario: Ich treffe mich mit einer Bekannten und mache mich davor schön. Ich ziehe mir schicke Kleidung an, lege ein Make-up auf und style meine Haare. Dann bin ich vielleicht eitel. Aber dann bin ich auch eins: höflich. Denn dann investiere ich Zeit darin, schön auszusehen für die Person, die ich treffen möchte. Es wäre doch fast unfreundlich, wenn man davon ausgehen würde, dass allein die inneren Werte strahlen sollen, wenn man schon die Möglichkeit hat, dem Gegenüber mit angemessener Kleidung und Körperpflege noch mehr Respekt zu erweisen. Eitelkeit ist ein Zeichen dafür, dass man das Gegenüber ernst-nimmt und schätzt. Mit Jogginghose und ungeduscht aufzutreten, wäre unhöflich. Dann ist es ja im Umkehrschluss nett, wenn man sich über sein Äußeres Gedanken macht und sich herausputzen möchte. Für das Gegenüber. Das wiederum ist die Definition von Eitelkeit. Heißt: Ich bin höflich, wenn ich eitel bin. Schon der Philosoph Friedrich Nietzsche wusste: „Die Eitelkeit ist die Höflichkeitsmaske des Stolzen.“

Das kannst du dir abschminken!

Gewiss denken jetzt einige: „Ist ja schön und gut, aber ich schätze und respektiere meine Eltern und meine Liebsten auch und trotzdem mache ich mich allein für sie nicht schön.“ Und da haben sie recht. Dennoch drückt die Eitelkeit genau das aus. Sie ist höflich, zeigt Respekt und Wertschätzung. Aber respektiert man dann seine Kolleg*innen mehr als seine*n feste*n Freund*in? Natürlich nicht. Allerdings legt man bei den Personen, die einem selbst am Nächsten stehen, die eigene Eitelkeit irgendwann ab. Mal mehr, mal weniger. Logisch: Denn wer schon Magen-Darm-Infekte, unangenehme Treffen mit den Schwiegereltern und Abende mit zu viel Alkohol zusammen erlebt hat, der verliert irgendwann die Eitelkeit und das Optimierungsbedürfnis vor seinen Liebsten. Was bleibt, ist die Liebe. Und das ist gut so. Denn übertriebene Eitelkeit könnte enge Beziehungen auf Dauer sogar belasten: Sie zeugt davon, dass man sich vor dem Gegenüber nicht vollends wohlfühlt.

So trete ich meinem*r Chef*in gerne in Jackett und schick gemacht gegenüber. Distanziert. Mit einer Schicht Make-up vom Gegenüber entfernt. Make-up ist ein wesentliches Attribut von Schauspieler*innen: Sie schminken sich für ihren Auftritt und nehmen die Schminke wieder ab, wenn sie von der Bühne zurück in den Alltag treten. Sie spielen eine Rolle mit dem Make-up im Gesicht. So auch wir: Das Make-up und das Zurechtmachen geben uns Sicherheit und die Möglichkeit, eine selbstbewusste Rolle anzunehmen, ohne anderen einen zu tiefen Einblick in unser Innerstes zu gewähren. Unsicherheiten werden mit einem gutsitzenden Anzug kaschiert oder mit Make-up überschminkt. Wieder zuhause kann der Aufzug entfernt werden – Applaus, Vorhang zu, der große Auftritt ist vorbei. Bequeme Kleidung, abschminken, die Poren können durchatmen und man ist wieder man selbst. Bei seinen Liebsten.

Eitel zu sein, ist also nicht nur höflich, sondern auch ein gewisses Zeichen der Distanz. Je distanzierter ich bin, desto eitler bin ich. Im Umkehrschluss ist es ein Zeichen der besonderen Nähe, wenn wir uns vor unseren Liebsten nicht eitel benehmen. Wenn wir uns bei ihnen auch von unserer scheinbar schlechten Seite zeigen können und wollen und dennoch geliebt werden.

Gut zu Gesicht stehen

Höflichkeit, Respekt und ein Maß der Nähe beziehungsweise der Distanz: nicht gerade die schlechtesten Eigenschaften. Eine gesunde Eitelkeit hat also meiner Meinung nach noch niemandem geschadet. Im Gegenteil: Sie steht uns im wahrsten Sinne des Wortes gut zu Gesicht. Schlussendlich liegt nämlich nichts Falsches darin, sich schön und attraktiv fühlen zu wollen. Von anderen so wahrgenommen werden zu wollen, ist wohl auch das Normalste der Welt. Das wünschen sich sicher die meisten von uns. Also: Lasst uns alle zugeben, dass wir uns für andere schön machen. Und lasst uns dazu stehen, eitel zu sein.