Porträt

Ein halbes Leben auf hoher See

Leo Kanz war über 15 Jahre lang Seefahrer.
20. Mai 2021
Der sowjetische Traum: die Welt außerhalb der Grenze sehen. Der Preis dafür: harte Arbeit, monatelang kein Land in Sicht und die Trennung von der Familie.

1981 ­– Leo ist gerade 19 geworden. Am Hafen von Odessa in der Ukraine betritt er das Schiff, auf dem er seine erste Seefahrt verbringen wird. Es legt langsam ab. Er sieht seine Eltern und seine Freundin am Steg, wie sie immer kleiner werden. Er war noch nie lange von Zuhause weg, vor allem nicht so weit weg. Das Letzte, was ihm durch den Kopf geht: Das werden keine Stunden, Tage oder Wochen. Es wird viel länger dauern, bis er wieder bei seinen Liebsten ist. 40 Jahre später sitzt er mit seiner ganzen Familie am Wohnzimmertisch und schwelgt in Erinnerungen. Ein Porträt über meinen Vater aus seinen Geschichten, die er mir auf Russisch erzählt.

Grenzenlose Welt

Leo wird in Kasachstan geboren, zieht anschließend im Alter von vier Jahren nach Moldawien. Er besucht eine russische Schule und schließt die zehnte Klasse mit guten Noten ab – damals war das die beste Schulbildung. Mit gerade einmal 16 Jahren steht er vor der Entscheidung, wie seine Zukunft aussehen soll. Er erinnert sich zurück: „Es gab ein paar Jungs, die in der Schule einige Jahre über mir waren und danach eine Ausbildung zum Seefahrer gemacht haben. Sie kamen gerade von ihrer ersten Tour zurück und haben von all den Dingen erzählt, die sie gesehen haben. Das hat mich natürlich beeindruckt.“ Im damaligen Moldawien war das etwas ganz Besonderes. Es war für die Bürger*innen der Sowjet Union nicht einfach über die Grenzen zu kommen, für die meisten war das undenkbar. Hinzu kommt, dass man mit dieser Ausbildung damals finanziell gut abgesichert war und sich auch etwas leisten konnte. Mit vielen anderen Berufen kam man nur gerade so über die Runden. „Rückblickend waren das die Gründe, weshalb ich mich für diesen Beruf entschieden habe.“ Natürlich hatte er zu diesem Zeitpunkt eine rosarote Brille auf. Die Belastung, die auf ihn zukommen wird, erkennt er erst viel später. Er entscheidet sich für die Ausbildung zum Seefahrer im Fischfang, der Traum von der grenzenlosen Welt wird Realität.

Bei seiner ersten Überfahrt, die als Praktikum zu seiner Ausbildung gehörte, waren die Ziele des Schiffs die Kerguelen und Mauritius. „Es war ein Feuerwerk an Eindrücken“, so Leo. „Allein schon Menschen zu sehen, die ganz anders aussahen, sich anders gekleidet haben und eine komplett andere Natur zu erleben. Dort habe ich das erste Mal in meinem Leben Palmen und Bananen gesehen.“ In seinem Heimatort waren auch in den Achtzigern, in gewöhnlichen Haushalten, Fernseher und Radio keine Selbstverständlichkeit. Falls man sie besaß, konnten nur sowjetische Sender empfangen werden. Dadurch blieben den meisten Menschen in ländlicheren Regionen der Sowjet Union solche Eindrücke vorenthalten.

Bei seinem ersten Halt erkundet Leo mit seinen Kollegen die Insel Mauritius.
Beim Überqueren des Äquators war es eine alte Tradition in Schmieröl zu baden.
Trotz der körperlichen Anstrengung hatte Leo immer Freude an seiner Arbeit.

Auf See

Doch diese Euphorie lässt irgendwann nach. „Für andere Menschen war diese ‚neue Welt‘ etwas komplett Unantastbares, für mich war es mit der Zeit nichts Besonderes mehr. Ich bin einfach zur Arbeit gegangen und das gehörte dazu." Meistens hat er nicht einmal die Gelegenheit mehr als den Hafen von einem Land zu sehen. Nur selten bekommt die Mannschaft etwas Freizeit, um die Stadt zu erkunden oder sich Sehenswürdigkeiten anzusehen.

Der Großteil der Touren bestand aus harter, routinierter Schichtarbeit auf See. Leo war hauptsächlich für die Aufgaben auf Deck zuständig. Er warf die Netze aus und holte sie wieder ein, reparierte sie und kontrollierte, ob alles nach Plan funktioniert. Eine Arbeit, die volle Konzentration abverlangt, da alle Mechanismen laufen müssen. Von einem Fehler könnte der ganze Fang abhängen. Als Meister war er meistens für eine Gruppe von vier bis fünf Matrosen zuständig, die in seiner Schicht arbeiteten. Es war seine Verantwortung darauf zu achten, dass die Männer bei der Arbeit sicher sind und alle Prozesse laufen. Doch es lief nicht immer alles nach Plan, zum Beispiel wenn ein Sturm aufzog. Wenn Wellen auf das Schiff brachen musste sich die Mannschaft an den Rändern des Decks verstecken bis das Wasser abgeflossen ist, um nicht davon mitgerissen zu werden. Hinzu kommt, dass die Touren meistens auf sechs bis sieben Monate ausgelegt waren. "Immer dieselbe Routine. Kein einziger Halt an Land. Das Höchste der Gefühle waren die Dünen der Sahara, die ich manchmal von weitem aus sehen konnte", lacht Leo. Fänge ausgeladen, neue Lebensmittel eingeladen und getankt wurde mithilfe von anderen Schiffen auf dem Meer.

Für Außenstehende mag das alles nach einer reinen Qual klingen, doch Leo hatte trotzdem immer Gefallen an seinem Beruf. Er verstand die Mechanismen und sah, dass das, was er tat, klappt und zu Erfolgen führt. „Ich war quasi in meiner eigenen kleinen Blase, von dem was ich kannte und gut konnte.“

Der Frachter, auf dem Leo die erste Zeit nach seiner Ausbildung arbeitet.
Auf dem Deck wurde alles für die Fänge vorbereitet.
Oft hatten die Seefahrer mit Stürmen und hohen Wellen zu kämpfen.

Trennung

Eine Sache, an die sich Leo trotz der Routine nie gewöhnen konnte, war der Abschied von seiner Familie. Seine Freundin, die ihn bei seiner ersten Fahrt am Steg verabschiedete, ist ein Jahr später seine Frau. Nach ein paar weiteren Jahren haben sie zwei Söhne. „Der Abschied tat genauso weh und das Wiedersehen war genauso schön wie beim ersten Mal. Daran gewöhnt man sich nicht.“ Mit der Zeit lernt Leo seine Emotionen und Gefühle besser zu kontrollieren und vor allem zu akzeptieren, dass es zu seinem Beruf dazu gehört. Die Arbeit ist ihm die meiste Zeit eine gute Ablenkung, doch wenn er abends in seine Kajüte – seine eigenen kleinen vier Wände – kommt, ist er in Gedanken immer Zuhause bei seinen Liebsten.

Um in Kontakt mit der Familie zu bleiben gab es ein Telefon an Deck. Theoretisch konnte dieses Telefon jederzeit benutzt werden, in der Praxis sah das jedoch anders aus. Abgesehen davon, dass es ziemlich teuer war, gibt es mitten im Meer meistens keine sehr gute Verbindung. Und um diese einigermaßen aufrecht zu erhalten, musste immer noch ein weiterer Kollege bei den Telefonaten dabei sein. Von privaten Gesprächen war also normalerweise nicht die Rede. „Es war natürlich schön mal die Stimme zu hören, aber aufgrund von den ganzen anderen Faktoren habe ich höchstens einmal im Monat telefoniert.“ Meine Mutter, die während des Interviews neben ihm sitzt, hakt ein: „Noch seltener.“ „Ja, dann vielleicht noch seltener.“

Den Rest seiner Erzählungen verfasst Leo in Briefen. Diese kann er circa einmal im Monat verschicken. Ein Briefaustausch war auf See möglich, kleinere Schiffe lieferten die Post zu seinem Schiff. Wenn Leo Post bekam, dann waren es oft mehrere Briefe. Die meisten von seiner Frau. Sie schrieb über ihr Leben Zuhause, das Befinden von Freunden und Familie und die Entwicklung der Kinder. Die Briefe waren sehr lang und detailliert, fast schon wie eine Art Tagebuch. Sie wollte ihn so gut es ging an ihrem Leben Zuhause teilhaben lassen, doch Meilensteine wie die ersten Worte und Schritte seiner Söhne konnte er nur auf dem Papier sehen. Wenn er Glück hatte, waren noch ein paar Fotos von ihnen dabei.

Zuhause

Nach einem halben Jahr in einer anderen Welt ist Leo plötzlich wieder Zuhause. Natürlich fühlt er sich nicht von heute auf morgen angekommen. Das Schlimmste für ihn war es, seine Söhne nicht aufwachsen zu sehen. Die Brüder haben einen Altersunterschied von zwei Jahren. Nach der Geburt seines zweiten Sohnes steht schon sieben Monate später die nächste Fahrt an. Als er ihn danach wieder sieht, ist er schon eineinhalb Jahre alt. Für ihn ist sein Vater im ersten Moment eine fremde Person. Der ältere Sohn versteht schon etwas mehr von der Situation seines Vaters und sucht den Kontakt zu ihm. „Wobei ich denke das lag eher an dem Haufen Süßigkeiten, den ich immer mitgebracht habe“, lacht Leo. Seine beiden Söhne, die auch am Tisch sitzen, lachen mit. „Aber ich glaube nicht, dass sie mich anfangs wirklich vermissen konnten oder sich gefreut haben mich wieder zu sehen, sie kannten mich ja kaum.“ Für ihn als Vater ist das herzzerreißend, aber natürlich kann er es seinen Kindern nicht verübeln. Auch wenn ihm das Ankommen anfangs schwer fällt versucht die Familie das Beste aus dieser Zeit zu machen, denn der nächste Abschied lässt nicht lange auf sich warten. Normalerweise hat Leo drei bis vier Monate, die er zwischen den Fahrten Zuhause verbringen kann. Manchmal war es auch nur einer. Er hat einige Ehen und Familien von Kollegen gesehen, die an den Bedingungen zerbrochen sind, selten war das nicht. Doch die Familie schafft es zusammen diese Zeit zu stemmen.

"Das Wichtigste in so einer Situation ist Vertrauen, Liebe und Zusammenhalt."

Leo Kanz
Leo mit seiner Frau und den zwei Söhnen, 1990

Nochmal auf Null

Nach über 15 Jahren als Seefahrer muss Leo den Beruf gegen seinen Willen aufgeben, Grund ist der Zerfall der Sowjet Union. Die Bezahlung ist immer schlechter und kommt mit großen Verzögerungen an. Seinen Lohn bekommt er teilweise ein halbes Jahr zu spät, als das Geld durch die Inflation schon viel weniger wert war. „Wir konnten mit dem Lohn unser Auto tanken, ein paar Kilo Fleisch und ein paar Süßigkeiten für die Kinder besorgen, dann war das Geld weg. Dafür war ich monatelang von meiner Familie getrennt und habe hart gearbeitet. Das ging irgendwann einfach nicht mehr.“ Obwohl auch seine Frau als Sekretärin in Vollzeit berufstätig ist, kommen sie mit der Zeit kaum noch über die Runden.

Den Ausweg sieht die Familie in Deutschland. Durch Leos deutsche Vorfahren und seiner Verwandtschaft hier, gelingt es ihnen einige Jahre später auszuwandern. Er entscheidet sich trotz eines Angebots dagegen in Deutschland wieder als Seefahrer zu arbeiten. Zunächst einmal aufgrund seines Alters aber auch, weil er zu dieser Zeit komplett für seine Familie da sein möchte. Sie beginnen schließlich ihr Leben nochmal bei Null.

Auch heute spürt Leo noch die Nachwirkungen seiner Vergangenheit. „Natürlich wäre ich gerne mehr für meine Frau und meine Söhne da gewesen damals. Das belastet mich manchmal noch.“ Zudem sind die körperlichen Folgeschäden deutlich. „Als junger Mann unterschätzt man die Arbeit. Im Alter merke ich mittlerweile, dass sich das an manchen Stellen ein wenig zeigt“, sagt er stolz. Tatsächlich hat er mit schlimmeren körperlichen Problemen zu kämpfen, als er zugeben möchte.

Trotz allem enden seine Erzählungen immer mit dem Satz: „Aber wenn ich so zurück blicke, sehe ich mich nicht in einem anderen Beruf. Ich sehe mich nicht wie ich in einem Büro sitze. Es ist einfach nicht meins.“