Extremsport

Der käufliche Kick

Hinab in die Tiefen - Sandro Böhme ist seit 2002 Wingsuit-Pilot.
08. Dez. 2019

Höher, schneller, weiter – nichts ist mehr aufregend genug. Jahrelange Vorbereitung, professionelles Equipment, Angst – alles für ein kurzes Gefühl der Freiheit. Es ist anders, holt uns aus unserem Alltagstrott raus. Die Risiken sind allbekannt, dennoch scheint sich der Extremsport etabliert zu haben. Ihm sind nicht mehr allein die Profis verfallen, mit dem nötigen Kleingeld ist der Adrenalinschub auch für Laien käuflich.

„Früher war alles besser“ – haben unsere Großeltern immer gesagt. Man würde meinen, ihr Leben war perfekt. Doch das ist fraglich, wenn man bedenkt, sie wurden während des Krieges geboren. Früher hatte man keine Zeit, über Fallschirmspringen nachzudenken, früher war jeder Tag eine Herausforderung. So positiv „früher war alles besser“ auch klingen mag, anstrengender war es, das steht außer Frage. An was es sicherlich nicht fehlte: an Herausforderungen.

"Wir wollen unser Leben auskosten, wir wollen es spüren, an die Grenzen gehen."

Ricarda Müterthies, Valerija Vasylevytska
Unser Alltag ist geregelt, unsere Zukunft sicher. Unsere Großeltern sehen das als Luxusleben, wir sehen es als normal. Ein Leben, dass man ungerne aufs Spiel setzen möchte, ungerne eintauschen oder wegwerfen. Aber wo bleibt der Kick?
Wenn man nicht mehr um sein Überleben kämpfen muss, mehr noch wie in einer beschützten Blase lebt, kommt man auf verrückte Gedanken. House Running, Bungee-Jumping, Caving… für die meisten Jugendlichen sind diese Anglizismen ein Begriff. Nur ein Begriff? Eine Lebensart, Haltung, Religion… Extremsport ist zu einem Teil der Gesellschaft geworden. Dabei bringt man seinen Körper und Geist ganz bewusst an die Grenze. Ein komplexes Zusammenspiel aus physischen und psychischen Reizen. Alleine darüber zu schreiben, lässt unseren Puls höherschlagen. Nicht nur das teilweise monotone Leben, sondern auch technischer Fortschritt begünstigt das Wachstum des Extremsports. Ein Freizeitspaß, der von den Einen befürwortet und von den Anderen kopfschüttelnd abgelehnt wird. Ob für oder gegen - die Anbieter für Extremsporterlebnisse, wie Jochen Schweizer, boomen, die Nachfrage steigt. Kein Wunder, wenn der Adrenalinkick frei verkäuflich ist. Für einen stolzen Preis kann man sich die Klippen runterstürzen, Hochhäuser bezwingen oder aus einem Flugzeug springen. Es bedarf lediglich einer kurzen Einführung, schon dürfen sich Laien an den Extremsport heranwagen.
Je höher das Risiko, desto begehrter die Sportart. Eines der bekanntesten Aktivitäten dieser Art: der Fallschirmsprung. Alleine in Deutschland werden pro Jahr an die 32.000 Tandemsprünge absolviert. Durch frei zugängliche Plattformen, wie Jochen Schweizer, kommen Interessierte ohne Vorerfahrung, dafür mit einem gewissen Budget, an den gefährlichen Freizeitvertreib. Dabei kommt es zu 70 meldepflichtigen Unfällen pro Jahr. Im Jahr 2018 starben vier Menschen an einem Fallschirmsprung. Führen wir uns als junge Generation genug vor Augen, wie wertvoll das Leben eigentlich ist? Geschichtlich gesehen hat die sogenannte „Generation Y“ keine existenzielle Krise durchlebt. Wir mussten nicht miterleben, wie Bomben hochgehen, haben keine Häuser vor unseren Augen einstürzen sehen. Ist das ein Grund, um unser Leben aufs Spiel zu setzen und Gebäude herunterzurennen? Abschreckend wirken die Todeszahlen nicht.

„Da war ich auch schon“; „Das habe ich schon gemacht“ – ein Standardsatz.

Ricarda Müterthies, Valerija Vasylevytska
Nichts scheint mehr außergewöhnlich genug zu sein. Erlebnisse sind zum Wettkampf geworden, sie werden bewertet, verglichen, angepriesen. Ob wir uns selbst herausfordern wollen, uns übertreffen, oder doch nur gegenüber Anderen beweisen, soll jeder für sich entscheiden. Für manche wird der Kick zum Lebensinhalt. Die Art von Menschen, die sich lieber auf sicherem Boden bewegt, wird die jahrelangen Vorbereitungen, das intensive Training und all die Investitionen in professionelle Ausrüstung nie verstehen. Dabei geht es laut Sportpsychologen nie ausschließlich um den Kick, vielmehr ist es die Auseinandersetzung mit der Angst und es geht darum, aus seiner Komfortzone auszutreten. Es ist eine extreme Art, das Selbstwertgefühl zu steigern und sich weiter zu entwickeln. Der Psychoanalytiker Gert Semler spricht sogar von sogenannter Selbsttherapie.
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Und da reicht manchmal ein Bungee-Sprung im Urlaub auf Bali aus. Dann ist es auch nicht mehr übertrieben oder lebensmüde, dann hat man sich selbst von einer anderen Seite kennenlernen können. Gedrückt von einer zittrigen alten Hand: Ist dir dein Leben nicht wertvoll genug? Selbst wenn unsere Großeltern das Lustgefühl nicht nachempfinden können, wofür wir uns aus tiefen Höhen stürzen: Wir tun das, was uns glücklich macht. Vielleicht tun wir es, um nicht sagen zu müssen, „früher war alles besser“. Sondern um den jetzigen Moment für uns perfekt zu machen, auch wenn es einige Risiken mit sich bringt. Denn über den Begriff „perfekt“ lässt sich bekanntlich streiten.