Digitaler Stress

Warum wir uns entspannen müssen

20. Mai 2021
Home und Office verschmelzen durch die Pandemie. Wir sind immer online, abrufbar, erreichbar – gestresst. Stress ist eine natürliche Reaktion unseres Körpers und macht uns überlebensfähig. Trotzdem: wird er zum Dauerzustand, kann es gefährlich werden.

Seit über einem Jahr sitzen wir im Home-Office, in der Remote-Uni oder der Online-Schule. Wir sind durchgehend digital verfügbar, immer bereit zu reagieren – das kann unserem Körper schaden. Juliet schreibt dieses Jahr Abitur und erfährt Stress wortwörtlich an der eigenen Haut. Sie erzählt mir von ihrer Neurodermitis, die zeitgleich zum zweiten Lockdown ausbrach und schildert ihren Corona-Alltag. „Wir können nichts machen. Es gibt einfach keine Trennung zwischen Schule und daheim sein“, bemerkt die Abiturientin.

Die Weltgesundheitsorganisation hat Stress zu einer der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts erklärt. Dabei sei Stress ein sinnvolles Instrument des menschlichen Körpers, erklärt Doktor Ralph Berroth, ehemalig leitender Oberarzt der Kardiologie am Klinikum Ludwigsburg: „Er ist lebensnotwendig und physiologisch.“ Aber Stress ist eben nicht gleich Stress. Die positive Art, den sogenannten Eustress, empfinden wir beispielsweise bei Konzerten oder Hochzeiten. Er motiviert und treibt uns an. Disstress hingegen bezeichnet den negativen Stress. Werden wir also durch einen äußeren Reiz gestresst, schütten wir Hormone aus, die uns befähigen, auf eine Gefahr zu reagieren. Die sogenannte „Fight-or-Flight"-Reaktion – Angriff oder Flucht – wird unterbewusst vom Körper aktiviert und ist tief verankert. Bei unseren Vorfahren waren Bedrohungen wie Berglöwen Auslöser für diesen Ausnahmezustand.

„Die digitale Verfügbarkeit ist ganz sicher ein Stressfaktor", erläutert Berroth, „heute sind die Berglöwen etwa der Leistungsdruck oder die Reizüberflutung, der wir dauerhaft ausgesetzt sind." Wir leben in einer digitalisierten Welt und gerade in Zeiten der Pandemie wird unsere Erreichbarkeit zur Währung unserer Produktivität. Entweder wir kämpfen oder flüchten. Entscheiden wir uns für Letzteres, flüchten wir zu unserem Rückzugsort. Doch zu Pandemie-Zeiten trifft man leider genau dort auf besagte Berglöwen.

“Digitale Verfügbarkeit ist ganz sicher ein Stressfaktor.“

Doktor Ralph Berroth

Was macht Stress mit uns?

Stress wirkt sich nicht gezielt auf ein Organ aus. Vielmehr ist es eine Kaskade, aktiviert durch die Freisetzung von Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin. Sie sorgen für den Anstieg der Herzfrequenz, des Blutdrucks und führen zu beschleunigter Atmung. Ist die Stressphase überwunden, normalisieren sich diese Werte wieder – eigentlich. Obwohl die offensichtlich stressige Situation zunächst gebannt ist, bleiben wir oft weiterhin unterbewusst gestresst; gerade zu Zeiten des Home-Office.

Bleibt der Blutdruck konstant auf einem hohen Level, bezeichnet ihn Kardiologe Ralph Berroth als „Silent Killer“: „Man kann jahrelang hohen Blutdruck haben und nichts davon merken. Das Risiko für chronische Folgen ist riesig“, erklärt er. Der Stoffwechsel werde umgestellt, die Blutfettwerte steigen. Das habe Ablagerungen in den Gefäßen zur Folge, die zu einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall führen können. Während Abiturientin Juliet zusätzlich unter Kopf- und Bauchbeschwerden leidet, kann auch das Immunsystem unter Stress strapaziert werden. Für eine unmittelbare Flucht- oder Kampfreaktion sei dieses nämlich nicht relevant. „Wir werden anfälliger für Infektionen, da sich der Körper auf eine direkte Gefahr einstellt, die gar nicht stattfindet“, schildert Berroth.

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Stressempfinden und -reaktionen können sehr individuell sein. | Quelle: genial.ly

Pandemie als Stressfaktor?

„Normalerweise sind radikale Änderungen von Lebensumständen wie Jobverlust, Trennung oder Todesfälle Auslöser für psychische Probleme“, erzählt Puya Sattarzadeh, Psychologe im Friedrich-Ebert-Krankenhaus Neumünster, „jetzt ist es der Lockdown." Durch Corona sei der Ausgleich weggefallen – die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit sind fließend.

Laut Sattarzadeh gibt es in der Psychologie keine einheitliche Methode Stress zu messen. So seien es oft erst die Auswirkungen, die sichtbar werden und behandelt werden müssten. „Tritt ein Herzinfarkt ein, ist es meistens schon zu spät“, ergänzt Ralph Berroth. Ähnlich wie Durst, der sich erst zeigt, wenn wir bereits einen Flüssigkeitsmangel erleben.

In allen Gesprächen, die ich führte, wurde eine Sache angesprochen: der fehlende Ausgleich. Er fehlt Juliet, fehlt allen die sich seit über einem Jahr an #stayathome halten; zwischen Erreichbarkeit, Zoom-Meetings und Netflix schweben, und sich nach Normalität sehnen. Auch wenn Ausgleich der Schlüssel zur Entspannung ist, muss jeder seine individuelle Methode, seinen eigenen Schlüssel finden.

Trotzdem: Berglöwen verschwinden nicht einfach so. Wenn wir jedoch ihre Tricks kennen, können wir sie zähmen und mit ihnen zusammenleben. Zum Einstieg gibt es Empfehlungen von Psychologe Sattarzadeh und Doktor Berroth:

  • Einen Zeitraum ohne digitale Medien schaffen: Also Handy ausschalten und Laptop herunterfahren; auch wenn es nicht jeden Tag geht. Aufpassen, dass dieser Zeitraum nicht zum Produktivitätswettbewerb wird: Er muss nicht zum Joggen oder Enzyklopädie-Lesen genutzt werden.
  • Körperliche Aktivität: „One run a day keeps the doctor away.“ Schon nach 15 Minuten Joggen schüttet der Körper Glückshormone aus und wir entspannen uns. Hier ist es wichtig auszuprobieren, was einem Spaß macht. Alternativ kann man auch Fahrrad fahren, Schwimmen oder spazieren gehen.
  • Lesen: Forscher*innen der Universität Sussex fanden heraus: Während des Lesens reduziert sich das Stresslevel um 68 Prozent. Sechs Minuten Lesen reichen schon aus, um einen positiven Effekt zu erzielen. Musik hören steht mit 61 Prozent an zweiter Stelle, gefolgt von einer Tasse Kaffee trinken mit 45 Prozent.
  • Die progressive Muskelentspannung nach Jacobson: Die abwechselnde Spannung und Entspannung 17 verschiedener Muskelgruppen führt zu einem inneren Wohlbefinden. Diese Methode bewährt sich durch unmittelbare und langfristige Auswirkungen für Körper und Geist: Der Blutdruck sinkt, Konzentration und Gedächtnis werden gefördert und das eigene Körperempfinden wird intensiver. Vorwarnung: Die Gefahr des Einschlafens ist hier sehr hoch.
  • Persönlicher Tipp von Dr. Berroth: Klassische Musik hören. „Mir hilft Bach“, lacht er, „zu Weihnachten habe ich 172 CDs geschenkt bekommen.“