Kaufsucht 7 Minuten

Rotes Konto, kurzer Rausch – was kostet ein gutes Gefühl?

Die Ausmaße einer Kaufsucht
Zwischen "nur schnell bestellen" und verlorener Kontrolle | Quelle: Symbolbild von Annika Taube
10. Dez. 2025

Ein Blick, ein Klick, gekauft: Wenn sich die Gedanken nur noch um volle Warenkörbe und platzende Einkaufstüten drehen, gerät der Kontostand oftmals in Vergessenheit. Ab wann wird Geld ausgeben zur Kaufsucht? 

*Sophie Müller ist eine fiktive Protagonistin in diesem Feature und steht stellvertretend für eine kaufsüchtige Person.

Im Supermarkt den Wocheneinkauf erledigen, online shoppen oder durch die Stadt bummeln, für viele Menschen alltägliche Situationen. Für Sophie Müller ist es jedoch ein Auf und Ab der Gefühle. Sie ist kaufsüchtig, sitzt jeden Abend vor dem Laptop und flüchtet sich in die Welt der Onlineshops. Eine Welt, die für kurze Zeit Ordnung in ihr Inneres bringt. Auf eine kurze Erleichterung folgt das schlechte Gewissen über den leerer werdenden Geldbeutel und die Angst, neu bestellte Produkte vor ihrer Familie verstecken zu müssen. Sophies Alltag ist geprägt von ständigen Versuchungen. Werbung, Social Media, Black Friday. All das löst in ihr einen Schwall an Kaufdrang aus, den sie nur schwer kontrollieren kann. Der volle Einkaufswagen gibt ihr kurzfristige Sicherheit aber langfristige Schuldgefühle.

Rebecca Aichelin-Häckler, Referentin für Suchthilfe des Diakonischen Werks Württemberg erklärt: „Kaufsucht zählt zu den Verhaltenssüchten und wird den Impulskontrollstörungen zugeordnet.“ In unserer konsumorientierten Gesellschaft wird diese Sucht belächelt oder sogar bewusst provoziert. „Es gibt keinen Fokus darauf, es wird akzeptiert, dass man einkaufen geht, wenn man Stress oder schlechte Laune hat“, so Aichelin-Häckler. Die Stiftung Berner Gesundheit ordnet die Kaufsucht als stille Sucht ein. Eine Form der Abhängigkeit, die sich meist schleichend entwickelt und dennoch weit verbreitet ist. 

Das Ausmaß der Kaufsüchtigen in Deutschland | Quelle: ARD Alpha, (Wenn Shoppen krank macht), 2024/ Hauptstelle für Suchtfragen (DHS)/ DAK-Suchtstudie, 2025

Der schleichende Weg in die medizinische Sucht

Verhaltenssüchte zeichnen sich durch exzessiven Konsum aus. Renanto Poespodihardjo, leitender Psychologe der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel, spricht bei Kaufsucht von psychoaktiven Industrieprodukten, welche konsumiert werden. Sophie fühlt sich durch Angebote im Internet wie in Trance. „Psychoaktive Industrieprodukte betäuben über psychologische Mechanismen.“ Diese Produkte hätten das Ziel, durch Werbung ein Bedürfnis in uns zu generieren. Ein Bedürfnis, das wir eigentlich gar nicht haben, so der Experte.

„Psychoaktive Industrieprodukte betäuben über psychologische Mechanismen“ 

Renanto Poespodihardjo, Psychologe

Betroffene betreten einen inneren Raum, in dem seelische und körperliche Schmerzen reduziert sind. Schmerzen, die oftmals durch frühe Mobbingerfahrungen, Verluste oder Trennungen entstehen. Poespodihardjo erklärt: „Wenn Sie Schlafstörungen haben, nehmen Sie ein Schlafmedikament und Sie schlafen ein. Nehmen Sie dieses Medikament regelmäßig, entwickeln Sie Schlafstörungen aufgrund dieses Medikamentes. Bei den psychoaktiven Industrieprodukten ist es das Gleiche.“ Mit der Zeit müssen Betroffene immer mehr kaufen, um diesen Schmerz zu lindern. Es entsteht ein Kontrollverlust. Trotz negativer Konsequenzen verändert sich das Verhalten nicht. 

Ein weiterer Indikator der Kaufsucht ist die gedankliche Vereinnahmung. Kaufen nimmt einen übergroßen Teil der Gedanken ein. „Die Sucht nimmt so viel Raum ein, dass Beziehungen nicht mehr gelebt werden können, oder die Arbeit nicht mehr ausgeübt werden kann“, so Poespodihardjo. Zeigt sich außerdem ein Schaden, spricht man medizinisch von einer Sucht. Dieser Schaden kann sich in der Leistung, in körperlicher oder sozialer Natur äußern. „Kontrollverlust, gedankliche Vereinnahmung und Schaden sind die drei Säulen, die erfüllt werden müssen, damit man von einer Erkrankung sprechen kann“ erklärt der Experte. Sophie erlebt alle drei Indikatoren fast jeden Tag und die Sucht wird immer mehr zum medizinischen Problem.

„Kontrollverlust, Gedankliche Vereinnahmung und Schaden sind die drei Säulen, die erfüllt werden müssen, damit man von einer Erkrankung sprechen kann.“

Renanto Poespodihardjo, Psychologe

Die Muster der stillen Sucht

Sophie hat in ihrer Kindheit gelernt Konsum und Besitz mit Glück zu verbinden. Heute schüttet ihr Gehirn, wenn sie etwas kauft, automatisch Glücksgefühle aus. Probleme scheinen dabei zu verschwinden. Um den Besitz geht es ihr schon lange nicht mehr. Für sie ist Kaufen zur Stresskompensation geworden. Nach einem harten Arbeitstag reicht ein kurzer Blick in den Onlineshop. Innerhalb von Minuten sind zehn neue Produkte in ihrem Warenkorb, bereit diese auch zu bestellen. Ihr Verhalten jagt ihr mittlerweile große Angst ein. Dennoch ist das Verlangen, ihre Gefühle kurz zu betäuben, größer. 

Wie viele Betroffene, versteckt sie ihre Sucht lange vor ihrem Freundeskreis und der Familie, bis sich psychische, finanzielle und auch Platzprobleme bemerkbar machen. Pakete türmen sich in Sophies Wohnung. Sie verfolgt ständig neue Angebote und geht ihren Kaufimpulsen nach. Dabei schreckt sie nicht davor zurück, ihren finanziellen Spielraum zu überschreiten. Dieses Muster treibt Sophie mit der Zeit in die Privatinsolvenz. Gleichzeitig häufen sich Dinge, die weder gebraucht noch genutzt werden.

Was bedeutet Privatinsolvenz?

Privatinsolvenz, auch Verbraucherinsolvenz genannt, ist die letzte Option, wenn Schuldner*innen keine andere Möglichkeit zum Schuldenabbau haben. Es ist ein gerichtliches Verfahren mit dem Ziel, nach einer bestimmten Zeit (häufig drei Jahre) von verbliebenen Schulden befreit zu sein. 

Quelle: https://www.sparkasse.de/pk/ratgeber/finanzplanung/hilfe-bei-finanzproblemen/privatinsolvenz.html 

Lange Kaufperioden lösen bei Sophie einen hohen Leidensdruck aus. Sie sind zeitintensiv und beeinträchtigen ihre sozialen sowie beruflichen Beziehungen. Ihr Freundeskreis zeigt nur wenig Verständnis für ihr Handeln und belächelt sie meistens, wenn sie mal wieder mehrere hundert Euro für neue Klamotten ausgegeben hat. Ihre Arbeitstage kann sie kaum noch gewissenhaft durchführen, ohne mit den Gedanken abzudriften. Versucht Sophie ihrem Verlangen zu widerstehen, treten Entzugserscheinungen auf: Sie fühlt sich unruhig, unkonzentriert und wirkt gereizt. Ein Teufelskreis zwischen Euphorie während des Kaufs und dem schlechten Gewissen danach hält sie fest.

Dem Teufelskreis entkommen

Einen Weg aus der Kaufsucht zu finden ist möglich, erfordert aber Unterstützung und Einsicht. Rebecca Aichelin-Häckler rät Betroffenen immer zu einem Beratungsgespräch. Ein Gespräch, in dem man sich klar über die Ausprägung der Sucht werden kann. 

„Beratung ist immer ein Prozess“ betont sie. Klient*innen sollen verschiedene Maßnahmen ausprobieren, etwa das Führen eines Kauftagebuchs oder einkaufen nach einer festen Liste. So lasse sich herausfinden, ob eine ernste Sucht oder eine leichte Verhaltensauffälligkeit zugrunde liegt. Beratende entwickeln gemeinsam mit den Betroffenen einen passenden Weg, um wieder verantwortungsbewusst mit Konsum umgehen zu können. Der Erfolg sei dabei individuell. Entscheidend sei, ab wann das Leben wieder als stabil empfunden werde und ab wann Betroffene wieder zurechtkommen, betont Aichelin-Häckler. 

Ein Blick, ein Klick, gekauft? Sophie entscheidet sich nach einem langen Leidensweg gegen die Sucht und für ihre erste Beratung bei der Suchthilfe. In den folgenden Monaten startet sie – vermittelt durch die Beratung – eine Verhaltenstherapie. Dabei lernt sie ihre kranken Verhaltensmuster abzulegen und durch gesunde zu ersetzen. Beim Wocheneinkauf wird sie nun von einer Freundin begleitet, wobei sie sich strickt an ihre Einkaufsliste hält. Außerdem spricht Sophie offen mit ihrem Umfeld über ihre Kaufsucht. Kreditkarten werden zerschnitten und bald hat sie einen Termin bei der Schuldnerberatung. Dort soll sie neue Strukturen und Strategien im Umgang mit Geld entwickeln. 

Spontane Impulskäufe und Angst im Supermarkt bestimmen Sophies Leben nicht länger. Stattdessen erlebt sie immer mehr Kontrolle über ihre Entscheidungen. Einkaufen ist möglich und zwar ohne schlechtes Gewissen!