Familiengeschichte

Flüchtling im eigenen Land

Die damals deutschen Ortschaften tragen heute polnische oder russische Namen.
25. Febr. 2021
Renate ist zwei Jahre alt, als sie mit ihrer Familie flüchten muss. Sie ist Deutsche, aber für die Deutschen ist sie auch eine Fremde. Eine Reportage über Herkunft, Heimat und die Bedeutung von Erinnerungen.

Renate kramt in ihren Erinnerungen. Ihre Erinnerungen, das sind vergilbte Dokumente, eine Postkarte von 1950, ein alter Bertelsmann Atlas, eine Plastiktüte mit staubigen Abzeichen. Während sie so kramt, schaue ich aus ihrem Wohnzimmerfenster auf die dahinterliegenden Berge. Dunkle Tannen prägen die Landschaft, dazwischen einzelne Häuser und kleine Dörfer. Der Schwarzwald ist meine Heimat, hier wurde ich geboren und hier bin ich aufgewachsen. Bei Renate ist das anders. Ihre Heimat ist 1400 Kilometer entfernt, und würden wir heute dorthin reisen, würden wir kein Wort verstehen. Ich kann kein russisch. Sie auch nicht.

Renate ist meine Oma und war ihr ganzes Leben lang eine Deutsche. Doch der Ort, aus dem sie stammt, ist seit 1945 russisches Staatsgebiet. Im Januar 1945 neigte sich der zweite Weltkrieg dem Ende zu. Die Soldaten der Sowjetunion, die rote Armee, fiel in Ostpreußen ein, zerstörte ganze Dörfer, tötete zahlreiche Zivilisten. Die Bevölkerung sah die Bedrohung schon seit Monaten kommen, doch Gauleiter Erwin Koch verbot die Vorbereitung auf eine Flucht, drohte mit Bestrafung. Die Evakuierung der Bevölkerung passte nicht zum totalen Krieg, zum Traum vom Endsieg. Doch dieser war längst verloren. Über zwölf Millionen Menschen mussten in diesem Januar von einem Tag auf den nächsten ihre Heimat verlassen, mit nichts außer dem, was sie auf ihre Pferdekarren packen konnten. 

„Das kann man sich kaum vorstellen, was die Frauen alles durchgemacht haben“

Renate Krämer

Zwei Jahre war meine Oma alt, als sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder den schweren Weg antreten musste. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt. „Im Krieg“ war er, im Krieg. Sie erinnert sich kaum an die Flucht. Doch immer wieder fallen ihr kleine Details ein, Details aus den Erzählungen ihrer Mutter – dass es ein sehr kalter Winter war, und dass sie mit Pferden unterwegs waren. „Viele Mütter waren allein, einige mussten ihre Kinder unterwegs im Schnee begraben.“ Sie sind bei Temperaturen von -20 Grad erfroren, oder verhungert. Meine Oma schüttelt im Gedanken daran ungläubig den Kopf: „Das kann man sich kaum vorstellen, was die Frauen alles durchgemacht haben."

Auch ich kann das nicht. Wenn ich die Zeitzeugenberichte lese, in den Dokumentationen Bilder von erfrorenen Kindern sehe, von Menschen und Pferden, überrollt von Panzern, wird mir schlecht. Und das, obwohl ich mehr als 70 Jahre später wohlbehütet in meiner Küche sitze, mit einem vollen Magen und einem Dach über dem Kopf. Unvorstellbar, wie es den Menschen ergangen sein muss, die all das am eigenen Leib erfahren mussten. Unvorstellbar, dass meine Oma eines von diesen Kindern war, eingewickelt in dicke Decken, doch immer noch zitternd.

Das Drei-Generationen-Gedächtnis 

„Die haben uns vertrieben“, sagt sie heute. Die, das sind die Russen. In ihrer Erinnerung sind sie die Bösen. Würde man einen Russen fragen, würde er vermutlich das Gegenteil behaupten. Es lässt sich nicht genau feststellen, wie viele deutsche und russische Zivilisten den feindlichen Armeen zum Opfer fielen; die vorhandenen Schätzungen gehen weit auseinander. Alle deuten sie jedoch darauf hin, dass die Sowjetunion mit Abstand die meisten Toten verzeichnen musste. Die schrecklichen Verbrechen an den Deutschen als Rache für die schrecklichen Verbrechen der Deutschen? Das mag für die russischen Soldaten damals wohl Sinn ergeben haben, für meine Oma tut es das nicht. Denn beim Erinnern kommt es auch auf die Perspektive an.

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Funktionsweise von Erinnerungen. Sie entstehen aus der subjektiven Wahrnehmung einer Person heraus, sind immer individuell. Gleichzeitig sind sie immer mit den Erinnerungen anderer vernetzt. Auch die Erinnerungen meiner Oma basieren auf den Erinnerungen ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Wenn sie über ihre Heimat spricht, über ihr unbekannte Orte wie das Frische Haff an der Ostsee, greift sie auf deren Erzählungen zurück. Assmann bezeichnet diesen Umstand als das Drei-Generationen-Gedächtnis, in dem sich selbst Erlebtes und Gehörtes überkreuzen. Meine Oma hat das, was sie mir erzählt, also größtenteils nicht aktiv selbst erlebt.

Waisenrente und selbstgenähte Kleidung

Woran sie sich schon besser erinnern kann, ist ihre Kindheit in Schleswig-Holstein. Es lässt sich nicht mehr genau sagen, ob die dortige Gemeinde Hennstedt die erste Station der Familie nach der Flucht war. Doch meine Oma verbrachte dort nachweislich mehrere Jahre. Sie erzählt vom Leben bei einer Bauersfamilie, für die ihre Mutter Lina genäht hat. Später hat sie dann auch Kriegsrente für ihren verstorbenen Mann erhalten. Doch das war nicht genug, um sich aus dem Nichts eine neue Existenz aufzubauen, sie war viel auf die Unterstützung anderer angewiesen. Die Kinder waren dabei immer an ihrer Seite. „Für mich war das okay“, erinnert sich meine Oma, „ich war ja noch klein und konnte einfach daneben sitzen. Aber mein Bruder, der war schon sieben – der wollte natürlich viel lieber draußen herumtoben.“ Sie erzählt auch von ihrer Einschulung, denkt zurück an ihre Schultüte und an das selbstgenähte, dunkelgrüne Kleid, das sie dazu trug. 
 

Zur Einschulung nähte Renates Mutter ihr ein Kleid aus einem alten Mantel. Das erste gekaufte Kleid bekam sie erst mit 14 Jahren für ihre Konfirmation.
Diese Postkarte ist eine der wenigen Nachweise für den Aufenthalt der Familie in Hennstedt.
Renates Mutter Lina erhielt monatlich 60 Mark Waisenrente. Zum Vergleich: Ein Bücherregal kostete damals 500 Mark.
Letzte Wohnung: Flüchtlingslager. In Bermersbach kam die Familie zuerst in der Luisenstraße unter, später bezogen sie eine eigene Wohnung.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass meine Oma sich nur an einzelne Augenblicke ihrer Kindheit erinnert. Das individuelle Gedächtnis ist laut Assmann fragmentarisch aufgebaut, es besteht aus einzelnen Episoden ohne vorher und nachher. Erst im Nachhinein, durch Erinnerungen und Erzählungen anderer, lässt sich daraus eine sinnvolle Form entwickeln. Auch lässt sich nicht genau feststellen, inwiefern sich das Gedächtnis im Laufe der Jahre verändert hat – denn Erinnerungen sind flüchtig und labil. Manche geraten in Vergessenheit, andere bewertet man heute vielleicht ganz anders, als man es vor ein paar Jahren noch getan hätte. Der Soziologe Maurice Halbwachs prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des Gedächtnisrahmens, der sich über die individuellen Erinnerungen legt und sie an die im Moment des Erinnerns geltenden Normen und Werte anpasst. 

Im Schatten der Erinnerung


Ohne schriftliche Belege lässt sich also nicht beweisen, ob die Erzählungen meiner Oma der Wahrheit entsprechen. Durch sie könnten falsche oder ungenaue Erinnerungen womöglich korrigiert werden. Doch genau diese Belege sind im Fall der Millionen deutschen Kriegsflüchtlinge kaum vorhanden. In Dokumentationen erzählen Zeitzeugen von dem beschwerlichen Weg durch die Januar-Kälte, auch ehemalige deutsche und sowjetische Soldaten kommen zu Wort. Doch einmal dem damaligen Schlachtfeld entkommen, verliert sich ihre Spur. Schriftsteller Günter Grass bezeichnete das „Flüchtlingselend“ der ehemaligen Ostpreußen als Thema im Hintergrund angesichts der schrecklichen Verbrechen des Nazi-Regimes. Ein Thema, das laut Assmann im privaten Kreis der Familie eingeschlossen bleibt, wenn überhaupt. Ich erinnere mich an einen Moment, in dem ich nach einem Gespräch mit meiner Oma meinem Vater berichtete, was ich alles erfahren hatte. Erstaunt und gleichzeitig beeindruckt schaute er mich an: „Das hat sie dir alles erzählt? Mit mir hat sie darüber noch nie so geredet.“

Der Aufenthalt der Familie in Hennstedt lässt sich nur durch eine alte Postkarte und einen Brief beweisen, adressiert an die Mutter Lina. „Umgezogen sind wir dann kurz nach meiner Einschulung. Ich hatte Asthma, und der Arzt meinte, die Luft im Schwarzwald ist gut für mich“, erzählt meine Oma. Vielleicht war ein weiterer Grund die Umverteilung der Flüchtlingsfamilien aus den überfüllten nördlichen Bundesländern in den Süden, wie sie in Zeitzeugenberichten beschrieben wird. Aber auch darüber kann man nur spekulieren.

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Der Weg von Renate führte von Ostpreußen über Schleswig-Holstein in den Schwarzwald. Fahre über die Punkte für weitere Infos. | Quelle: Maren Krämer, Karte: Google Maps

Spielen im Schlossgarten

In Gedanken an die Zeit in Rastatt fangen die Augen meiner Oma an zu strahlen. „Wir waren viele Kinder, und im Hof und Garten vom Rastatter Schloss war genug Platz zum Spielen. Das war natürlich toll für uns.“ Im Kreisarchiv Rastatt findet sich jedoch kein Nachweis darüber, dass das Gebäude als Flüchtlingsunterkunft genutzt wurde – auch wenn die Stadt der zentrale Sammelpunkt für die Weiterverteilung der Menschen war. Im Landesdurchgangslager wurden die Menschen vor ihrer Verteilung mit Lebensmitteln aus der Region versorgt, auch ein Übersetzer und medizinisches Personal waren hier beschäftigt. Inventarlisten und Abrechnungen sind ebenfalls im Archiv zu finden, nichts aber zu den Bewohnern des Lagers. Es bleibt eine Lücke, die auch die Erinnerung meiner Oma nicht schließen kann. 

Während sie erzählt, bekommt meine Oma manchmal glasige Augen. Über einige meiner Fragen denkt sie etwas länger nach, manche kann sie mir nicht beantworten. Doch hin und wieder huscht auch ein Lächeln über ihre Lippen, immer dann, wenn sie von ihrer neuen Heimat im Schwarzwalddorf Bermersbach spricht. Hier verbrachte sie ihre späte Kindheit und Jugend, laut Assmann ein prägendes Alter für die Bildung von Erinnerungen und der Persönlichkeit. „Am Anfang hatten wir nur zwei kleine Zimmer. Aber dann wurde uns eine andere Wohnung zugeteilt, im Haus eines älteren Ehepaars. Die waren sehr nett zu uns, das muss man wirklich sagen. Sie hatten ein großes Grundstück, dort durfte meine Mutter einen Garten anlegen. Und eine Kuh hatten sie auch, da haben wir manchmal ein bisschen Milch bekommen. Die waren wirklich gut zu uns.“ Sie erzählt von ihren neuen Schulfreundinnen, von unbeschwertem Spielen auf den Wiesen und in den Wäldern. 

Zwischen damals und heute


Andere Familien trifft es härter. Sie treffen auf Ablehnung, auf Hass, auf wüste Beschimpfungen. Als grundsätzlich schmutzig, primitiv, unehrlich, faul und vor allem als undankbar werden sie von Teilen der Bevölkerung bezeichnet. Ausdrücke, die man im Rahmen der Flüchtlingsdebatte wohl auch heute noch zu Ohren bekommt. Die Redakteurin Uschi Götz erkannte diese Parallelen, als sie 2017 auf der Spurensuche nach der Vergangenheit ihrer Mutter auf eine junge Frau aus Syrien trifft, und arbeitete sie für den Deutschlandfunk auf. In ihren Beiträgen wird deutlich: Hilfsbereitschaft und Ablehnung liegen damals wie heute nah beieinander. Und doch waren es die Vertriebenen, die in den 50er-Jahren zum deutschen Wirtschaftswunder beitrugen. Auch Rastatt boomte – nicht zuletzt wegen den zahlreichen neuen Bewohnern. 

„Als Kind bekommt man das alles nicht so mit. Da ist man zufrieden mit dem, was man hat.“ 

Renate Krämer

Meine Oma musste nie solche Anfeindungen aushalten. Sie weiß aber auch, dass damals bestimmt nicht alles schön war. Ihre Mutter war ganz auf sich alleine gestellt, musste sich mit wenig Geld alles wieder neu aufbauen. „Aber als Kind bekommt man das alles nicht so mit. Da ist man zufrieden mit dem, was man hat.“ Zufrieden ist sie auch heute, denn sie ist angekommen. Sie spricht den örtlichen Dialekt, hat gemeinsam mit ihrem Mann ein Haus und eine Familie aufgebaut. Königsberger Klopse isst sie heute genauso gerne wie Spätzle und Apfelküchle.

Ihr Ankommen geht so weit, dass sie ganz verwundert ist, als ich ihr meinen Plan für diese Reportage verkünde. Denn für sie ist dieser Teil ihres Lebens ganz lange her, und Ostpreußen ganz weit weg. Manchmal, wenn ich in ihr Wohnzimmer komme, läuft im Fernsehen eine Dokumentation über die Ostsee. Die schaut sie sich immer gerne an. Und sie erinnert sich. Aber nicht an ihre Kindheit oder an die Flucht – sondern an den letzten Sommerurlaub. 


Auch für mich ist Ostpreußen ganz weit weg. Doch die Geschichte meiner Oma ist mir näher als je zuvor. Natürlich hat sie Lücken, einiges kann man nur vermuten. Aber ich habe gelernt: Wenn man diesen Geschichten eine Plattform gibt, wenn man nach ihnen fragt, dann werden sie auch erzählt. Vielleicht war das der Fehler in den Jahren nach dem Krieg. Über vieles, was dort passiert ist, wurde nicht gesprochen, vieles auch aus Scham oder Angst verschwiegen. Wenn ich daran denke, was ich in den letzten Wochen über meine eigene Familie, über meine eigene Herkunft erfahren habe, halte ich das für einen Fehler. Die Erinnerung sollte nicht länger im Schatten der Vergangenheit bleiben. Sie sollte ans Licht kommen, auch wenn das manchmal schmerzhaft ist. 

Mehr zum Thema

ZDF Doku "Der große Treck – Kampf um Ostpreußen":

https://www.youtube.com/watch?v=yII1V8uSJPE

Deutschlandfunk-Beitrag "Von Ostpreußen nach Sickenhausen" von Uschi Götz:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/flucht-vor-70-jahren-von-ostpreussen-nach-sickenhausen.1001.de.html?dram:article_id=386429&wdLOR=c803912F0-305F-4CCF-9D03-654C23AF3946

"Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik" von Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann:

https://www.chbeck.de/assmann-lange-schatten-vergangenheit/product/14027661