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Klimaneutral dank Bus und Bahn: Was für die Verkehrswende nötig ist

Verlassene Bushaltestelle in Berolzheim
Im ländlichen Raum sind Bushaltestellen wie diese in Berolzheim oft verlassen. Kaum ein Bus hält dort. | Quelle: Elvira Prochazka
17. März 2024

Über 20 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent stößt der Verkehrssektor im Land jährlich aus – Tendenz steigend. Bis 2030 sollen die Treibhausgasemissionen aber um 55 Prozent reduziert werden. Wie kann das noch erreicht werden?

Das Auto einfach mal stehen lassen und mit dem Bus, der Bahn, zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Arbeit, Uni oder Familie: So soll die Mobilitätswende in Baden-Württemberg gelingen und der Klimaschutz vorangetrieben werden. Bereits jetzt bringt der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) landesweit rund eine Milliarden Menschen jährlich an ihr Ziel. 

Eine von diesen Milliarden ist Elisabeth Kutterer. Für sie ist es völlig normal, auf das Auto zu verzichten. Sie ist am liebsten mit dem Rad oder der U-Bahn unterwegs. „Wenn ich aus dem Haus gehe, habe ich schon in meinem Hinterkopf, dass das einfach die beste Wahl fürs Klima ist“, sagt die 23-Jährige. 

Dem Klimawandel hat Kutterer längst den Kampf angesagt. Sie engagiert sich seit Sommer 2023 bei der „#wirfahrenzusammen“-Kampagne. „In den politischen Gruppen, in denen ich aktiv bin, sprechen wir schon ganz lange darüber, wie man Klimaschutz sozialverträglich gestalten kann oder auch wie man Klimaschutz und Klassenkampf zusammenbringen kann“, sagt die Aktivistin. „Und #wirfahrenzusammen ist da das erste Projekt, in dem versucht wird, diese Brücke zu schlagen zwischen den Interessen der Beschäftigten im ÖPNV und den Interessen der Klimabewegung."

Die „#wirfahrenzusammen“-Kampagne ist durch ein Bündnis zwischen „Fridays for Future“ und „ver.di“ entstanden. Gemeinsam kämpfen Klimaaktivist*innen mit den Beschäftigten im ÖPNV für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Investitionen in den Nahverkehr. Das Ziel: Doppelt so viele Busse und Bahnen in ganz Deutschland und günstigere Ticketpreise.

Treibhausgasemissionen im Verkehr sollen bis 2030 mehr als halbiert werden

Kutterer ist davon überzeugt, dass ein effektiver Klimaschutz von unten erkämpft werden kann. Die „#wirfahrenzusammen“-Kampagne zeige, dass Klimaschutz im Interesse der Allgemeinheit ist. Durch das "Klimaschutz- und Klimawandelanpassungsgesetz" ist der Kampf gegen den Klimawandel gesetzlich in Baden-Württemberg verankert. Das Land will bis 2040 klimaneutral werden – fünf Jahre früher als der Bund und zehn Jahre früher als die Europäische Union (EU). 

Der Verkehrssektor ist mit 28 Prozent aller Emissionen einer der größte Umweltsünder. Im Jahr 2022 stieß dieser Treibhausgasemissionen in Höhe von circa 20,2 Millionen Tonnen aus. Hier möchte die Regierung bereits bis 2030 eine Reduktion von mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 erreichen. 2030 dürften also noch rund 9,1 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent ausgestoßen werden. CO2-Äquivalent ist die Einheit, in der die Treibhausgasemissionen gemessen werden. 

Dafür setzt das Verkehrsministerium auch auf den ÖPNV. Bis 2030 soll demnach der öffentliche Verkehr verdoppelt werden und ein Fünftel weniger Kfz-Verkehr in der Stadt und auf dem Land unterwegs sein. Bisher scheint dieses Ziel noch in weiter Zukunft zu liegen. Laut einer repräsentativen „forsa“-Umfrage ist das Auto 2023 das meistgenutzte Verkehrsmittel. An zweiter Stelle folgt der ÖPNV, an dritter das Fahrrad. 

Grund für dieses Ergebnis könnte sein, dass vor allem ländliche Regionen immer noch nicht optimal an den ÖPNV angebunden sind. In kleinen Orten wie Berolzheim im Main-Tauber-Kreis fährt tagsüber der Schulbus – abends und am Wochenende bleibt nur das Auto. „Da fehlt es auf jeden Fall noch an Investitionen für den Ausbau, weil es gerade im ländlichen Raum einfach noch nicht möglich ist, das Auto als Verkehrsmittel aufzugeben, wenn nur einmal die Stunde zum Beispiel ein Bus kommt“, findet Elisabeth Kutterer.

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Die meisten Menschen in Baden-Württemberg fahren am liebsten mit dem Auto. | Quelle: eigene Darstellung

Soziologe: ÖPNV das „Rückgrat“ jedes nachhaltigen Verkehrssystems

Dass der ÖPNV eine wichtige Rolle bei den Klimazielen und auch bei der Mobilitätswende spielt, weiß auch Prof. Dr. Sven Kesselring, Soziologe an der Hochschule Nürtingen und Mitglied des Klima-Sachverständigenrats Baden-Württemberg. Der Klima-Sachverständigenrat berät und bewertet die Landesregierung und den Landtag in den Bereichen Klimaschutz und bringt Vorschläge für zusätzliche Maßnahmen zur Erreichung der Klimaziele ein. „Der ÖPNV sollte das Rückgrat jedes nachhaltigen Verkehrssystems sein“, sagt Kesselring. 

Die Strategie, die das Verkehrsministerium mit dem Konzept „Mobilität und Klima“ verfolgt, findet er richtungsweisend. In Anbetracht der aktuellen Geschwindigkeit bei der CO2-Reduktion im Verkehr in den letzten Jahren müsse man aber ein „unglaubliches Tempo“ vorlegen.

CO2-Ausstoß im Verkehr nimmt zu

Statt einer CO2-Reduktion steigen die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor weiter an. Im Vergleich zu 2021 lag der Anstieg bei einem Plus von 0,4 Prozent. Soll bis 2030 im Verkehrssektor der CO2-Ausstoß um mehr als die Hälfte reduziert werden, müssen nach dem Bericht des Klima-Sachverständigenrats zwischen 2023 und 2030 jährlich rund 1,3 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent im Verkehr eingespart werden. 

Für 2023 rechnet Kesselring allerdings mit einem Anstieg der Emissionen im Verkehr. Momentan sei es kaum vorstellbar, dass die „ambitionierten“ Klimaziele mit den bisherigen Maßnahmen erreicht werden können. Das sei ein Produkt von vielen Jahrzehnten Verkehrspolitik, bei der der öffentliche Verkehr nicht priorisiert wurde, weshalb er nun „notorisch unterfinanziert“ sei. „Das kann man nicht auf die Schnelle nachholen“, so Kesselring. „Ganz ehrlich fehlt mir die Fantasie, wie das erreicht werden kann, wenn es nicht jetzt gelingt, den ÖPNV und auch die aktive Mobilität wie Fahrradfahren oder zu Fuß gehen politisch zu priorisieren.“

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Um die Klimaschutzziele zu erreichen, muss der CO2-Ausstoß im Verkehr deutlich sinken. Das Jahr 2030 stellt in der Grafik die Zielmarke dar. | Quelle: eigene Darstellung

Einige Versuche der Landesregierung, den ÖPNV attraktiver zu gestalten, zeigen schon Wirkung. Im März 2023 wurde das „JugendticketBW“ eingeführt, 2022 einigten sich Bund und Länder auf das „Deutschlandticket“. So wurde ein tarifzonenübergreifendes, kostengünstiges Ticket geschaffen, wodurch laut Klimasachverständigenrat auch mehr Menschen auf den ÖPNV zurückgreifen werden. Inzwischen nutzen in Baden-Württemberg (Stand Dezember 2023) rund 660 Tausend junge Menschen das „JugendticketBW“. Dazu kommen rund 700 Tausend Menschen, die in Baden-Württemberg das „Deutschlandticket“ nutzen, so das Verkehrsministerium gegenüber dem SWR. 

Doch reichen solche Angebote aus, dass die Mehrheit der Menschen in Baden-Württemberg das Auto stehen lässt? Günstige Tickets sind laut Elisabeth Kutterer nicht genug. Es brauche einen qualitativen ÖPNV mit einer hohen Taktung und genug Personal. 

Mobilitätsgarantie in Baden-Württemberg vorerst nicht umsetzbar

Auch durch die sogenannte Mobilitätsgarantie will die Landesregierung die Menschen dazu bewegen, auf die öffentlichen Verkehrsmittel umzusteigen. Diese ist im Koalitionsvertrag von Grünen und CDU verankert und besagt, dass bis 2026 in der Hauptverkehrszeit überall in Baden-Württemberg in kurzen Abständen ein Bus oder ein Zug fahren sollte. Auf dem Land soll es mindestens einen 30-Minuten-Takt geben, in Ballungszentren einen 15-Minuten-Takt. 

Wie der SWR berichtete, geht Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) aber nicht davon aus, dass sich diese Mobilitätsgarantie innerhalb der nächsten zwei Jahre umsetzen lasse. Grund sei der Personalmangel im ÖPNV. Nach Angaben der „#wirfahrenzusammen“-Kampagne fehlen bereits jetzt bundesweit circa 80.000 Beschäftigte, und bis 2030 werde die Lücke durch Renteneintritte noch größer. Dazu kommt, dass das Fahrpersonal - wie Kutterer erzählt - ständig überlastet ist und ausfällt. Und: Bus- und Bahnfahrer*innen haben einen der höchsten Krankenstände von allen Berufen

Prof. Dr. Sven Kesselring, Soziologe und Mitglied im Klima-Sachverständigenrat Baden-Württemberg
Prof. Dr. Sven Kesselring ist Soziologe und Mitglied im Klima-Sachverständigenrat Baden-Württemberg | Quelle: Sven Kesselring
Elisabeth Kutterer, Aktivistin bei „#wirfahrenzusammen“
Elisabeth Kutterer ist Aktivistin bei „#wirfahrenzusammen“ und fährt am liebsten mit dem Fahrrad oder der U-Bahn zur Uni. | Quelle: Marie Schaffert

Kesselring ist davon überzeugt, dass die Mobilitätsgarantie ein entscheidendes Signal für die Bürger*innen ist: „Wenn man diese Klimaziele ernst nimmt, wird es keine Alternative dazu geben, als andere Mobilitätsformen als die Automobilität attraktiv zu machen“, so der Soziologe. Und die Mobilitätsgarantie ist attraktiv, wie die „forsa“-Umfrage zeigt. Demnach stimmen 82 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass alle Orte in ländlichen Räumen mindestens alle 30 Minuten an den ÖPNV angebunden sein sollten, städtische Bereiche sogar alle 15 Minuten. 

Menschen sind bereit, den ÖPNV-Ausbau finanziell zu unterstützen

Ein weiteres Konzept, um den ÖPNV-Ausbau zu finanzieren, ist der Mobilitätspass. Dieser sieht eine Nahverkehrsabgabe zum Beispiel von Unternehmen oder Autobesitzer*innen vor, die von den Kommunen erhoben werden kann. Im Gegenzug erhalten die Bürger*innen ein Guthaben für die Nutzung des ÖPNV vor Ort. Dieses Geld könnten sie dann für den Ticketkauf verwenden. Nach Kesselring ist dieses solidarische Prinzip der richtige Weg, um den ÖPNV-Ausbau im Leben der Menschen zu verankern und zu zeigen, dass er das Leben der Menschen einfacher macht. 

Darin sieht er auch den Schlüssel der Verkehrswende: Durch Fahrgemeinschaften, Gemeindebusse und andere Pilotprojekte wie ein „e-Carpool“ in Geislingen an der Steige könne man den Menschen die Verkehrswende auch auf dem Land schmackhaft machen. Die Mitfinanzierung des ÖPNV-Ausbaus wird auch von den Befragten der „forsa“-Umfrage unterstützt. Drei Viertel der Befragten äußerten ihre grundsätzliche Bereitschaft dazu, einen monatlichen Beitrag zu zahlen, wenn dieser für ein ÖPNV-Abo angerechnet werden kann. „Das ist es, wo es hingehen muss: dass die Mobilitätswende nichts wahnsinnig Schweres ist, was uns nur wehtut, kostet und unbequem ist, sondern dass man auch die Freude an der Gestaltung der Mobilität erkennt und erlebt", so Kesselring.

„Wenn man die Klimaziele ernst nimmt, wird es keine Alternative dazu geben, als andere Mobilitätsformen als die Automobilität attraktiv zu machen.“

Prof. Dr. Sven Kesselring, Mitglied im Klima-Sachverständigenrat

Der ÖPNV-Ausbau gelingt aber nur mit genug Personal. Wenn die Bus- und Bahnfahrer*innen wegen Überlastung oder Krankheit ausfallen, merken das die Beschäftigten und auch die Fahrgäste, sagt Elisabeth Kutterer. „Die Nahverkehrsbetriebe in Deutschland haben so ein extremes Nachwuchsproblem“, so die 23-Jährige. Genau dieses Problem versuche die „#wirfahrenzusammen“-Kampagne anzugehen. Die Forderungen: gute Arbeitsbedingungen, mehr Personal und Investitionen von 16 Milliarden Euro in den ÖPNV. So wären doppelt so viele Busse und Bahnen unterwegs, was auch das Ziel der Landes- und Bundesregierung ist. 

Dafür brauche es aber auch den Rückhalt der Bevölkerung. Kutterer sagt, die Menschen können Unterstützung zeigen durch eine Unterschrift in der Petition von „#wirfahrenzusammen“, Besuche am Streikposten während den Tarifverhandlungen, Gespräche auch im eigenen Umfeld, der Familie, den Kolleg*innen und den Freund*innen. „Wir sind ja alle genervt von den Streiks, wenn wir nicht zur Arbeit kommen oder unsere Kinder nicht zur Kita bringen können“, sagt die Aktivistin. „Aber ich denke, wir müssen als Gesellschaft erkennen, dass die Streiks notwendig sind und dass ohne sie in ein paar Jahren ganz viele Menschen gar nicht mehr zur Arbeit kommen, wenn das Personal wegbricht.“

Für eine erfolgreiche Verkehrswende in Baden-Württemberg hat Elisabeth Kutterer klare Vorstellungen: „Langfristig kämpfe ich für einen attraktiven und kostenlosen ÖPNV, der für alle die bessere Option ist. Und dass wir alle von einem gut ausgebauten Nahverkehr als öffentliches Gut profitieren.“

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Unsere Kommiliton*innen des Studierendenfernsehens „stufe.tv“ haben mit einem Busfahrer über seine Arbeitsbedingungen und die „#wirfahrenzusammen“-Kampagne gesprochen.