Home-Schooling

Von der Tafel zum Bildschirm

Um beim Online-Unterricht konzentriert zu bleiben, müssen sich Grundschulkinder, wie Clara, besonders anstrengen.
25. Febr. 2020
Das kleine Einmaleins, lesen und schreiben lernen – was für ein Kinderspiel. Doch das „Home-Schooling“ hat viele Eltern an ihre Grenzen gebracht. Eine alleinerziehende Mutter und ihre siebenjährige Tochter durchleben den Corona-Wahnsinn.

Claras kurze Beinchen baumeln unter dem Esstisch hin und her. Der Platz, an dem die Siebenjährige sonst beim Mittagessen sitzt, ist seit nun fast zwei Monaten ihr „Home-Office“. Auf dem Tablet folgt sie heute der Deutschstunde ihres Klassenlehrers Herr Leinesser. Zur Begrüßung wird wild durcheinandergerufen und freudig den Mitschülern gewunken. Seitdem sind die Kameras der Kinder ausgeschaltet. Das lenke sonst zu sehr ab. Clara beschwert sich: „Herr Leinesser hat uns weggestellt, das hat er extra gemacht, damit wir nur ihn sehen können.“ Das Arbeitsheft, das die Kinder offen vor sich liegen haben, wird vom Lehrer nun auf den Bildschirm der Erstklässler übertragen.

„Clari ist gerade nicht so konzentriert“, bemerkt ihre Mutter Mareike etwas besorgt. Der Klassenlehrer hatte beim letzten Elternsprechtag angemahnt, dass Clara zwar den Stoff verstehe, sich aber zu selten aktiv am Unterricht beteilige. Die Kritik nimmt Clara sich zu Herzen und meldet sich. Das Wort Taube enthält die Königsbuchstaben A, U, und E. Wieder etwas gelernt.

Doch plötzlich friert die Video-Übertragung ihres Klassenlehrers ein. Verbindungsprobleme. Herr Leinesser ist weg. Clara springt auf und rennt los. Ein paar Sekunden später steht sie mit ihrer Ukulele im Wohnzimmer und haut in die Saiten. Zugegebenermaßen etwas schräge Töne.

Das Internet ihres Lehrers scheint wieder zu laufen. Clara legt ihre Hawaii-Gitarre frustriert beiseite. Auf ihrem „Schreibtisch“ liegen nun neben dem Deutschheft, eine Ukulele, ein Handspiegel und ein Karnevalsorden.

Was fehlt, ist die Konzentration und Motivation

Clara wurde im August eingeschult. Sie ging sehr gerne zur Schule, fand ihren Klassenlehrer toll. Seit Dezember findet der Unterricht allerdings, wegen der zweiten Welle des Coronavirus, nur noch von zu Hause aus statt. Dass sie in der Schule besser lernen kann als zu Hause, ist sowohl ihr als auch ihrer Mutter bewusst. Dort sei sie es gewohnt, fleißig zu sein und ihre Aufgaben zu machen. Daheim gebe es einfach zu viel Ablenkung.

Die Aufmerksamkeitsspanne bei Fünf- bis Siebenjährigen liegt im Durchschnitt bei höchstens einer Viertelstunde. Auch Zehnjährige können sich nur etwa 20 Minuten am Stück fokussieren.

Bei Claras derzeitigen Schultagen liegen die Spannen deutlich darüber. Der Online-Unterricht dauert eine ganze Stunde, die Hausaufgaben, je nach Tagesform, zwischen einer und drei Stunden. Beides ist zwar keine Pflicht, beim erneuten Schulstart sollten die Kinder aber keine allzu großen Lücken haben und den Inhalten noch folgen können. Dennoch erscheint nur ein Bruchteil ihrer Klassenkameraden zu den täglichen Video-Konferenzen. In Claras Klasse sind 19 Kinder, bei den Online-Sessions sind meist nur fünf bis acht Schüler dabei. Für viele scheint es sich nicht zu lohnen.

Täglich eine Stunde still vor dem Laptop zu sitzen, führte anfangs auch bei Clara zu verzweifelten Heulattacken. „Der Online-Unterricht ist mühsam. Das kostet die Kleine Motivation und Kraft, sich da zusammenzureißen“, sagt Mareike.

Sich länger zu konzentrieren, müssen Kinder erst lernen. Dabei helfen spielerische Ansätze sowie gute Vorbilder. Eltern können beispielsweise beim gemeinsamen Backen zeigen, dass ein aufmerksames und diszipliniertes Vorgehen zu guten Ergebnissen führen kann –  nämlich einem leckeren Kuchen.

Unterm Strich beeinträchtigt der Schulausfall Claras Lernerfolg jedoch nicht besonders: Vieles fällt ihr leicht. Wenn bei den Hausaufgaben mal etwas nicht funktioniere, löse sich aber auch Clara manchmal in Tränen auf. Sie sei dann direkt entmutigt und brauche ganz viel Zuspruch, um es nochmal zu probieren. Als sie im Matheunterricht ein falsches Ergebnis vorträgt, will ihr Lehrer sie besänftigen: „Ist doch nicht schlimm, ich habe heute auch schon fünf Rechenfehler gemacht.“ Clara hat in ihrer Aufgabe sechs Fehler. Den anschließenden Weltuntergang vermag man sich nicht vorzustellen.

Clara, 7, und Mareike, 36, sind trotz Coronapandemie guter Dinge.
Clara antwortet ehrlich auf einen kleinen Fragebogen im Stil eines Freundebucheintrags.
Eine Kundin von Mareike schenkte Clara vor Kurzem diesen Rechenschieber.

Nicht mal Zeit für einen Kaffee

In Deutschland leben laut dem Statistischen Bundesamt rund 11,5 Millionen Familien. In etwa jeder Fünften kümmert sich ein Elternteil alleinerziehend um die Kinder. In knapp 85 Prozent der Fälle ist das die Mutter. Auch Mareike gehört dazu.

Das „Home-Schooling“ verlangt ihr einiges ab. Mareike fällt es schwer, ihre Tochter ständig zu motivieren und dauerhaft daran denken zu müssen, wie weit Clara schon mit ihren Aufgaben ist. Sie bedauert, dass sie Clara dabei nicht so helfen kann, wie es ihr Lehrer könnte. „Die neuen Themen so ausführlich, spielerisch und interessant zu erklären, ist mir pädagogisch einfach nicht möglich.“ Den Anspruch habe sie aber auch nicht. Das Wichtigste für das Kind sei derzeit, dass sie gut aufgehoben ist und sich trotz der Pandemie wohlfühle.

Auch Una Röhr-Sendlmeier, Professorin für Pädagogische Psychologie an der Uni Bonn, sieht Eltern nicht als Ersatzlehrer. Vielmehr sollten sie den Kindern einen geeigneten Rahmen zum Lernen bieten, zum Beispiel durch eine ruhige Lernatmosphäre und einen strukturierten Tagesablauf.

Oft bringt Mareike ihre Tochter deswegen noch vor der Arbeit zu den Großeltern. Seit Clara keine anderen Kinder mehr trifft, haben sie die anfängliche Angst abgelegt, sich bei ihr anzustecken. Dass die Hausaufgaben aber häufig nur unzureichend erledigt sind, wenn Mareike ihre Tochter mittags wieder abholt, ärgert sie. Clara findet hingegen: „Bei der Omi ist es toll, da spielen wir immer Puppentheater.“ Das bedeutet für Mareike zu Hause aber wieder Stress.

„Was momentan am ehesten auf der Strecke bleibt, ist man selbst als Mensch.”

Mareike Stock

Denn seit Clara nicht mehr zur Schule und in die Mittagsbetreuung geht, hat sie keinen Moment mehr für sich. „Wir reden da auch sonst nur von einer halben bis dreiviertel Stunde am Tag. Aber selbst die Zeit, um mal einen Kaffee zu trinken oder ein paar Seiten in meinem Buch zu lesen, habe ich nicht mehr.“ Erst einmal müsse das Kind versorgt werden, dann man selbst, so sieht es Mareike. „Eine solche Belastung ist aber auf Dauer nicht machbar”, gesteht sie sich ein.

Aufwachsen zwischen Tieren

Alle zwei Wochen verbringt Clara das Wochenende bei ihrem Vater. Dann sind die beiden auch schon mal gemeinsam in den Freizeitpark gegangen. Ansonsten lebt Clara bei ihrer Mutter. Dort verläuft das Leben eher in ruhigen Bahnen.

Die kleine Familie Stock lebt mit Hündin Emma und Kater Janosch in einer 70-Quadratmeter-Wohnung in Karweiler, einem 600-Seelen-Dorf in Rheinland-Pfalz. An ihre Wohnung grenzt ein Garten, in dem ihre drei Hasen umherhoppeln. Nur wenn sie die Löffel besonders spitzen, hören sie die in der Ferne entlanglaufende A61. Auch das Licht der nächsten Ortschaft dringt kaum über den Hügel und die Felder bis in Claras und Mareikes Schlafzimmer. Trotz der ländlichen Lage gibt es in ihrem Dörfchen aber alles, was sie brauchen.

Am oberen Ende des Dorfes befindet sich die Koppel. Hier steht das eigene Pferd von Mareike, hier hat auch Clara Reiten gelernt. Mit den anderen Kindern aus dem Dorf spielt sie am liebsten dort auf den Wiesen. Da brauche es gar keinen Freizeitpark, Hauptsache ihr bester Freund, der freche Oskar, ist mit dabei.

Am unteren Ende des Dorfes arbeitet Mareike. Auf einem Gehöft, das Gartenbau betreibt, hat sie einen Raum angemietet: ihre eigene Praxis. Die gelernte Tier-Physiotherapeutin ist seit 2016 selbstständig. Seit 2018 behandelt sie die Vierbeiner auch in ihrem eigenen Praxisraum. Darüber hinaus ist sie bei einem Tierarzt angestellt. Zwei Vormittage die Woche hilft sie dort aus.

Rund drei Viertel der alleinerziehenden Mütter mit einem Kind im Grundschulalter sind neben der Erziehung ihrer Kinder erwerbstätig. Vollzeit arbeiten gehen dabei nur 35 Prozent der alleinerziehenden Mütter mit einem Kind unter zehn Jahren.

Mutter und Tochter sind ein eingespieltes Team.
Clara mit Mareikes Pferd Apple.

Es funktioniert nur im Team

Dennoch findet die kleine Familie auch in erschwerten Zeiten einen gemeinsamen Rhythmus. Mareike lässt Clara derweil auch mal alleine. Die Siebenjährige genießt es, selbst bestimmen zu können, wie sie ihren Tag gestalten möchte. Wenn ihr danach ist, kommt sie einfach zu ihrer Mutter in die Praxis herüber.

„Dass ich nur ein paar Meter weit weg bin, macht das Ganze nur halb so stressig“, weiß auch Mareike. Die Kleine setzt sich dann zum Hausaufgabenmachen an den großen Schreibtisch in der Praxis. Sie meckert nur dann, wenn ihre Mutter zu laut mit den Kunden quatscht oder ein Hund, durch das Lösen einer Verspannung, pupsen muss. Manche Kunden, wie eine ehemalige Lehrerin, setzen sich sogar, während ihre Vierbeiner behandelt werden, zu Clara und helfen bei den Aufgaben. Mareike kann ihrer Arbeit dann in Ruhe nachgehen.

Allgemein fungieren Clara und Mareike als Team wunderbar. Das läge daran, dass Clara ein so umgängliches Kind sei. Sie sei genügsam, habe keine großen Ansprüche: „Wenn irgendwas mal nicht klappt, findet sie das auch nicht schlimm.“ Die zwei gehen fürsorglich, respekt- und verständnisvoll miteinander um.

Das Schönste sei, wenn Clara von innen heraus die Motivation entwickle, ihrer Mutter eine Freude zu bereiten. Beim Hausaufgaben erledigen, platzt dann nach stundenlangem Herumdiskutieren und Sich-qualvoll-auf-dem-Stuhl-wälzen der Knoten. Dann verriegelt Clara die Tür zum Wohnzimmer. Erst nach einer halben Stunde darf Mareike hereinkommen. „Rat mal, was ich gemacht hab, Mama“, heißt es dann. „Bist du etwa schon mit den Hausaufgaben fertig?“, antwortet Mareike ganz verblüfft und die Kleine strahlt über beide Backen.

Das Mamaherz blutet

Lange hat Mareike die Option, ihre Tochter in die Notbetreuung ihrer Grundschule zu stecken, nicht wahrgenommen. Sie hatte Sorge, Clara könnte sich dort mit dem Virus anstecken. Außerdem müsse sie die unliebsame Maske mehrere Stunden am Stück tragen.

Doch wegen der Virusmutationen wird der Schulstart am 1. Februar kurzfristig abgesagt und auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Wochenplan muss komplett umgeschmissen werden: Clara soll zum ersten Mal in die Notbetreuung.

„Am Montag geht es doch nicht los. Wieder mal eine mittlere Katastrophe. Es ist echt zum Durchdrehen.“

Mareike Stock

Seit Langem bringt Mareike ihre Tochter mal wieder zur Schule. Die sonst so selbstbewusste Clara wird im sterilen Umfeld, ohne ihren Klassenlehrer und ihre Freunde, unsicher. Als zwei große Jungs, aus der Vierten, durch den Gang laufen, klammert sie sich an die Hand ihrer Mutter. „Mein Mamaherz blutet schon, wenn ich sie dort abgebe. Am liebsten würde ich mitgehen und bei ihr bleiben.“ Aber das geht nun mal nicht. Clara ist jetzt auf sich allein gestellt.

Den ganzen Vormittag über schaut Mareike immer wieder auf ihr Handy. Nicht, dass es Clara überhaupt nicht gefällt und sie vorzeitig abgeholt werden muss. Doch das Handy bleibt still.

Erst als Clara an der Bushaltestelle steht, drückt sie einen Knopf auf ihrer Smartwatch und ruft ihre Mutter an, um Bescheid zu geben, dass sie nach Hause kommt. Die Digitalisierung hat eben auch ihre Vorteile.

Als Clara daheim ist, sind Mareikes Sorgen wie weggeblasen. „Es war so toll“, berichtet die Kleine freudestrahlend. Sie möchte gleich am nächsten Tag wieder dorthin. Clara hat alle Aufgaben erledigt, von einer Betreuerin einen Fleiß-Stempel erhalten und sogar noch Zeit gefunden, um sich mit ihren Polly-Pocket-Figuren zu beschäftigen.

Mit den anderen Kindern spielen – dagegen Fehlanzeige. „Langsam sollte Clara ihre Klassenkameraden und Freunde wiedersehen“, findet Mareike. Sie hänge seit knapp zwei Monaten nur alleine in ihrem Zimmer.

Endlich durchatmen

Scheinbar werden Mareikes Gebete erhört: Die Schulen öffnen am 22. Februar wieder. Claras „zweiter erster Schultag“ steht an, dieses Mal allerdings ohne Einhorn-Schultüte. „Wenn ich sie mit ihrem rot-gemusterten Schulranzen in die Schule laufen sehe, denke ich mir, das ist einfach das richtige Bild“, freut sich ihre Mama.

Außerdem kann auch Mareike endlich mal wieder durchatmen, einen Schluck Kaffee trinken oder ein bisschen in ihrem Buch lesen. Hoffentlich sei die Öffnung jedoch nicht zu voreilig. Eine erneute Schließung könnte nicht nur bei den Kindern ein Gefühl von Instabilität hinterlassen.

Sollten die Schulen nochmal zumachen, schaffen es Mareike und Clara aber mit Sicherheit, auch die nächste Odyssee durch ihren außergewöhnlichen Zusammenhalt zu bewältigen.