Kolumne

Goethe hilft mir im Alltag auch nicht weiter

10. März 2023
Ein Sprung ins kalte Wasser – so fühlt es sich an, nach der Schule in das reale Leben zu starten. Eigentlich sollte sie uns auf die Zukunft vorbereiten, doch davon ist weit und breit nichts zu sehen. Eine Kolumne über den Schulwahnsinn: jeder kennt´s, niemand spricht´s aus.

Wusstet ihr, dass es so etwas wie Lohnsteuer gibt und man diese mithilfe einer Steuererklärung wiederbekommen kann? Also ich wusste das nicht. Es gibt viele Dinge, die ich nicht weiß. Kein Mensch kann alles wissen, aber manche Dinge sind grundlegend und sollten uns in der Schule vermittelt werden. Damit meine ich übrigens nicht, dass es wichtig ist, zu wissen, welche Stilmittel Goethe in seinen Gedichten benutzt hat. Ich meine auch nicht, berechnen zu können, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich eine rote Kugel aus einer Kiste ziehe. Nein, was ich meine, ist ein grundlegendes Verständnis von Einkommen, Steuern, Krankenversicherungen und all den erwachsenen Dingen, mit denen wir jetzt zu kämpfen haben.

Deutsch war eins meiner Lieblingsfächer in der Schule, aber was bringt es mir, sämtliche Lebensläufe von Dichtern auswendig zu kennen und zu wissen, wer welche Stilmittel bevorzugte. Dadurch schreibt sich die Steuererklärung nicht leichter und die Zahlen auf meiner Lohnabrechnung verstehe ich damit auch nicht. Insbesondere nach meinem Umzug in eine neue Stadt habe ich gemerkt, wie wenig Ahnung ich vom wirklichen Leben habe. Für meinen Nebenjob musste ich einen Personalbogen ausfüllen, in dem ich meine Steueridentifikationsnummer und meine Sozialversicherungsnummer angeben sollte. Sowas gibt es? Ich war völlig überfordert, nahm als Erstes mein Handy in die Hand und fragte Google nach einer Erklärung. Nicht einmal Google konnte mir weiterhelfen. Ich verstand nur Bahnhof und tue das bis heute noch. Danke Goethe, wäre es nicht besser gewesen, du hättest mir etwas Sinnvolles beigebracht, anstatt mich mit deinem veralteten Deutsch zu quälen. Es ist durchaus wichtig, Kindern Allgemeinbildung zu vermitteln. Dazu gehört es wohl oder übel auch, prägende Menschen wie Goethe zu kennen. Ich sage ja nicht, dass dieser Mann unbedeutend für unsere Gesellschaft war, aber muss ich mich wirklich wochenlang mit seinen Gedichten beschäftigen? Mit Sicherheit ist es kein Tageshighlight, sich morgens um acht in der Schule etwas über Steuern anzuhören, aber das würde uns jetzt wenigstens das Leben vereinfachen.

Wie oft habe ich in meiner Schulzeit den Satz gehört: „Du lernst hier nicht für die Schule, sondern für dich und das Leben“. Wenn dieser Satz wirklich stimmt, dann habe ich so einiges nicht mitbekommen. Anscheinend reicht es dem Finanzamt neuerdings aus, wenn man für die Steuern eine ausführliche Gedichtanalyse einreicht. Dabei solltet ihr bloß nicht das Reimschema oder das Versmaß vergessen, sonst bestrafen sie euch noch wegen Steuerhinterziehung. Früher habe ich meine Eltern über solche lästigen Dinge schimpfen gehört. Verstanden habe ich das natürlich nicht. Es war mir egal und ich habe mich wieder mit meinem Playmobil beschäftigt. Heute, über zehn Jahre später, stehe ich vor genau demselben Problem und schimpfe lauter als meine Eltern damals. Wenn das so weiter geht, werden unsere Kinder genauso Alltagsnichtsnutze wie wir.

Eine weitere Folge meiner Kolumne „Absoluter Schulwahnsinn“ findest du hier.