Langzeitduldung

Eine Zukunft auf Zeit

25. Febr. 2022
Wie lebt es sich, wenn ein Stempel alle drei Monate über deine Zukunft entscheidet und diese Sicherheit mehr Einschränkungen als Freiheiten bedeutet? Eine Reportage über das Leben eines Langzeitgeduldeten und seinen Weg der Integration.

Ein Anruf, dann die schleichende Angst. Sie wollen ihn sprechen, so bald wie möglich. Er soll vorbeikommen. Die Unsicherheit in seiner Brust bahnt sich ihren Weg, beengt seinen Hals, kontrolliert seinen Kopf. Er kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, ist nervös. Seine Knie sind weich, als er die steinerne Treppe zum Rathaus erklimmt. Ein Klingeln, dann noch eins. Keiner macht ihm auf. Er probiert es erneut, keine Reaktion. Wieso wollten sie ihn so dringend sprechen? Es ist doch noch gar nicht an der Zeit? Und wenn es so dringend ist, warum macht keiner auf? Tausende Gedanken schießen Morteza durch den Kopf – sollte er besser abhauen und untertauchen, als weiter hier zu stehen und zu klingeln? 

Es stellt sich heraus, die Beamten waren nur in einer längeren Mittagspause. 

Scheinbare Sicherheit

Morteza lebt seit sieben Jahren in Deutschland. Er ist Ende 2015 aus dem Iran geflohen – damals war er 16 Jahre alt. Fünf Jahre lang hat er hier mit einer Duldung gelebt. Eine Duldung ist eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“, so steht es im § 60a Aufenthaltsgesetz. Geduldete sind zwar nicht zum Aufenthalt in Deutschland berechtigt, werden aber auch nicht dafür bestraft. Eine Duldung wird Personen erteilt, die sich „nicht rechtmäßig“ in Deutschland aufhalten, deren Abschiebung jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich ist. Alle drei Monate muss die Duldung erneuert werden – geschieht dies nicht, müssen die Betroffenen innerhalb weniger Wochen das Land verlassen. 

Für Morteza geht es um so viel mehr als ein grün schillerndes Stück Papier mit einem Stempel darauf. Für ihn und die weiteren 30.000 geduldeten Menschen in Baden-Württemberg (2020) ist die Duldung eine bittersüße Versicherung, dass sie die nächsten drei Monate im Land bleiben dürfen. Scheinbare Sicherheit, in einer Situation voller Unsicherheit.

Ein Leben auf der Flucht

Auch im Iran fühlte sich Morteza nicht zu Hause. Als die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen hatten, flohen seine Eltern 1999 mit den Kindern in den Iran – Morteza war damals wenige Monate alt. Er wuchs im Iran als eines von acht Kindern afghanischer Flüchtlinge auf. Keine leichte Voraussetzung, wie er sagt: „Ich hatte nie eine Heimat. Wir wurden im Iran nie als Menschen gesehen. Du hast keine Rechte. Nur wenige dürfen studieren oder einen Führerschein machen. Du wirst behandelt wie Dreck, bekommst keinerlei soziale Unterstützung. Du hast nichts und bekommst auch nichts – das ist in Deutschland anders.“

„Ich hatte nie eine Heimat.“

Morteza

Ende 2015 flieht Morteza über die Türkei nach Deutschland, ohne sich von seiner Familie zu verabschieden. Er kommt in Gießen an, wird weiter verteilt in eine Unterkunft in Ludwigsburg. Dort lebt er in einer Achter-WG mit anderen unbegleiteten Jugendlichen. „Ich war überfordert. Weit weg von meiner Familie, in einem fremden Land mit einer fremden Kultur und Sprache.“ 

Um sich besser und schneller zu integrieren und deutsch zu lernen, erkundigt er sich beim Jugendamt nach der Möglichkeit bei einer deutschen Familie zu leben. Und tatsächlich: Zusammen mit einem Freund kommt er zu einer Pflegefamilie in einem Dorf nahe Vaihingen an der Enz. Pflegevater Bernhard fragt Morteza, ob er studieren oder lieber eine Ausbildung machen möchte. Eine Frage, über die sich Morteza bisher keine Gedanken gemacht hatte – wo keine Möglichkeiten sind, da sind keine Vorstellungen. Am liebsten würde er Maschinenbau studieren, entscheidet sich aber für eine Ausbildung zum Industriemechaniker bei einem örtlichen Unternehmen. „Das hat mir ermöglicht für die Zeit der Ausbildung sicher in Deutschland bleiben zu können“, erzählt er. „Hätte ich mich für das Studium entschieden, hätten sie mich ganz leicht abschieben können.“ 

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Über eine Ausbildung besteht trotz abgelehntem Asylverfahren eine Option, zu bleiben. | Quelle: Franziska Kircher

„Zeig dich nicht zu engagiert“

In der Berufsschule sind Mortezas Leistungen so gut, dass er die Ausbildung sogar ein halbes Jahr früher hätte beenden können. Sein Anwalt, der ihn in seinem ersten Asylverfahren vertritt, rät ihm allerdings davon ab, vor Gericht zu engagiert aufzutreten. Er habe das zuerst gar nicht verstanden – hatte für seine Ausbildungsduldung gekämpft, war in dem, was er lernte, sehr gut, lebte bei einer deutschen Familie, engagierte sich im Fußballverein des Dorfs, schloss viele Freundschaften und sprach bereits nach zwei Jahren auf C1-Niveau Deutsch. Er zählt diese Errungenschaften an den Fingern ab und mit jedem weiteren Finger intensiviert sich sein Kopfschütteln. Nein, er kann es wirklich nicht verstehen. Er ist stolz, stolz auf das, was er sich aufgebaut hat. Doch trotz allem lehnt das Gericht seinen ersten Asylantrag ab. „Je besser du dich integrierst und dir hier ein Leben aufbaust, desto eher sagt das Gericht: So engagiert wie Sie sich zeigen, können Sie das in Ihrem Heimatland auch schaffen“, so Mortezas damaliger Anwalt. Doch das was er hier geschafft hat, hätte er im Iran nicht schaffen können, ist sich Morteza sicher. „Es herrscht zwar kein Krieg, aber Perspektiven gibt es dort nicht für uns“, sagt er.

Nachdem sein erster Asylantrag abgelehnt wird, entscheidet Morteza, sich bei der nächsten Verhandlung selbst zu vertreten. Er liest sich monatelang in Paragrafen ein, versucht einen Weg zu finden, sein Leben hier in Deutschland abzusichern. Stets mit der Angst im Nacken, dass seine Duldung kein weiteres Mal verlängert wird. Er erklärt: „Dein Anwalt kann Weltklasse sein, doch niemand wird so hart für dich arbeiten wie du selbst, wenn dein Leben davon abhängt, okay? Bis du es selbst nicht in der Hand hast, bist du nicht sicher.“ Doch auch Mortezas zweiter Asylantrag wird abgelehnt. 

Alte Regeln in neuem Gewand

„Die deutsche Migrationspolitik denkt in Schubladen: Arbeitsmigration für Hochqualifizierte, Einwanderung mit einem Visum für Ehepartner*innen oder Antrag auf Asyl – das sind die Optionen“, so Rex Osa. Jeder der nicht die Voraussetzung für die ersten beiden Optionen erfülle, sei gezwungen Asyl zu beantragen, meint er. Rex Osa ist selbst 2005 aus Nigeria geflohen und hat lange dafür gekämpft in Deutschland bleiben zu dürfen. Auch wenn er selbst mittlerweile legal hier lebt, hat er seinen Kampf nicht aufgegeben. Mit seiner Organisation „Refugees4Refugees“ will er Asylbewerber*innen und Migrant*innen bestärken, für ihre Rechte zu kämpfen.  

Es handele sind oft um Leute, die nicht in das deutsche Profil eines „Asylbewerbers“ passten, so Rex Osa. „Sie sind vielleicht nicht vor Krieg geflohen“, erklärt er, „sondern vor Perspektivlosigkeit in ihrem Heimatland.“ Sie kämen mit „himmelhohen Erwartungen“ nach Deutschland und fänden sich dann hier in einem luftleeren Raum wieder. In einer ebenso perspektivlosen Situation, weil sie keine Gewissheit bekämen, ob sie bleiben dürften und was sie dafür tun könnten, kritisiert der Flüchtlingsaktivist. Es brauche Mut und sehr viel Kraft, wenn man dafür kämpfen wolle, in Deutschland zu bleiben, so Osa. „Meine erste Anhörung damals war kein Verfahren, das war wie ein Verhör“, erinnert er sich. „Von Minute eins in der du über die Grenze dieses Landes trittst, musst du dich verteidigen. Dich rechtfertigen, wieso du da bist.“ Viele hätten die Kraft dazu nicht. 

Rex Osa beobachtet die deutsche Migrationspolitik seit Jahren. Die neue Bundesregierung will das System grundlegend reformieren, Bleibeperspektiven schaffen, doch er hat für die Pläne der Ampelkoalititon kaum Hoffnung: „Die Politik setzt alle paar Jahre etwas Neues auf. Sie schreiben einen neuen Namen darauf, aber drin ist das gleiche – verschönte Repression“, meint er. Deutschland habe das Potential zum Einwanderungsland, wolle dies aber weder erkennen, noch annehmen, so Osa. Seiner Ansicht nach, ungenutztes Potential.

Status Quo

Seit Ende 2020 kann Morteza etwas aufatmen. Nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Ausbildung und fünf Jahren Duldung bekommt er eine Aufenthaltserlaubnis. Diese ist zwar auch zeitlich auf zwei Jahre begrenzt, doch er muss nicht alle drei Monate zum Amt gehen, um sie erneuern zu lassen. Das Unternehmen, bei dem er seine Ausbildung gemacht hat, hat ihn übernommen, er wohnt in einer eigenen Wohnung und hält, wenn er die Mülltonnen rausstellt, einen netten Plausch mit der Nachbarin. „Jeder kennt mich hier und alle freuen sich, wenn man sich auf der Straße sieht!“, erzählt Morteza. Die Leute im Dorf und seine Pflegefamilie hätten ihn so sehr unterstützt wie kein Amt. Das Problem bei der Integration seien nicht die Menschen, es sei das ewige Warten auf Gewissheit. „Du hast das Gefühl unsichtbar zu sein, für die, die letztendlich darüber entscheiden, ob du hier eine Zukunft hast oder nicht“, sagt er.

Ein Familienfest nach fünf Jahren Fremde

Einen großen Vorteil, den die Aufenthaltsgenehmigung gegenüber der Duldung mit sich bringt, ist die Freiheit, zu reisen. Sobald Morteza die Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatte, buchte er einen Flug zu seiner Familie in den Iran. Fünf Jahre hatte er sie nicht gesehen, sie in den Armen gehalten, mit ihnen gegessen. Die Freude war groß, als er seine Eltern, Onkel, Tanten, sieben Geschwister und zahlreiche Nichten und Neffen wiedersehen konnte. Das sieht man an dem Strahlen in seinen dunklen Augen, als er auf seinem Handy die Bilder des ersten Treffens aufruft. „Da sitzt mein Onkel, mein Papa… oh und da ist meine Schwester!“ Im Wohnzimmer von Mortezas Eltern herrscht reges Treiben. Die Familie ist für die Yalda-Nacht zusammengekommen – die längste Nacht des Jahres. „Das ist Tradition. Wir wollen möglichst viel Zeit gemeinsam verbringen. Wann geht das besser als in der längsten Nacht im Jahr?“, erklärt Morteza und lächelt verschmitzt. Aufgetischt werden traditionelle persische Gerichte und danach ganz viele Früchte: Die durch bunte Ornamente gezierten Teller sind prall gefüllt mit Melonen, Granatapfelkernen und roten Trauben. 

Das Essen gibt Morteza auch in Deutschland ein Gefühl von Zuhause-Sein – oft lädt er seine Freunde und Pflegefamilie ein, um für sie zu kochen. Auf die Frage, ob seine Geschwister denn auch mal darüber nachgedacht haben, nach Deutschland zu kommen, antwortet er bestimmt. Die Fältchen, die gewöhnlich seine Augen umspielen, wenn er von seiner Familie spricht, verschwinden – weichen einem leeren Blick. „Ich habe ihnen die Flucht nach Deutschland verboten. Sie sollen das nicht durchmachen.“ Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Ich hatte ja keine Ahnung.“ Dass er nicht gegangen wäre, wenn er gewusst hätte, was auf dem Weg auf ihn wartet, muss er nicht sagen, das kann man in seinem Gesicht lesen. Die Erinnerungen kämen immer wieder hoch, damit werde er nun leben müssen, meint er. 

Die Perspektive

Er zieht die Ärmel seines schwarzen Pullovers mit goldenen Ornamenten um den Kragen nach unten, als würde er etwas frieren. Dann lockert er seine Schultern, dehnt seinen Nacken und schaut nach vorn. Er scheint bereit für die nächste Frage, bereit dafür, das hinter sich zu lassen, was ihn gerade eben eingeholt hat. „Nachdem mein zweites Asylverfahren abgelehnt wurde, habe ich mich entschieden, einen anderen Weg zu nehmen“, sagte er. Ab September kann er einen Antrag auf eine Niederlassungserlaubnis stellen. Das ist einer Aufenthaltserlaubnis ähnlich, allerdings unbefristet. Prinzipiell erfüllt er bereits alle Kriterien: Eine Ausbildung, sichere Arbeitsstelle und Deutsch auf sehr gutem Niveau. Nur eins fehlt noch: Er hat bislang nicht volle 60 Monate in seine Rentenversicherung eingezahlt. 

Im September 2022 soll es dann so weit sein. Wenn Morteza die Niederlassungserlaubnis bekommt, darf er bleiben. „Vielleicht kann ich dann mal sagen, das ist meine Heimat“, meint er. Irgendwann.