Sexualstrafrecht

Die Frage, die niemand stellt

Steven Whitsett, 51-jähriger Sexualstraftäter aus den USA im exklusiven Gespräch mit edit.
11. Mai 2023
Helikopter, Fesseln, Reisepässe und Schulfreunde: Das Leben des Steven Whitsett , einem registrierten Sexualstraftäter aus den USA. Im Gespräch mit edit. blickt er zurück auf sein Leben, seine Straftat und den Konflikt mit dem Gesetz.

Es ist schwer, keine Sympathie für Steven Whitsett aufzubauen, je mehr man über seine Geschichte erfährt. Das ist umso erstaunlicher, da seine Geschichte mit jedem Lebensabschnitt auf ihre eigene Art und Weise interessanter und auch krimineller wird.

Whitsett blickt weg von der Kamera, sein Blick bleibt einige Sekunden am Mikrofon hängen. Er ist still, denkt nach und man könnte meinen, die Zeit steht still. Wäre da nicht die Stoppuhr unserer Aufnahme, die unaufhaltsam weiterzählt. Nach einiger Zeit setzt Whitsett wieder an, nur um noch einmal eine Pause zu machen. Diesmal bricht er nach einigen Sekunden die Stille. Er erzählt von der Sache, die er am meisten bereue und verfällt in die nächste Pause. Wieder Zeit zum Nachdenken. Selten sind diese Denkpausen, denn wenn Whitsett anfängt zu erzählen, hört er erst nach einigen Minuten wieder auf. Doch hier geht es eigentlich gar nicht um ihn, das wird im Gespräch mit Whitsett sehr schnell deutlich.

Im November 1994 nimmt Whitsetts Geschichte ihren Lauf. Der damals 22-Jährige wird wegen drei Sexualdelikten angeklagt. Diese soll er an einem 15-jährigen Insassen einer Jugendstrafanstalt für Sexualstraftäter begangen haben. Whitsett selbst gibt an, dass von den Anschuldigungen mindestens eine wahr sei. Whitsett soll unter anderem Nacktbilder des Jugendlichen gemacht haben. Als Folge dessen wird er zu einer Gefängnisstrafe von 8 Jahren verurteilt.

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Whitsett wird wütend, laut, er echauffiert sich über das Rechtssystem in den USA. Er schweift ab, holt aus und erzählt von Dingen, nach denen er nicht gefragt wurde. Doch er bleibt sachlich und versucht nicht zu erklären, wie unfair er behandelt wird. Vielmehr versucht er aufzuzeigen, wo nach seinem Ermessen falsch gehandelt wurde und begründet dies.

Nach etwa fünf Jahren sollte er aufgrund von guter Führung entlassen werden, doch hier nimmt seine Geschichte die erste von vielen unerwarteten Wendungen. Unter dem Civil Commitment of Sexually Violent Predators (CCSVP) darf der Bundesstaat Florida Sexualstraftäter*innen nach dem Ermessen von staatlichen Psycholog*innen auf unbegrenzte Zeit in Behandlungszentren verlegen. Allerdings nur, wenn die Straftäter*innen auch nach dem Ableisten ihrer Haftstrafe weiterhin eine Gefährdung für die Gesellschaft darstellen. So wurde auch Whitsett in ein Behandlungszentrum verlegt.

Das "Martin County Treatment Center" ist wie ein Gefängnis aufgebaut. Es war früher eines und wurde zum jetzigen Zwecke umfunktioniert. Konfrontiert damit, hier den Rest seines Lebens zu verbringen, plante Whitsett mit Clifford Burkhart seinen Ausbruch, den er im Juni 2000 schließlich versuchte. Die beiden kannten sich schon aus ihrer Schulzeit. Burkhart begleitete Whitsett während seiner Prozesse im Gericht und stand ihm stets zur Seite - so auch an jenem fünften Juni.

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Burkhart landete um die Mittagszeit mit einem Helikopter im Behandlungszentrum, in dem Whitsett festgehalten wurde. Whitsett bestieg den Helikopter und die beiden flogen etwa einen Kilometer weit, bevor sie in einem Feld abstürzten. Nachdem sie nach 26 Stunden mit mehreren Helikoptern in einem Kanal unter einer Autobahn gefasst worden waren, wurde Whitsett in zwei Punkten vor Gericht gebracht. Aufgrund des Ausbruches aus dem Behandlungszentrum und dem Besitz einer Feuerwaffe wurde er zu weiteren 20 Jahren Haft verurteilt. Ein Jahr verbrachte er im Todestrakt, zehn Jahre in maximaler Isolationshaft. Nachdem er 2016 auch seine zweite Haftstrafe hinter sich hatte, erblickte er nach eigener Aussage zum ersten Mal wieder die Freiheit. Doch wie sich für ihn schnell herausstellte, war auch das – um es in seinen Worten zu sagen – eine „Farce“. Denn Sexualstraftäter*innen werden nach US-amerikanischem Recht in einem Register geführt, das jeder einsehen kann. Als Folge dessen ist es für Sexualstraftäter*innen deutlich schwerer, sich an Universitäten zu bewerben oder Arbeit zu finden.

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Dieses Register sieht Meldepflichten vor, die mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nur schwer vereinbar sind. So müssen sich registrierte Sexualstraftäter*innen sowohl in bestimmten Zeitabständen bei der zuständigen Polizeibehörde melden als auch, wenn sie ihre Wohnanschrift für mehr als 48 Stunden verlassen. Mit der Einführung dieses §22 USC 212b, dem „International Megan’s Law“, wurde das Leben in den USA für Whitsett unerträglich. Dieser Paragraph schreibt vor, dass Sexualstraftäter*innen einen Identifikator auf ihrem Reisepass anbringen müssen, der auf ihre Straftaten hinweist. Mit Hilfe eines Priesters floh er über Dänemark nach Deutschland zu Freunden und stellte etwa einen Monat später, im Juni 2018, einen Asylantrag. Da er hiermit gegen die Meldepflichten des Registers verstoßen hat, steht aktuell ein Haftbefehl in den USA gegen ihn aus. Sollte er in die USA zurückkehren, drohen ihm mindestens 18 Jahre Haft. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe sieht in der Gesetzgebung des Registers im Fall Whitsett keinen Verstoß gegen die EMRK, da Whitsett Arbeit gefunden hat und daher einige Einschränkungen für ihn nicht zutreffen. Die drohende Inhaftierung in den USA wird jedoch als Verstoß gegen die EMRK gewertet. Daher wurde Whitsett Ende 2022 der subsidiäre Schutzstatus erteilt.

Der subsidiäre Schutz greift ein, wenn weder der Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt werden können und im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht.
Er berechtigt zu:

  • Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr
  • Niederlassungserlaubnis nach fünf Jahren
  • unbeschränkter Arbeitsmarktzugang - Erwerbstätigkeit gestattet

Quelle: BAMF

Whitsett ist stolz auf die Arbeit, die er hier in Deutschland gefunden hat und erzählt ebenso stolz über seine Erfolge bei seinem Arbeitgeber. Er lobt nicht sich selbst, sondern dankt seinen Kolleg*innen. Er ist dankbar, dass er ein Leben führen kann, in dem ihn seine Fehler nicht ewig verfolgen. Er ist froh, ein freies Leben zu führen. Whitsett erzählt zum Beispiel mit Freude von den Ländern, die er hier besuchen kann, und davon, dass er seinen Flugschein machen kann.

Whitsett ist in mehreren Menschenrechtsorganisationen aktiv, die sich mit dem Register für Sexualstraftäter*innen befassen. Im März 2021 hielt Whitsett eine Rede vor dem 14. Kongress der Vereinten Nationen in Kyoto, Japan.

Am Ende des Interviews frage ich Whitsett, ob er noch Anmerkungen habe. Er antwortet mir mit einem "Nein", ich hätte nichts übersehen. Doch dann pausiert er, grübelt etwas und sagt, ich hätte eine Frage nicht gestellt. Die Frage, die niemand stellt: Warum habe er die eigentliche Sexualstraftat überhaupt erst begangen?

Whitsett ist in einem sehr konservativen, kirchlich geprägten Umfeld aufgewachsen, seine Eltern akzeptieren bis heute nicht, dass er homosexuell ist. Weder in der Schule noch in seinem sonstigen Privatleben konnte er entsprechende Erfahrungen machen. Er beschreibt sich selbst als naiv zum Zeitpunkt seiner Sexualstraftat. Naiv und verletzlich ließ er sich von dem damals schon für zwei Sexualstraftaten verurteilten Jugendlichen manipulieren und brachte sich so in diese Situation. So geriet er mit dem amerikanischen Rechtssystem in Konflikt und verbrachte 22 Jahre hinter Gittern.

US-amerikanisches Recht für Sexualstraftäter.

Das US-amerikanische Rechtssystem im Umgang mit Sexualstraftäter*innen ist bereits vielfach kritisiert worden. Ob dieses System in jedem Fall eine Menschenrechtsverletzung darstellt, ist auch unter dem Blickwinkel der EMRK umstritten. Einige Sexualstraftäter*innen, wie Whitsett, konnten, auch wenn dies eine Ausnahme sein mag, immer noch arbeiten oder in einer Stadt leben. Whitsett ist der klaren Meinung: "Das Strafmaß steht nicht im Verhältnis zur Schwere der begangenen Sexualstraftaten."