Neuanfänge

Die Auszugsepisode

Züge im Minutentakt: aus dem Dorf in das Großstadtgetümmel
01. Juni 2022
Wächst man in einer Kleinstadt auf, führt an einem Umzug in größere Universitätsstädte meist kein Weg vorbei. In der neuen Umgebung erwartet mich nicht nur ein fremdes Zimmer, sondern neue Geschichten, Freundschaften und Gefühle. Eine Kolumne über all das. Diesmal: Der Auszug.

In der Oberstufe entwickelten meine Freunde und ich großen Spaß daran, gedanklich unsere erste eigene Wohnung einzurichten. Auch wenn sich die Vorstellungen im Einrichtungsstil vielleicht etwas unterschieden, eine Sache war klar: „Während dem Studium wohnen wir alle gemeinsam in einer richtig coolen WG“. Anstatt sich auf das kommende Abitur vorzubereiten, wurden lieber fleißig Umzugspläne geschmiedet. Am liebsten im Flüsterton in der letzten Reihe, während die Lehrerin an der Tafel verzweifelt versuchte, den müden Mitschüler*innen die Relevanz der Integralrechnung schmackhaft zu machen. Wir waren sicher nicht die einzigen die sich ein gemeinsames Leben unter einem Dach ausgemalte. Aber mal ganz ehrlich: In den wenigstens Fällen werden diese Pläne auch wirklich in die Tat umgesetzt.

Norden, Süden, Osten oder Westen?

Bei mir ist es daran gescheitert, dass es meine Freunde aus der letzten Reihe in die verschiedensten Himmelsrichtungen verschlagen hat. Manche nur eine zwanzigminütige Bahnfahrt von unserem Heimatort entfernt, manche ans andere Ende von Deutschland. Auch mich hat es in eine neue Stadt gezogen. Obwohl ich meine Heimat manchmal etwas vermisse, bin ich gerne in einer neuen Stadt. Ich wollte unbedingt ausziehen, trotz Corona. Das Auszugsverhalten von Studierenden in Deutschland wurde durch die Pandemie stark beeinflusst. Im Jahr 2020 gingen die Umzüge der 18- bis 24-Jährigen in ein anderes Bundesland um 9,1 Prozent zurück. Schon vor der Pandemie gab es die Tendenz, dass Studierende aufgrund des teuren Wohnungsmarktes häufiger bei ihren Eltern wohnen blieben. Aber durch die vergangenen Onlinesemester entschieden sich viele Studierende gegen den Umzug in die Universitätsstadt.

Der Realitätscheck

Das Leben nach dem Auszug ist weniger glamourös, als man es sich zu Schulzeiten vorgestellt hat. Zumindest bei mir. Denn während im Matheunterricht über die Zukunft philosophiert wurde, vergisst man, dass die Realität etwas anders aussieht. Aus meiner Vorstellung von einer lichtdurchfluteten Altbauwohnung inklusive hoher Decken und einem ausladendem Balkon, auf dem ich meine eigenen Tomaten pflanzen könnte, wurde ein Zehn-Quadratmeter-Zimmer mit Aussicht auf die B27. Einen Garten habe ich nicht vor meiner Tür, dafür einen meterhohen Feinstaubfresser. Mit Tomaten pflanzen sieht es daher schwierig aus. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob es mich beruhigt, dass der grüne Klotz dort steht oder ob es mich nicht eher beunruhigen sollte, dass er dort überhaupt stehen muss. Aber bei einer Sache bin ich mir schnell sicher gewesen: In der letzten Reihe vergisst man, dass man die neu gewonnene Freiheit häufig mit nervigen Dingen verbringt. Einkaufen gehen, Wäsche waschen, Essen kochen oder die überteuerte Miete überweisen.

Ein bisschen liest sich der letzte Absatz wie der Auszug aus einem Artikel „10 Gründe, warum Ausziehen total blöd ist“. Der Meinung bin ich aber ganz und gar nicht. Wer in seinen besten Jahren zu Hause bleibt, verpasst eben auch das Beste. Neben den ganz offensichtlichen Vorteilen wie dem Ausreizen des Geschirrspülens bis zum äußersten Limit, beschleunigt der Auszug das Erwachsenwerden wie kaum ein anderer Schritt im Leben. Man wird erwachsener, ohne so wirklich etwas dafür tun zu müssen. Irgendwie so ganz nebenbei. Man lernt für sich selbst zu sorgen und auf eigenen Beinen zu stehen. Für dieses Gefühl nehme ich dann doch gerne die ein oder andere nervtötende Haushaltspflicht auf mich.

Ein weitere Episode Neue Stadt, neues Glück zum Thema Heimweh findest du hier.