toxic productivity

Die Angst vor dem Nichtstun

In unseren Köpfen treibt sich eine verinnerlichte To-do-Liste herum.
12. Nov. 2022
Füße hochlegen und entspannen ist nicht leicht in einer Gesellschaft, die uns weismachen will, dass wir nur etwas wert sind, wenn wir 24/7 produktiv sind. Eine Kolumne über die Ängste und Zweifel einer Generation.

Endlich ein freier Sonntag. Nach einer langen Woche voller Uni- und Arbeitsverpflichtungen habe ich mir fest vorgenommen, den Tag mit einem Bottich Eis und meiner Komfortserie zu verbringen. Meine soziale Batterie freut sich darüber, endlich wieder Saft zu bekommen. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal meine Freizeit mit Nichtstun verbracht habe. Anstatt meine wohlverdiente Auszeit zu genießen, macht sich eine innere Unruhe in mir breit. Ich bekomme das Gefühl, nicht genug geleistet zu haben. Verschwende ich den Tag? Die Punkte auf meiner verinnerlichten To-do-Liste sehnen sich danach, abgehakt zu werden. Das schlechte Gewissen nagt an mir. Ich stehe unter Strom. Wie kann ich es mir erlauben, nichts zu tun? Ich begebe mich in ein Gedankenkarussell voller Ängste und Zweifel. Habe ich eine Daseinsberechtigung, wenn ich einfach nur faulenze? Der entspannte Sonntag ist dahin. Den Rest des Tages verbringe ich mit einem beklemmenden Gefühl im Bett.

Das Nichtstun verlernt

Warum haben wir ständig das Gefühl, produktiv sein zu müssen? Dieses Phänomen bezeichnet man heutzutage als toxische Produktivität. Es beschreibt einen inneren Drang, zu jeder Zeit produktiv sein zu müssen und das nicht nur auf der Arbeit, sondern in allen Lebensbereichen. Die industrielle Revolution hat dieses ganze Dilemma erst ins Rollen gebracht. Aber es gab auch andere Zeiten. Zum Beispiel in der griechischen Antike, in der die Muße als Tugend galt. Die Menschen waren in der Lage, sich dem Rausch des Nichtstuns hinzugeben und ihrer kreativen Ader freien Lauf zu lassen. Philosophen wie Aristoteles waren vernarrt in die Idee, dass der Zustand der Muße den Menschen einen Raum bietet, etwas um seiner selbst Willen zu tun. Doch wenn man sich die heutige Gesellschaft anschaut, merkt man schnell, wie wir das verlernt haben. Wir haben regelrecht Angst vor dem Nichtstun. Wir werden mit YouTube Videos konfrontiert, die uns weismachen wollen, dass wir unsere Zeit am produktivsten nutzen können, wenn wir jeden Tag um 5 Uhr morgens aufstehen. Klar, ergibt doch Sinn. Der Tag hat schließlich nur 24 Stunden und wir müssen jede freie Sekunde bestmöglichst nutzen. Instagram ist voll mit Tipps und Tricks, wie wir unsere Produktivität im Alltag fördern können. All diese Inhalte sind sich einig: Nur so wird unser Leben besser. Anstatt Pausen einen Platz in unserem Leben einzuräumen, begeben wir uns immer mehr in einen Teufelskreis. Wir haken einen Punkt nach dem anderen auf unseren To-do-Listen ab. Sie sind das Aushängeschild für unseren Selbstwert. Es gibt auch nichts Befriedigenderes im Leben als einen Haken an einen Punkt zu setzen, oder?

Auf die innere Stimme hören

Es ist an der Zeit, in uns zu gehen. Warum haben wir ständig das Gefühl, produktiv sein zu müssen? Steckt mehr dahinter? Wollen wir unseren Gefühlen entfliehen? Haben wir Angst vor unseren Gedanken? Haben wir es verlernt, uns mit uns selbst zu beschäftigen? Nichtstun ist die beste Medizin für Körper und Geist und hilft uns ironischerweise dabei, all diese Frage zu beantworten. Nur so können wir uns selbst reflektieren. Wenn wir uns nach einer Auszeit sehnen, bedeutet das nicht, dass wir im Leben nicht hinterherkommen. Ganz im Gegenteil. Ist es nicht besonders wichtig, in unserer hektischen Gesellschaft mal die Füße hochzulegen?

Mehr von der Kolumne "Die Ängste einer Generation" findest du hier.