#GehwegGedanken

Das toxisch-männliche Accessoire

Immerhin bei Tourguides noch beliebt: der Regenschirm.
28. Nov. 2022
Wenn ich unterwegs bin, beobachte ich am liebsten Menschen. Dabei finde ich interessante Dinge über die Gesellschaft heraus. Um die (nicht so) sinnlosen Beobachtungen im Alltag: Darum geht es in der Kolumne #GehwegGedanken.

Eine Horde Studierende läuft an einem nasskalten Herbstmorgen über den Uni-Campus. Was fehlt? Der Schirm. Zu meinem Entsetzen – schließlich war ich bis vor Kurzem noch den Regenschatten des Harzes gewohnt – scheint der Regenschirm keine Standardausstattung mehr bei Regen zu sein. Eine beachtlich große Menge kämpft sich stattdessen mit gesenkten Köpfen und hochgeschlagenen Kapuzen durch die Nässe. Besonders die männlichen Kandidaten scheinen gänzlich unbeeindruckt. Ist es eine Art Protest, von dem ich nichts mitbekommen habe? Oder prasseln die Tropfen von einer Coolness ab, die ich offensichtlich nicht besitze?

Wer trägt heute noch Schirm?

Tatsächlich lassen sich die archetypischen Regenschirm-Träger in ungefähr drei Kategorien einordnen: ältere Ehepaare, die unter der schützenden Schicht Kunststoff ihren Spaziergang machen, Business-Ladies, Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, Aktentasche in der Hand. Und dann wären da noch die Tourguides in europäischen Hauptstädten, die wild damit herumfuchteln, um ihre Reisegruppe wiederzufinden – ohne Rücksicht auf Verluste.

Ein Student in der Quarter-Life-Crisis passt in dieses vorgefertigte Bild der gesellschaftlich anerkannten Schirm-Träger*innen nicht hinein. Schon im 18. Jahrhundert (danke, Google) galt der gerade erfundene Regenschirm als Zeichen der Verweiblichung und Schwäche. Ja ne, ist klar. Ist es möglich, dass der patriarchale Unfug nach wie vor so tief in den Köpfen verankert ist?

Was „echte Männer“ dürfen

Es ist hart da draußen für moderne Männer. Die Tabu-Liste ist immer noch lang: Weinen dürfen sie nicht, Nagellack tragen dürfen sie nicht. Und um Himmels willen, wehe sie erlauben es sich, trocken zu bleiben. Echte Männer – das weiß jeder – werden nass, wenn es regnet. Wie darf ich mir das vorstellen? Die Haare ins Gesicht geklebt, mit triefenden Klamotten stehen sie dann in ihrer eigenen Männlichkeits-Pfütze und vergleichen, wer den größten ...

Letztendlich ist es eine traurige Beobachtung. Auch wenn ich hier maßlos überspitze: Rollenbilder prägen unsere Gesellschaft bis in die trivialsten Momente hinein. Was fehlt, ist kein Schirm, sondern ein gesellschaftliches Umdenken.

Denn was ist nun lächerlicher: Einen verdammten Regenschirm zu tragen oder so tief in den Fängen der toxischen Männlichkeit zu stecken, dass Mann lieber nass wird? Ich jedenfalls werde mein Schirmchen beim nächsten Schauer mit Stolz zur Schau tragen. Ich hoffe, ihr auch.

Eine weitere Folge #GehwegGedanken findet ihr hier.