Verschenkekisten 5 Minuten

Verboten gut verschenkt

Lilly findet Gegenstände, die zu verschenken sind.
Geschenkekisten findet man in Stuttgart überall. Hier versteckt sich zwischen Weihnachtsdeko auch ein Pflanzen-Ableger. | Quelle: Sabeth Wollinger
28. Aug. 2025

Allerlei Krims Krams in einem Karton an der Straße, daneben ein alter Stuhl – die „Verschenkekisten” sind in Stuttgart bekannt. Für viele der Inbegriff von nachhaltigem Konsum und kostenlosem Shopping. Aber wer stellt seinen Krempel eigentlich raus, warum nimmt man ihn mit und ist er noch etwas wert? 

Ein Stuhl lehnt an einer Hauswand im Stuttgarter Süden. Das schwarze Leder ist verratzt, die Beine noch stabil – offenbar will ihn niemand mehr. Für seine Vorbesitzer*in wurde er nur noch als Sperrmüll auf die Straße gestellt. 

Lilly sieht mehr in dem Stuhl und schlägt vor, dass man ihn neu beziehen könnte.

Sabeth Wollinger

Lilly sieht mehr in dem Stuhl und schlägt vor, dass man ihn neu beziehen könnte.

Sabeth Wollinger

Wem der Stuhl wohl vorher gehört hatte? Wo stand er und wie viele Jahre und Menschen hat er auf dem Buckel?

Dinge, die andere loswerden wollen, faszinieren die 22-jährige Studentin. „Ich finde es super, Teile zu finden, die nicht jeder hat und wenn Gegenstände noch eine Geschichte erzählen – gerade Kratzer in Möbeln finde ich schön und würde sie niemals ganz entfernen“, sagt sie.

Lilly hat ein Auge für Details – zum Beispiel, dass ihre silbernen Ringe zum Stuhl passen. Sie nimmt ihn mit und er macht mit ihr eine Reise durch das Heusteigviertel.

Sabeth Wollinger

Lilly hat ein Auge für Details – zum Beispiel, dass ihre silbernen Ringe zum Stuhl passen. Sie nimmt ihn mit und er macht mit ihr eine Reise durch das Heusteigviertel.

Sabeth Wollinger

In ihrer WG hat Lilly schon eine Sammlung von Fundstücken. Mal von der Straße, mal vom Flohmarkt: Bilderrahmen, Bücher, Vasen – auch das Bein einer alten Schaufensterpuppe hat sich irgendwann dazugesellt. Was nicht sofort passt, wird passend gemacht. Lilly bastelt, näht, schleift – und macht aus Altem etwas Neues.

Lilly bastelt Collagen aus alten Büchern, die sie an der Straße gefunden hat. | Quelle: Max Röser
Dafür sammelt sie Bücher mit schönen Seiten und Schrift. | Quelle: Max Röser
Auch aus coolen Buch-Covern bastelt sie gerne Collagen. | Quelle: Max Röser
In Lillys WG-Zimmer wächst ihre Collagen-Wand. | Quelle: Max Röser

In Stuttgart ist das Phänomen „Verschenkekisten am Straßenrand“ bekannt, besonders im Heusteig- und Lehenviertel. Fast an jeder Ecke findet man in diesen Vierteln kleine Häufchen aus Dingen, die irgendjemand nicht mehr braucht – und irgendjemand anders vielleicht gerade sucht.

„Ich mag Haufen, die so zusammengewürfelt eine Art Kunstwerk ergeben“, erzählt Lilly. „Ich habe auch schon den größten Ramsch mit nach Hause gebracht, Minimalismus ist leider nichts für mich. Ich glaube auch nicht, dass Minimalist*innen kopfüber in diesen Wühlkisten wären, so wie ich es bin.“

In der Kiste im Heusteigviertel findet Lilly einen Pflanzen-Ableger und ein lustiges Holzschild.
Quelle: Sabeth Wollinger

Lilly fallen sofort die Holzsterne ins Auge. „So hässlich, dass sie wieder cool sind“. Sie überlegt, ob sie die Sterne orange anmalen soll, damit sie zu den Farben in ihrem WG-Zimmer passen. Auch ein Holzschild findet sie so schlimm, dass sie lachen muss: „Das würde ich als Witz vielleicht in meiner WG-Küche aufhängen“. Letztendlich nimmt sie nur den Pflanzen-Ableger mit.

Was man alles finden kann

An einem Tag im Heusteig- und Lehenviertel lassen sich teilweise über hundert kostenlose Gegenstände finden. Teils Müll, teils kleine Schätze, bei denen man sich wundert, warum sie jemand loswerden will.

Eine Abstimmung auf Social Media hat ergeben, dass Menschen besonders Bücher und Geschirr gerne mit nach Hause nehmen.

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Auch Lilly schaut sich die Bilder der Gegenstände an, die bei der Datenerhebung für diesen Artikel gemacht wurden. Beim Sichten der Fundstücke wird ihr schnell klar: Vieles davon ist noch brauchbar. Und manches sogar richtig schön. Lilly klickt sich durch die Bilder und entscheidet spontan, was sie mitnehmen würde – und was nicht. Eine Vase? „Safe. Ich habe eine sehr problematische Vasen-Obsession. Dafür würde ich auch mal 15 Euro ausgeben.“ Ein roter Glasteller? „Hm, ich weiß noch nicht, wie ich mit dem Glas als Material umgehen soll.“ Lilly sieht den Teller zwar nicht in ihrem WG-Zimmer, hat dafür aber direkt eine Vision einer alt-italienisch eingerichteten Küche mit Schachbrettmuster-Boden. „Da würde der Teller super an der Wand aussehen, wenn man die Farbe etwas nachbessert.”

Und wie sieht es mit Büchern aus? „Immer. Auch wenn ich sie nicht lese, kann ich Collagen daraus basteln. Bezahlen würde ich dafür nichts.”

Max Röser

Und wie sieht es mit Büchern aus? „Immer. Auch wenn ich sie nicht lese, kann ich Collagen daraus basteln. Bezahlen würde ich dafür nichts.”

Max Röser

Unsere Datenerhebung zeigt: Der öffentliche Raum wird häufig als inoffizieller Tauschmarkt genutzt. Von Leon H.* zum Beispiel. Er stellt regelmäßig Dinge aus seinem WG-Zimmer auf die Straße. “Ich würde mich auch darüber freuen, wenn ich es wäre, der daran vorbeiläuft."

Doch nicht alles, was man an der Straße findet, gehört eigentlich dahin. Für viele ist das Rausstellen scheinbar aber eine praktische Lösung, schließlich spart man sich dadurch die Sperrmüllanmeldung oder die Fahrt zum Wertstoffhof. Leon hat kein Auto und somit Schwierigkeiten, den Wertstoffhof zu Fuß zu erreichen. Für die Stadt ist es eine Grauzone. „Die Stadtsauberkeit leidet, ebenso das Sicherheitsgefühl“, heißt es von der Abfallwirtschaft Stuttgart (AWS). „Diese Art der Weitergabe kann sich zu einem Selbstläufer entwickeln und zur Vermüllung führen“, so die AWS. Die Stadt bietet als Alternative den offiziellen Verschenkmarkt Stuttgart an – eine Onlineplattform für gebrauchte Gegenstände, die ein zweites Zuhause suchen.

Tipps für nachhaltigeren Konsum

1. Secondhand-Läden nutzen

Flohmärkte und Plattformen wie Vinted oder Ebay Kleinanzeigen bieten oft eine gute Alternative zum Neukauf

2.  Reparieren statt wegzuwerfen

Egal ob DIYs oder Repair-Cafes –  viele Dinge lassen sich mit einfachen Mitteln Reparieren

3. Tauschen und Teilen

Gegenstände können, auch wenn sie dich persönlich nicht mehr glücklich machen, anderen ein Strahlen ins Gesicht zaubern.

4. Einen frischen Kauf hinterfragen

Brauche ich das wirklich? Oder ist das gerade nur ein Trend?

„Ich bin auch nicht dafür, dass man seinen Müll auf die Straße stellt“, sagt Lilly. „Ich finde, man sollte unterscheiden, ob die Gegenstände noch gut oder verwertbar sind. Außerdem sollte man sich fragen, ob sich noch jemand darüber freuen würde und wenn die Antwort „nein“ ist, dann sollte man es ordnungsgemäß entsorgen.“

Leon  ist der gleichen Meinung wie Lilly. „Ich überlege mir vorher, ob ich das selber noch nutzen würde. Außerdem sollte das zu einer Zeit sein, wo es nicht regnet, die Sachen sollen ja nicht kaputt gehen.”

Was passiert mit den Dingen, die niemand will?

Offiziell ist das Rausstellen von Gegenständen ohne Anmeldung ordnungswidrig, kleinere Verschenkekisten werden dennoch kurzzeitig geduldet – aber entfernt, wenn Beschwerden eingehen oder sich größere Mengen anhäufen. Laut der AWS erfolgt die Abfuhr solcher Ablagerungen durch die zuständige Sperrmüll-Fachabteilung und die anschließende Reinigung durch die Abteilung Straßenreinigung. Dinge, die wirklich niemand mehr will, landen dann in der Müllverbrennungsanlage der EnBW.

Menschen scheinen ihre Besitztümer ungerne wegzuschmeißen. Sie an die Straße zu stellen und darauf zu hoffen, dass sich jemand anderes darüber freut, scheint einfacher. Woran das liegt? „Ich glaube, viele Menschen verbinden Gegenstände und vor allem Kleidung mit den Emotionen, die sie damit erlebt haben“, überlegt Lilly. „Manche denken sich vielleicht: „In diesem Kleid  hatte ich mein erstes Date mit meinem Freund.“ Der Gedanke, dass sich noch jemand anderes über das Kleid freuen könnte, scheint sich gut anzufühlen.

Für Lilly sind Verschenkekisten, Flohmärkte und Second-Hand-Läden nachhaltige und günstige Alternativen – und Konsum für sie nicht gleich Kaufen, sondern zu entdecken, zu verwerten und zu erzählen.

„All diese Sachen sind für mich wie Accessoires für den Raum. Also der Raum, wie er gestrichen und mit großen Möbeln eingerichtet ist, das ist das Outfit. Alles andere sind Accessoires. Ich glaube deswegen liebe ich auch Vasen, Pflanzen und andere kleine Gegenstände.”

Zwischen all den Funden merkt Lilly auch: Manches will einfach nur angeschaut, nicht mitgenommen werden. So wie der Stuhl.

Die Reise des Stuhls durch das Heusteigviertel endet an der U-Bahn Station. Die Entscheidung: Der Stuhl kommt doch nicht mit.

Sabeth Wollinger

Die Reise des Stuhls durch das Heusteigviertel endet an der U-Bahn Station. Die Entscheidung: Der Stuhl kommt doch nicht mit.

Sabeth Wollinger

Er landet wieder dort, wo er gestanden hatte und wartet darauf, dass jemand anderes mit Silberschmuck sein Potential erkennt und ihm ein neues Zuhause gibt. Den Pflanzenableger nimmt Lilly aber mit nach Hause.

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Für die Datenerhebung dieses Projektes wurde eine Zone innerhalb Stuttgarts gewählt: das Lehnen- und Heusteigviertel. In diesem Viertel haben die Autorinnen dieses Artikels Geschenkekisten dokumentiert, indem sie Bilder von den gefundenen Gegenständen bzw. den Kisten gemacht, und die Koordinaten notiert haben. Beides wurde in einer Excel-Tabelle gesammelt und die Gegenstände nach Kategorien sortiert. Von jeder Kategorie suchten die Autorinnen ein beispielhaftes Bild aus und befragten ihre private Community auf Instagramm durch eine Umfrage, ob sie diesen Gegenstand auf der Straße mitgenommen hätten. Anschließend hat die Protagonistin Lilly die Gegenstände ebenfalls bewertet.