Kapitalismus

Der CO2-Fußabdruck: kapitalistisches Märchen?

Der sogenannte ökologische Fußabdruck von Bill Gates (rechts) und mir (links) unterscheidet sich stark.
12. Nov. 2022
Eltern, die vor dem Sozialismus aus Polen und Tschechien flohen und das „Kapital“ von Karl Marx im Bücherregal: Meine Beziehung zu Kapitalismus & Co. ist kompliziert. Wo Kapitalismus uns im Alltag begegnet und wie er uns beeinflusst – eine prüfende Kolumne.

„Möchten Sie die CO2-Emissionen Ihres Fluges kompensieren?“ Wie nett von Eurowings, mich an meinen ökologischen Fußabdruck zu erinnern. Ich hadere. Für 16,99 Euro könnte ich mich von meinem Vergehen am Klima freikaufen und meine Ökobilanz ausgleichen – eigentlich ein Schnäppchen. Kompensationsangebote von Fluggesellschaften kommen mir wie die Ablassbriefe der Moderne vor. Erkaufte Gnade von den Klimagöttern (und meinem schlechten Gewissen) für die begangene Sünde, einen Flug zu buchen. Das Geld landet in Klimaschutzprojekten im globalen Süden. Ob das zur Klimagerechtigkeit beiträgt?

Das Märchen über Fußabdrücke

In der Schule habe ich gelernt, dass jede*r von uns mit Konsumentscheidungen einen CO2-Fußabdruck auf der Erde hinterlässt. Ein grün gefärbter Fußabdruck mit Wörtern wie "Ernährung" oder "Transportmittel" darin, hat sich mir eingebrannt. Das Bestreben, meinen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten, auch. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass die Welt bald untergehen wird. So weit, so naiv.

Jahre später musste ich erfahren, dass der grüne Fußabdruck eine Erfindung des Ölkonzerns BP ist. Ein Märchen, das man Kindern erzählt, um die Verantwortung für die Klimakrise auf Einzelpersonen abzulenken. Dabei sind Einzelpersonen nicht die Hauptverursacher*innen von CO2- Emissionen, sondern die Industrie. Allen voran: Unternehmen für fossile Brennstoffe. Eine Milliarde US-Dollar gaben die fünf größten Ölkonzerne für Märchen (aka Lobbyarbeit) in den drei Jahren nach dem Klimaabkommen in Paris aus, wie eine Recherche der Plattform InfluenceMap ergab.

System change, not climate change“

Wer in unserer kapitalistischen Welt genug Geld hat, kann sich also aus Klimasünden freikaufen. Das gilt für Ölkonzerne gleichermaßen wie für reiche Jetsetter*innen. Nicht ohne Grund wird auf Klimademonstrationen „System change, not climate change“ gerufen. Solange Bill Gates 1629 Tonnen CO2* mit seinen Flügen pro Jahr ausstößt, bringt es nichts, wenn ich auf einen Flug verzichte. Natürlich bin ich mir meines Privilegs bewusst, überhaupt in der Lage dazu zu sein, die Welt aus der Luft zu sehen. Im globalen Vergleich verursachen Menschen in Deutschand (ob wohlhabend oder nicht) mit ihrem Konsum und Lebensstandard deutlich mehr Emissionen als andere Länder. Trotzdem liegt es an der Politik und Industrie, den CO2-Ausstoß der Superreichen zu regulieren. Als Arbeiterkind, das neben der Schule und dem Studium seit dem Alter von 12 Jahren selbst arbeitet, werde ich doch wohl auch mal in meinen wohlverdienten Urlaub fliegen dürfen.

Das bedeutet nicht, dass ich nicht weiterhin versuchen werde, so klimaneutral wie möglich zu reisen. Diesen Sommer nahmen meine Freund*innen und ich über zwölf Stunden Fahrt mit Flixbus und Zug auf uns, um von Stuttgart nach Italien zu gelangen. Für unsere klimafreundliche Reise wurden wir mit einem hohen finanziellen und zeitlichen Aufwand bestraft, den sich nicht jede*r immer leisten kann. Meinen Flug mit Eurowings buche ich ohne Klima-Ablassbrief. Ich gehe lieber auf Demos und rufe mit den anderen: „System change not climate change“.

 

*Ergebnisse einer Studie des Tourismusforschers Stefan Gössling im Jahr 2017