FASD 7 Minuten

„Alkohol ist für uns ein schwarzes Tuch“

Die Zwillinge Clara (rechts) und Luise (links) leiden an der Fetalen Alkoholspektrumstörung. Eine Krankheit, die unheilbar ist. (Bild: Finn Fredeweß)
Die Zwillinge Clara (rechts) und Luise (links) leiden an der Fetalen Alkoholspektrumstörung. Eine Krankheit, die unheilbar ist. | Quelle: Finn Fredeweß
11. Dez. 2023

Fehlende Worte, Mobbing und Arztbesuche: Das hat die Kindheit von Clara und Luise stark geprägt. Die Zwillinge leiden an einer Krankheit, die unheilbar ist. Und das alles nur, weil deren Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat.

Punkt 8 Uhr. Die Schulglocke läutet. Clara und Luise stellen ihre beiden Fahrräder neben den hundert anderen Fahrrädern ihrer Mitschüler*innen ab. Sie kommen mit Absicht im allerletzten Moment, denn so ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie jemandem begegnen. Die Blicke, das Getuschel und die Grimassen der anderen - für die beiden der Horror. Gemeinsam betreten die Zwillinge die Waldorfschule und gehen in das Klassenzimmer. Gerade noch pünktlich. Sie nehmen nebeneinander Platz und sehen sich vertraulich an. Beide wissen schon, dass sie spätestens nach der dritten Unterrichtsstunde wieder nach Hause gehen. Konzentration während des Unterrichts - für beide fast unmöglich.

So schildern Clara und Luise einen typischen Morgen aus ihrer inzwischen vergangenen Schulzeit. Heute sitzen sie mit einem breiten Lächeln an einem kleinen Tisch mitten in Claras minimalistisch eingerichteter Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin Stahnsdorf. Sie wohnen beide in dieser ruhigen, grünen Gegend, abseits von dem Trubel in der Großstadt. Hier ist ihr eigenes Zuhause. Hier berichten die beiden über ihre gemeinsame Vergangenheit und sprechen über das, was sie bis heute begleitet. Beide leiden an der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD). Eine Krankheit, die unheilbar ist.

Der Grund dafür: Die Mutter der Zwillinge hat während der Schwangerschaft Alkohol getrunken.

Damit ist die Mutter der beiden kein Einzelfall. Laut dem Deutschen FASD-Kompetenzzentrum Bayern trinkt etwa ein Drittel aller Frauen in Deutschland Alkohol während der Schwangerschaft. Dabei hat der Alkoholkonsum laut Bundesgesundheitsministerium erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit des ungeborenen Kindes. Er kann zu lebenslangen körperlichen und geistigen Schädigungen sowie zu Verhaltensauffälligkeiten des Kindes führen. Diese Beeinträchtigungen werden unter dem Begriff FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder) zusammengefasst.

Doch wie gehen FASD-Erkrankte damit um, mit einer Krankheit leben zu müssen, die durch die eigene Mutter verursacht wurde?
 

„Für uns gibt es keine andere Mutter“

Luise Andrees

Wenn ein Kind mit FASD nicht in der Herkunftsfamilie aufwachsen kann, ist eine Unterbringung in einer Pflegefamilie einer Heimunterbringung vorzuziehen. Familie Andrees hat Clara und Luise direkt nach der Geburt aufgenommen. „Ohne unsere Mutter wären wir nicht da, wo wir heute sind“, erzählt Clara über ihre Pflegemutter lächelnd. Mit 12 Jahren saßen sie gemeinsam mit ihrer Mutter am Wohnzimmertisch. Da hat sie ihnen das erste Mal erklärt, dass sie eigentlich eine andere Mutter haben. In dem Alter haben Clara und Luise noch nicht verstanden, was es heißt, in einer Pflegefamilie aufzuwachsen. Erst mit 17 haben sie es begriffen. „Für uns hat das aber nie eine Rolle gespielt, denn für uns gibt es keine andere Mutter“, sagt Luise stolz.

Zu ihrer leiblichen Mutter hatten Clara und Luise nie Kontakt. Die Zwillinge sind zwei von acht Kindern, alle an FASD erkrankt. Wut empfinden sie gegenüber ihrer Mutter keine. Ganz im Gegenteil, sie bringen Verständnis auf: „Man wird ja nicht ohne Grund Alkoholikerin und wir wissen nicht, in welchen Verhältnissen sie aufgewachsen ist.“ Das Bedürfnis, ihre Mutter kennenzulernen, hatten sie trotzdem nicht. Als sie 15 Jahre alt waren, ist ihre leibliche Mutter verstorben.

Clara und Luise gemeinsam mit ihren Pflegeeltern bei ihrer Einschulung.
Clara und Luise gemeinsam mit ihren Pflegeeltern bei ihrer Einschulung. | Quelle: Clara und Luise Andrees
Dieses Kindheitsbild der Zwillinge hängt bei Clara über dem Wohnzimmertisch.
Dieses Kindheitsbild der Zwillinge hängt bei Clara über dem Wohnzimmertisch. | Quelle: Clara und Luise Andrees

Clara und Luise sind 29 Jahre alt und 1,50 Meter groß. „In der Schule haben wir irgendwann gemerkt, dass wir nicht mehr mit den anderen mitwachsen“, sagt Clara mit verschränkten Armen. „Aber lieber klein sein, als im Rollstuhl zu sitzen.“ Ihre Größe ist typisch für FASD und betrifft rund 30 Prozent der Erkrankten. Auch die schmale Oberlippe, die kleinen Augen und die kleinen Ohren von Clara und Luise sind typisch. Viele Kinder mit FASD werden zu früh geboren. So erging es auch Clara und Luise, deshalb lagen sie die ersten drei Monate nach der Geburt auf der Intensivstation. „Es war nicht klar, ob wir überleben“, sagt Luise in einem ruhigen Ton.

FASD ist die häufigste chronische Krankheit, die seit der Geburt besteht und wird als Behinderung eingestuft. Mindestens ein Prozent aller Kinder kommen mit FASD auf die Welt. Deswegen empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation, keinen Alkohol während der Schwangerschaft zu trinken. Eine sichere Alkoholgrenze, mit der das Kind vollständig sicher ohne Schäden auf die Welt kommt, gibt es nicht. „Den Gedanken, dass die ersten und letzten Wochen der Schwangerschaft safe sind, kann ich so nicht bestätigen“, sagt Mirjam Landgraf. Sie ist Kinder- und Jugendärztin am Dr. von Haunerschen Kinderspital München und Expertin für die Fetale Alkoholspektrumstörung. 
 

„Wir hatten unsere eigene Sprache“

Clara Andrees

Bis zu ihrem 12. Lebensjahr konnten Clara und Luise sich kaum mit anderen verständigen. „Wir hatten unsere eigene Sprache“, erzählt Clara froh. Die beiden haben sich nur gegenseitig verstanden. Ihre Mutter bedingt. Andere gar nicht. Bereits ab der ersten Klasse war das ein Problem. Eigentlich waren Clara und Luise noch gar nicht schulfähig. Diktate - eine Katastrophe. Ein G anstatt ein K, ein Tisch anstatt eines Stuhls, ein Punkt anstatt eines Kommas. Der wöchentliche Deutsch-Förderunterricht, den sie besuchen mussten, hat ihnen jedoch geholfen, sich zu verbessern.

Clara und Luise sind durch ihre FASD-Erkrankung wesentlich in ihrer Lern- und Merkfähigkeit eingeschränkt. „Menschen mit FASD brauchen viel mehr Zeit und viel mehr Wiederholungen, um etwas zu lernen“, beschreibt Landgraf. „Dinge, die Erkrankte eigentlich schon gelernt, aufgenommen und umgesetzt haben, können plötzlich wieder weg sein", sagt die Ärztin. Aus diesen Gründen war die Schulzeit für Clara und Luise mehr als schwierig. Frech, arrogant und faul – so wurden sie häufig von den Lehrkräften abgestempelt. Ihnen wurde vorgeworfen, sie seien zu faul, um die Aufgaben richtig zu erledigen. Von ihren Mitschüler*innen wurden die Zwillinge gemobbt. Laut Bundesgesundheitsministerium werden Menschen mit FASD aufgrund ihrer Verhaltensauffälligkeiten oft von anderen abgelehnt und aus sozialen Zusammenhängen ausgeschlossen.

Menschen mit FASD haben viele Stärken

Mirjam Landgraf betont: „Man muss den Erkrankten nach der Diagnose auch sagen, wo deren Stärken liegen“. Beispielweise seien Menschen mit FASD extrem bemüht. „Ich habe selten so anstrengungsbereite Kinder und Jugendliche in der Diagnostik", berichtet die Ärztin. Außerdem sind FASD-Erkrankte oft wahnsinnig nett zu Tieren und zum Beispiel Kindern mit körperlicher Behinderung. Auch das zeigt sich bei Clara und Luise: Während sie über ihre schwierige Vergangenheit berichten, spielt Clara beiläufig mit ihren kleinen Katzen, die sich spielerisch an ihren Fuß unter dem Tisch klammern. Claras Wohnung wird von den vier grauen „russisch blau“ Katzen mit viel Leben gefüllt. „Ich habe mir die Katzen angeschafft, damit ich mich nicht so einsam fühle“, berichtet Clara fröhlich.

Clara (rechts) hat kleine russisch blau Katzen, die ihre Wohnung mit Leben füllen. Nicht nur Clara, sondern auch Luise (links) hat einen guten Draht zu den Katzen.
Clara (rechts) hat kleine russisch blau Katzen, die ihre Wohnung mit Leben füllen. Nicht nur Clara, sondern auch Luise (links) hat einen guten Draht zu den Katzen.
Quelle: Clara und Luise Andrees

Alkohol ist ein gesellschaftliches Problem

Laut dem Deutschen FASD-Kompetenzzentrum Bayern ist der Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und dessen Folgen beim Kind nicht das Problem einer einzelnen Frau, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung. Mirjam Landgraf ist sich sicher: „Alkohol ist in der Gesellschaft positiv konnotiert und auf einer Party muss man sich rechtfertigen, wenn man nichts trinkt“. Mit diesem Problem hatten Clara und Luise nie etwas am Hut. Zum eigenen Schutz sind sie nie auf einer Party gewesen. „Alkohol ist für uns ein schwarzes Tuch. Wir wissen, was er mit uns gemacht hat und was er mit normalen Menschen anrichten kann“, sagt Luise selbstbewusst. Es wird in der Wissenschaft davon ausgegangen, dass Menschen mit FASD ein höheres Risiko tragen, eine Sucht zu entwickeln. Der Grund dafür ist bisher nicht bekannt. Deswegen nehmen die beiden Abstand. Abstand zu Alkohol. Abstand zu dem, was ihr gesamtes Leben beeinträchtigt hat.

„Uns fehlt der Mutmacher und das sind wir selbst“

Clara Andrees

Ein „normales“ Leben ist laut Bundesgesundheitsministerium nur für die wenigsten Jugendlichen und Erwachsenen mit FASD möglich. „Sie bekommen einfachste Alltagsaufgaben nicht hin, deswegen brauchen sie immer einen Taktgeber, der ihnen Struktur gibt“, beschreibt Landgraf. Umgang mit Geld, richtige Körperhygiene, Termineinhaltung: für FASD-Erkrankte nur schwer umsetzbar.

Anders ist das bei Clara und Luise. Beide führen ein eigenständiges Leben: Clara wohnt alleine direkt gegenüber von ihren Eltern, Luise wohnt gemeinsam mit ihrem Freund Tobi nur ein paar Häuser weiter. Beide haben einen normalen Berufsalltag und sind stolz darauf, ihren Traumberuf als Heilerziehungspflegerinnen auszuüben. In ihrem Job steht ihnen die FASD-Erkrankung nicht im Weg. Für die meisten Betroffenen unvorstellbar. Deshalb sind die Zwillinge umso dankbarer und machen sich gegenseitig Mut. „Uns fehlt der Mutmacher und das sind wir selbst“, sagt Clara selbstbewusst.

Die Diagnose ist aufwendig und kostspielig

Im Vergleich zu anderen Behinderungen ist die Fetale Alkoholspektrumstörung in Deutschland noch immer nicht ausreichend bekannt, genauso wenig wie die Möglichkeiten zur Unterstützung der Betroffenen. „Die Wartezeiten für die Diagnostik sind extrem lang, weil nicht alle diese richtig durchführen können“, sagt Landgraf. Da die Diagnostik sehr aufwendig und kostspielig ist und einer gewissen Expertise bedarf, wollen sich wenige medizinische Einrichtungen dieser Herausforderung stellen.

Die Arztbesuche waren für Clara und Luise immer schrecklich. Vor den Terminen beim Arzt hieß es von den Zwillingen immer: „Uns ist schlecht, wir haben Bauchschmerzen, uns geht es nicht gut“. Erst mit 18 haben sie richtig begriffen, was für eine Krankheit sie schon ihr Leben lang begleitet. Seitdem machen sich Clara und Luise dafür stark, über FASD aufzuklären und anderen Menschen zu helfen. Das tun sie auf ihrem Blog, auf den Sozialen Medien und auf Fachtagungen. Im Juni 2023 haben sie die FASD-Fachkraft-Ausbildung abgeschlossen. Nun wissen sie nicht nur mehr über sich selbst, sondern können anderen Erkrankten dabei helfen, damit umzugehen. Darauf sind Clara und Luise sehr stolz: „Wir sind nun unsere eigenen Experten.“