Mehrgenerationen-WGs

Die Anonymität durchbrechen

Wenn Jung und Alt sich aufeinander einlassen, können sie zu einem starken Team werden.
28. Jan. 2018

Die WG-Suche in deutschen Städten ist oftmals nervenaufreibender als das Studieren selbst. Wer die Nase voll davon hat, für den lohnt sich ein Blick auf das Projekt „Wohnen mit Hilfe“. Das bietet eine Lösung für das Wohnproblem und überwindet nebenbei die Grenzen von Parallelgesellschaften.

Wohnungssuche in deutschen Städten ist nichts für schwache Nerven: Auf eine Wohnung in München kommen im Durchschnitt 77 Interessierte, in Stuttgart sind es 75, in Köln 53. Aber auch abseits der Metropolen sieht es kaum besser aus und die Zahl der jährlich neu gebauten Wohnungen deckt den Bedarf nicht einmal zur Hälfte. Dieser wird weiter steigen, denn laut der FAZ zieht es immer mehr Menschen in Städte, egal ob junge Familien, Flüchtlinge oder die wachsende Zahl der Studierenden. Für Studierende mit wenig oder gar keinem Einkommen ist diese Entwicklung problematisch, denn die Preise für WG-Zimmer steigen rasant: Für ein 14-Quadratmeter-Zimmer in einer Wohngemeinschaft am Stadtrand 400 Euro zu zahlen, ist in Stuttgart schon Standard.

Die wachsende Zahl der Stadtbewohner sorgt für ein weiteres Phänomen: eine immer größere Anonymität, die zur Entstehung von Parallelgesellschaften beiträgt. Junge Menschen bleiben in der Stadt unter sich, denn potenzielle Bekanntschaften im gleichen Alter gibt es zur Genüge. Ältere Stadtbewohner hingegen haben einen Bekanntschaftskreis aufgebaut, der häufig schon jahrelang existiert. Speziell für sie ist der mangelnde Kontakt zu Personen außerhalb ihrer Generation jedoch früher oder später oft mit Einsamkeit verbunden, wenn die eigenen Kinder nicht mehr im Ort wohnen und die Bekannten im eigenen Alter nach und nach sterben.

Jung und Alt leben in urbanen Gebieten oft ohne Berührungspunkte nebeneinander her.

Warum der Kontakt zur anderen Generation für beide Altersgruppen eine wertvolle Ergänzung sein kann, erklärt die Familienpsychologin Dr. Friederike Gerstenberg:

„Eine gute Beziehung zwischen den Generationen kann auf beiden Seiten Synergieeffekte hervorrufen: bei den einen den Zugriff auf Erfahrungsschätze und Lebensweisheiten, bei den anderen Lebensfreude und Lebenslust.“

Dr. Friederike Gerstenberg

Ältere Menschen nehmen Probleme häufig gelassener und helfen den Jüngeren so, die Dinge zu relativieren und in einen übergeordneten Kontext einzuordnen. Umgekehrt können junge Frauen und Männer ihren älteren Mitmenschen neue Energie mitgeben. Nach Dr. Gerstenberg sind viele Ältere vom Enthusiasmus der Jugend beeindruckt und fühlen sich durch sie ermutigt, noch einmal neue Wege zu gehen oder Neues auszuprobieren. Wenn diese unterschiedlichen Generationen einander Respekt und Toleranz beweisen, sind die Persönlichkeitsentwicklungen auf beiden Seiten laut der Psychologin „schier unbegrenzt“. Dass der Kontakt zwischen Jung und Alt in Städten praktisch nicht vorhanden ist, erscheint vor diesem Hintergrund bedauernswert. Doch wie können die Grenzen zwischen den Parallelgesellschaften überwunden werden?

Zusammenwohnen als Lösung?

Einen Lösungsansatz bieten Initiativen wie „Wohnen mit Hilfe“ in deutschen Städten: Dabei vermieten ältere Menschen leerstehende Zimmer in ihren Wohnungen und Häusern zu vergünstigten Preisen an Studierende. Als Gegenleistung helfen diese im Haushalt oder bei anderen anfallenden Arbeiten mit. Das Projekt schlägt mehrere Fliegen mit einer Klappe: Die Studierenden erhalten bezahlbaren Wohnraum und ältere Menschen Hilfe und Gesellschaft, wodurch sie auch bei körperlichen Einschränkungen weiter zu Hause wohnen können. Jung und Alt kommen zusammen und die Grenzen zwischen den Generationen werden durchbrochen. Eine gute Idee, oder?

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Wie ist die Meinung zum Zusammenleben der Generationen bei Wohnen mit Hilfe? Wir haben uns umgehört.

Organisiert wird „Wohnen mit Hilfe“ zumeist von der Stadtverwaltung, Studierendenwerken oder auch von beiden gemeinsam. Als Richtwert für den Mietpreis gilt, dass die Studierenden pro Quadratmeter Wohnraum eine Stunde Hilfe leisten. Die tatsächliche Höhe der Miete handeln die beiden Parteien aber letztlich untereinander aus. Manche Studierende zahlen auch gar keine Miete, sondern arbeiten diese rein über die angebotene Hilfe ab. Wie genau das tägliche Leben aussieht, haben wir den Studenten Daniel gefragt, der in einer solchen Wohngemeinschaft gelebt hat:

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Ein ehemaliger Wohnen mit Hilfe-Teilnehmer und eine Spezialistin für die Begegnung von Jung und Alt im Interview.

In Stuttgart verläuft „Wohnen mit Hilfe“ bislang schleppend: 2018 gibt es 15 Wohnpartnerschaften. Rund 50 solcher Paarungen laufen hingegen momentan in Freiburg. Laut Waltraud Trukses, die das Projekt in der schwäbischen Landeshauptstadt betreut, liege das unter anderem daran, dass es in der Studentenstadt Freiburg Tradition habe, Zimmer an Studierende zu vermieten. In Stuttgart hingegen sei das nicht üblich. Im vergangenen Semester erreichten sie deshalb nur drei Anfragen von Senioren, auf die 30 Bewerbungen junger Menschen kamen.

Um eine Senior-Student-Paarung zu finden, sind mehrere Schritte nötig.

Sobald sich ein Pendant findet, zieht sich die Stadt aus der Organisation der Wohnpartnerschaften zurück, bietet aber weiterhin Beratung und Unterstützung an. Das hilft vor allem bei Problemen, die es laut Trukses hin und wieder gibt. Denn manchen Studierenden fällt es nicht leicht, sich an die Regeln und Gewohnheiten der Senioren zu halten. Es kam schon vor, dass Wohngemeinschaften nach wenigen Monaten wieder aufgelöst wurden. Für die älteren Menschen hingegen sei vor allem die Umgewöhnung, eine fremde Person in ihrem Haus aufzunehmen, groß. So ging es auch Renate*, 76 Jahre alt, die seit einem Jahr zwei leerstehende Zimmer in ihrem Haus an Studentinnen vermietet. „Anfangs war es schon eine kleine Herausforderung“, gibt sie zu. „Plötzlich steht da jemand ganz selbstverständlich in meiner Küche und benutzt meine Töpfe.“ Nach über 22 Jahren alleine war es für sie nicht einfach, einen Teil ihrer Privatsphäre und Routine aufzugeben. Nach der ersten Eingewöhnungszeit habe sie „ihre beiden Mädels“ aber schätzen gelernt. Da sie nach einem Unfall nicht mehr so fit wie früher ist, gehen ihre beiden Mitbewohnerinnen mit ihr einkaufen und zur Apotheke.

Ob Einkaufen, Haushalt führen oder einfach nur Zeit verbringen – gemeinsam ist es leichter und schöner.

Auch dass sie nun nicht mehr ganz alleine das große Haus putzen muss, empfindet Renate als enorme Erleichterung. Am besten sei aber das gemeinsame Tatort-Schauen am Sonntagabend. Da sind sich alle drei Hausbewohnerinnen einig. „Es ist schon schön, nicht mehr alleine vor dem Fernseher zu sitzen und nachher über die Sendung reden zu können”, so Renate. „Und ich habe sogar angefangen, Chips zu essen!”, schmunzelt sie.

* Name von der Redaktion geändert